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Sonntag, 31. Dezember 2017

344

Zwischen den Jahren lese ich die Vorlesungen zum philosophischen Glauben von Karl Jaspers. Erste vorläufige Wahrnehmungen:
Ein Denken, das klärt und aufklärt, das gerade auch in seiner Differenz Schärfungen des eigenen Denkens abverlangt. Philosophie also im besten Sinne, Philosophie als Forderung und Herausforderung.
Ein Denken, das sichtlich theologisch informiert auftritt, das gerade auch um seine christliche Herkunft weiß. Philosophie also vor dem fatalen säkularistischen Traditionsabbruch insbesondere in Deutschland, Philosophie vor dem Vergessen der religiösen Wurzel und Durchdringung des säkularen Sprachspiels.
Ein Denken, das ungeachtet aller Sensibilität für die Gebrochenheit menschlicher Existenz am Menschen als Freiheits- und Möglichkeitswesen festzuhalten versucht. Philosophie also der Hoffnung im Angesicht des notwendigen Scheiterns.
Ein Denken, das sich dem werdenden Nihilismus zu stellen, ihm aber zugleich durch existenzielle Gültigkeitssätze zu entkommen versucht. Philosophie also auf der Schwelle, ein Denken vor dem unvermeidlichen Denken im Ab-Grund.

Sonntag, 24. Dezember 2017

343

Ein Freund hat mich auf einen netten und klugen Comic aufmerksam gemacht:



Christliche Kultur, während sie sich unvermeidlich entsubstanzialisiert und entleert, leistet nichts anderes als die Öffnung und Perpetuierung einer existenziellen Frage.
Der (reservative) Sinn von Weihnachten als (heute entsubstanzialisiertes und entleertes) Phänomen christlicher Kultur liegt nicht darin, eine substanzielle (religiöse) Wahrheit zu tradieren. Weihnachten öffnet und perpetuiert lediglich die Frage nach einer (noch) möglichen Interpretation des messianischen Ereignisses. Und die Antwort auf diese Frage kann mittlerweile keine substanzielle, keine repräsentative mehr sein. In diesem (reservativen) Sinne: Ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Samstag, 23. Dezember 2017

342

In den vergangenen Tagen habe ich mich mit Volkswirtschaft als Wissenschaft und mit Volkswirten als Wissenschaftlern auseinandersetzen müssen. Die Eindrücke sind bedrückend.

Samstag, 16. Dezember 2017

341

Credo quia absurdum. Ein durchaus fragwürdiger Zugang zur Wirklichkeit, der gerne Tertullian und Augustinus zugeschrieben wird, wenngleich er sich bei beiden so nicht findet.

Freitag, 15. Dezember 2017

340



Michelangelos Schöpfung Adams. Die Lücke zwischen dem Finger Adams und dem Finger Gottes – das ist der Raum, das ist das Gehäuse von Sein und Existenz. Das ist der Ort, an dem wir interpretieren und handeln. Das ist der einzige Ort auch jeder Theologie und jeder Politik.

Mittwoch, 13. Dezember 2017

339

Hinter Politik als Praxis, hinter politisch ordnender Ausübung von Macht, steht immer eine Anschauung der Welt, eine Interpretation von Wirklichkeit. Mit Wirklichkeitsinterpretationen sind immer auch Vorhaben formuliert, die durch Politik, durch praktische politische Macht realisiert werden sollen. Praktische Vorhaben der Politik können auf das Gute zielen, auf die Realisierung einer wie auch immer begriffenen guten politischen Ordnung. Dann ist das interpretatorisch gewonnene Gute der Zweck, die Politik ist das Mittel. Die Vorstellung, Politik sei Instrument des Guten, ist in der abendländischen politischen Theorie und Praxis weit verbreitet. Sie erscheint hier geradezu als vorzugswürdig. Verständlich wird dies im Blick auf die Wirklichkeitsinterpretationen der Herkunftsreligion des Okzidents, auf die christlich-erlösungsreligiös motivierte Bindung der Politik an die Norm der Weltbesserung.


Freitag, 1. Dezember 2017

338

Das Staunen ist der Beginn der Philosophie. Das Staunen ist die Haltung des Philosophen schlechthin. Dafür stehen die Griechen, dafür stehen Platon und Aristoteles.
Ich denke: Das Ende des Staunens ist der Beginn der Philosophie. Wer nicht mehr staunen kann, wen nichts mehr verwundert, der hat die wohl entscheidende Voraussetzung in Händen, ein weiser Mensch zu werden.

Freitag, 17. November 2017

337

Nach einigen aufklärenden Gesprächen zu Nr. 329, 331 und 336: Nein, letzte Macht über die Kausalitäten ist uns nicht gegeben. Vielmehr: Die qualitative und räumliche Komplexität der Weltwirklichkeit, die wir selbst durch unsere Bemächtigungsversuche befördern, minimiert zugleich unsere Kausalmacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass (vermeintlich) Gutes (vermeintlich) Böses und dass (vermeintlich) Böses (vermeintlich) Gutes bewirkt, wird größer. Die Wahrscheinlichkeit eines (im aristotelischen Sinne) gelingenden, glückenden, glücklichen Lebens geht gegen Null.
Und doch: Reservative Interpretation und Lebenspraxis greift selbst und gerade in dieser Lage zu Apfelbaum und Spaten. Erst dann, wenn der Jüngste Tag tatsächlich Wirklichkeit ist, endet das Dasein für die Welt, das Für-andere-da-Sein in der Welt (dazu Nr. 111).

Donnerstag, 16. November 2017

336

Ergänzung zu Nr. 331: Der prägende Kontext, gerade auch die Weise des engsten sozialen Zusammenlebens und Zusammenhaltens entscheidet über Bestand und Dauerhaftigkeit einer größeren Gemeinschaft von Menschen, entscheidet über ihr Zusammenbleibenkönnen.

Dienstag, 14. November 2017

335

In meinem wirtschaftsethischen Seminar vergangene Woche einer dieser leider allzu seltenen Momente, in denen im Diskurs die Annäherung an eine relevante Gegenwartsdiagnose gelingt.

Sonntag, 12. November 2017

334

Erfahrung, so lernen wir bei Kant, geht der Erkenntnis zeitlich voraus. Daraus folgt allerdings nicht, dass die Erkenntnis der Erfahrung folgt. Es gibt Menschen (und ihre Zahl scheint mir zuzunehmen), bei denen Erfahrung auf kein Vermögen trifft. Erfahrung trifft hier nicht nur auf ein (noch) wenig oder (noch) fragwürdig ausgebildetes, sie trifft auch nicht auf ein pathologisch verformtes Vermögen. Erfahrung trifft hier tatsächlich auf nichts. Und ihr folgt daher auch nichts. Das bedeutet: Erfahrung wiederholt sich, doch die Existenz bleibt formlos, als hätte es die Erfahrung nie gegeben.

Samstag, 11. November 2017

333

Die Forderung der Reformation: Der Einzelne darf und soll selbst die eine Glaubenswahrheit finden. Alle Einzelnen glauben an den einen Gott. Und folgen seinem Gebot.
Die spätmoderne Wahrnehmung und Praxis der reformatorischen Forderung: Der Einzelne darf und soll selbst seine eigene Glaubenswahrheit finden. Jeder Einzelne glaubt an seinen eigenen Gott. Und folgt dessen Gebot.

Die Forderung der idealistischen Philosophie: Der Einzelne darf und soll selbst zur einen Vernunftwahrheit finden. Alle Einzelnen kommen zu einer Vernunft. Und folgen ihrem Gebot.
Die spätmoderne Wahrnehmung und Praxis der idealistischen Forderung: Der Einzelne darf und soll selbst seine eigene Vernunftwahrheit finden. Jeder Einzelne kommt zu seiner eigenen Vernunft. Und folgt ihrem Gebot.

Die reformatorische Fiktion möglicher Glaubenseinheit und die idealistische Fiktion möglicher Vernunfteinheit scheitern. Wirklich werden die Pluralität der Glaubensgültigkeiten und die Pluralität der Vernunftgültigkeiten. Derzeit mühen wir uns noch darum, diese Pluralitäten irgendwie zusammenzuhalten. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass dies dauerhaft gelingen kann. Denn jedes Ringen um eine mögliche Einheit von Pluralitäten lebt im Kern immer noch von den gescheiterten Fiktionen der Reformation und des Idealismus.

Freitag, 10. November 2017

332

Vorhin im Radio ein Beitrag zur Krise des Ehrenamtes in Bayern – am Beispiel eines Ortes, in dem nun der Bürgermeister und der Pfarrer den Vorsitz des Sportvereins übernommen haben. Weil sich sonst niemand gefunden hat. Nach dem Beitrag ein leidenschaftlich werbendes Votum der Moderatorin: „Ich selbst habe auch 12 Jahre lang ein Ehrenamt ausgeübt. Und ich kann Euch nur sagen: Es lohnt sich!“
Eine Weile denke ich über den Begriff des Ehrenamtes nach – über das (vielleicht typisch deutsche) Bedürfnis, jedes ökonomisch nicht notwendige Für-andere-da-Sein zu Verbeamten und dem Dienst in diesem Amt zumindest so etwas wie Ehre in Aussicht zu stellen. Nachdenklich macht mich aber vor allem das Votum der Moderatorin. Ist es nicht gerade die Eigentümlichkeit des Für-andere-da-Seins auch in einem Ehrenamt, dass es sich nicht lohnt, dass der Da-Seiende ausdrücklich auf Lohn verzichtet? Keinen Lohn erwartet? Auch ohne jeden Lohn da ist? Dass er da ist, selbst wenn er keine Ehre, noch nicht einmal Dankbarkeit erfährt? Dass er sogar da ist, wenn es etwas, vielleicht sogar viel kostet?
Was könnte eine Antwort auf die Krise des Ehrenamtes sein? Es müsste gelingen, das Für-andere-da-Sein dem ökonomischen Diktat zu entwinden. Und vielleicht müsste dieser Prozess bei der Verabschiedung des Begriffs selbst einsetzen.

Donnerstag, 9. November 2017

331

Gestern früh, kurz nach halb acht. Auf meiner kleinen Laufrunde eines dieser traurigen Bilder, die mir (hier im Münchener Speckgürtel) so oder ähnlich inzwischen häufig ins Auge fallen.

Mittwoch, 8. November 2017

330

„Wer den Harnisch anlegt, soll sich nicht rühmen wie der, der ihn abgelegt hat“ (1 Kön 20,11). Im Kontext ausgesprochen als Warnung, wahrgenommen als Provokation.
Für den Wirklichkeitskrieger selbst eine unverzichtbare Erinnerung: Vor und in der Schlacht keine Freude, kein Jubel. Allein die demütige und bange Hoffnung, dass der Krieg als gewonnen geglaubt werden darf. Und dann mag kommen, was immer kommen will. In der Schlacht währet das Weinen, danach ist Freude.

329

Ausgrenzung. Rassismus. Anerkennung. Respekt. Einige von vielen populären Begriffen, die Ideologie und Moral der Gleich-Gültigkeit negativ oder positiv zu befördern versuchen. Menschen und Kollektive sollen nicht mehr normativ diskriminiert, nicht mehr normativ unterschieden, nicht mehr normativ getrennt werden. Weder weltanschaulich noch lebenspraktisch.

328

Heute mein letzter von mehr als 20 Elternabenden im gymnasialen Kontext. Letzte Gelegenheit für einen unvermittelten Blick in die Abgründe pädagogischer Existenz heute.

Mittwoch, 25. Oktober 2017

327

Die gegenwärtige Zerbrechlichkeit unserer engsten sozialen Beziehungen, unserer Partnerschaften und familialen Milieus, lässt sich ursächlich auch zurückführen auf die ungeeignete oder gar fehlende Begleitung unserer Kinder im Prozess ihrer Annäherung an die Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft.

Sonntag, 22. Oktober 2017

326

Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519: ein eindrückliches Beispiel für seinen Begriff und seine Handhabung des Glaubens. Eine starke, mit robustem Strich gezeichnete Bilderwelt der Hoffnung wird der Realität (des Sterbens) und einer (im Sterben) sich aufdrängenden, ängstigenden religiösen Bilderwelt entgegen gestellt. Luther müht sich geradezu darum, Realität und ängstigende Religion durch Glauben so zu überdecken, dass sie nicht mehr sichtbar sind und ihre Macht verlieren.

Freitag, 20. Oktober 2017

325

Der Fehler der Pascal’schen Wette: sie wird zum Zweck des Erwerbs der Gotteswirklichkeit abgeschlossen. Wollte man reservativ wetten, so könnte man dies allein zum Zweck des Dienstes in und an der Weltwirklichkeit tun. Und dies mit einem doppelten Vorteil: Ob sich nun der reservative Glaube, die Setzung der ganz anderen Gotteswirklichkeit und die Annahme der Ungültigkeit der Weltwirklichkeit (als ob nicht) als „wahr“ oder als „unwahr“ erwiesen haben wird, so wird dieser Glaube doch in jedem Falle der Weltwirklichkeit gedient, so wird der Glaubende doch in jedem Falle der Weltwirklichkeit seinen reservativen Dienst erwiesen haben.
Ohne reservativen Glauben dagegen wird die repräsentative Schädigung der Weltwirklichkeit beschleunigt und verschärft. Dies allerdings, repräsentativ formuliert, ohne jede Transzendenzrelevanz, ohne jeden Transzendenzeffekt.

Mittwoch, 18. Oktober 2017

324

Ich beschäftige mich gerade noch einmal mit Luthers ehetheologischen Texten. Das darin alles ergreifende und durchdringende Interpretament: eine fiktionale Schöpfungstheologie. Hier geht es nicht (mehr) um die praktische Rekonstruktion und (noch) nicht um die praktische Konstruktion einer Schöpfungsordnung oder eines Schöpferwillens. Wirklichkeit soll nicht auf ein in der Vergangenheit liegendes Schöpfungsideal zurückgeführt oder einem in der Zukunft liegenden Schöpfungsideal entgegengeführt werden. Die Wirklichkeit, hier die Wirklichkeit der Ehe und des Partners, soll lediglich durch die Fiktion einer Schöpfungsordnung oder eines Schöpferwillens hindurch angeschaut, sie soll im Glauben wahrgenommen werden. Damit ist und wird die Wirklichkeit nicht verändert. Der Ehepartner und die Ehe selbst bleiben, wie sie nun einmal sind. Was sich jedoch ändert, ist die Haltung des Glaubenden gegenüber der Wirklichkeit und seine Handhabung der Wirklichkeit. Glaubende schauen und nehmen ihre Ehe und ihre Ehepartner an, wie sie vom gedachten Schöpfer gedacht sind – also einer Fiktion, nicht der Realität gemäß. Und Glaubende handhaben ihre Ehe und ihre Ehepartner so, wie es dem gedachten Willen eines gedachten Schöpfers entspricht – also wie es die Fiktion fordert, nicht die Realität.
Die fiktionale Ehetheologie Luthers ist einer reservativen Ehetheologie strukturell sehr ähnlich. Sie wählt allerdings als leitendes Interpretament ein als ob der Schöpfungsordnung, nicht ein als ob nicht des messianischen Ereignisses. Damit verharrt sie im Repräsentativen.

Dienstag, 17. Oktober 2017

323

In Zeiten der Vervielfältigung und Vergleichgültigung der Geschlechter ein Versuch der Typisierung des schlicht natürlich Männlichen und des schlicht natürlich Weiblichen in ihrem Verhältnis zueinander, in ihrer Korrespondenz.

322

Niklas Luhmanns bekanntes Forschungsprogramm: Theorie der Gesellschaft. Laufzeit: 30 Jahre. Kosten: keine. Mein gänzlich unbekanntes Forschungsprogramm: Theologie reservativen Lebens. Laufzeit: lebenslänglich. Kosten: repräsentatives Leben.
Weder mit Luhmanns noch mit meinem Forschungsprogramm kann man in der gegenwärtigen Wissenschaftsindustrie (noch) reüssieren. Wissenschaft muss heute etwas kosten. Die Kosten dürfen allerdings nicht zu hoch sein. Sie müssen zählbar bleiben.

Montag, 16. Oktober 2017

321

Vielleicht ist es so, darf es so sein: Die Praxis liegt verborgen in der Interpretation, die Interpretation liegt aber auch verborgen in der Praxis. Die Tat wird geboren aus dem Glauben, der Glaube wird aber auch geboren aus der Tat. Glaube, so wirst Du handeln. Handle, so wirst Du glauben. Für manche Menschen, für manche in sich selbst verkrümmte Wesen scheint mir dies die einzige Hoffnung zu sein.

Sonntag, 15. Oktober 2017

320

Nachtrag zu Nr. 319: Eine Interpretation, die nicht stark genug ist, sich auch gegen die Wirklichkeit natürlicher oder geschaffener Gesetze praktisch zu behaupten, sich gegen die Wirklichkeit praktisch durchzusetzen, erliegt früher oder später der Versuchung, zu einer Rechtfertigungsstrategie dieser oder jener Wirklichkeit, dieser oder jener Gesetze der Natur oder der Kunst zu werden – der Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses. Im abendländischen Raum der Interpretationen äußert sich die Hingabe an diese Versuchung vor allem im Christentum und seinen Säkularisaten.

Samstag, 14. Oktober 2017

319

Jede Interpretation, jeder Glaube steht einer kaum über- und durchschaubaren Wirklichkeit natürlicher und geschaffener Gesetze gegenüber, die Wollen und Tun zu bestimmen versuchen. Tatsächlich gefordert ist der Glaube erst dann, wenn er sich gegen die Wirklichkeit praktisch durchsetzen muss. Wenn er zu Wollen und Tun treiben muss gegen die Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses. Wenn er gegen die zu Wollen und Tun treibenden Gesetze der Existenz, des Seins, der Kultur, des Milieus oder des Ereignisses zu Warten und Stille befähigen muss. Eine Interpretation, ein Glaube muss letztlich so stark sein, dass er sich auch gegen die Wirklichkeit natürlicher und geschaffener Gesetze praktisch zu behaupten vermag (das ist der Anspruch an jede ethische Theorie, an jedes normativ-ethische Interpretationssystem, an jeden praktisch-normativen Glauben).
Es lässt sich kaum ein stärkerer Glaube denken als der reservative. Gleich nach ihm kommt wohl Kohelets Nihilismus.

Mittwoch, 11. Oktober 2017

318

„Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon“ (Lk 16,9). Die hohe Kunst reservativen Lebens, nur für Fortgeschrittene: das Spiel der Repräsentativen in reservativer Absicht spielen, als wäre es das eigene Spiel.

Montag, 9. Oktober 2017

317

In seiner Nachfolge formuliert Bonhoeffer: „Der Begriff einer Situation in der geglaubt werden kann ist nur die Umschreibung des Sachverhalts, in dem die folgenden zwei Sätze gelten, die in gleicher Weise wahr sind: Nur der Glaubende ist gehorsam und nur der Gehorsame glaubt. Es ist eine schwere Einbuße an biblischer Treue, wenn wir den ersten Satz ohne den zweiten lassen.“

Sonntag, 8. Oktober 2017

316

„Mein Angesicht kannst du nicht sehen. Denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Ex 33,20). Unverstelltes Ungültigkeitsevangelium. Das Leben der Gotteswirklichkeit ist der Tod des Lebens der Weltwirklichkeit. Daher ist Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit immer nur fiktional zu „haben“. Dies aber noch nicht einmal als seinsanaloges, relationales, repräsentatives „als ob“, sondern lediglich als dürres, verstelltes, vorübergehendes, sich immer wieder entziehendes „als ob nicht“ der Weltwirklichkeit. Dieses Evangelium, dieses „als ob nicht“ hat im messianischen Ereignis gerade nicht sein Ende gefunden, sondern zeigt sich hier vielmehr in bekräftigter und geschärfter Weise.

Montag, 25. September 2017

315

Karl Barths Umkehrung und damit Korrektur der reformatorischen Formel Gesetz und Evangelium ist unentbehrlich, weil sie Interpretation und Praxis ins rechte Verhältnis setzt und einen praktischen Gebrauch des Weltwirklichen im Lichte des messianischen Ereignisses zumindest ermöglicht. Allerdings führt Barths Umkehrung in die Irre, weil sie Evangelium und Gesetz weder ontologisiert noch existenzialisiert, weil sie eine positive Gültigkeitsanalogie zwischen Evangelium und Gesetz behauptet und damit das Gesetz als notwendige (Erscheinungs-)Form des Evangeliums einführt. Das eröffnet nicht etwa einen befreiten und befreienden (verungültigenden) Gebrauch des Gesetzes, sondern zwingt unter eine als Gnaden- und Liebesherrschaft getarnte Gesetzesherrschaft. Und dies selbstverständlich unter dem Primat der Kirche.

Freitag, 22. September 2017

314

Gestern Abend – Vortrag eines Referatsleiters im Verteidigungsministerium (er leitet jenes Referat, das derzeit den Traditionserlass der Bundeswehr federführend überarbeitet). Darin ein Begriff, den ich aus meiner militärischen Vergangenheit kenne, allerdings viele Jahre nicht mehr gehört habe: der Begriff des „gemeinsamen Zeichenvorrates“. Gesagt werden soll damit, dass eine Gruppe, eine Gesellschaft, auch eine Institution bei aller Pluralität und Differenz eines verbindenden Kerns gemeinschaftlicher und verlässlicher Zeichen bedarf. Und dies im funktionalen wie im substanziellen Sinne: Ein bestimmtes Zeichen löst bei allen Angehörigen von Gruppen, Gesellschaften, Institutionen verlässlich diese oder jene Mechanismen, diese oder jene Kausalkette aus. Ein bestimmtes Zeichen repräsentiert eine bestimmte Substanz (heute spricht man gerne von Wert), die alle Angehörigen von Gruppen, Gesellschaften, Institutionen als wesentlich, unverzichtbar und verbindend begreifen. Durch die Suche auch nach ihrer Tradition versucht die Bundeswehr, (noch einmal) einen gemeinsamen Zeichenvorrat zu finden und zu sichern.
Das Problem: Gemeinsame Zeichenvorräte transformieren sich – immer und überall. In der abendländischen Gegenwart kommt hinzu: Die Transformation der Zeichenvorräte beschleunigt sich, zugleich fallen die Zeichenvorräte der Zerstückung und Fragmentierung anheim. Das noch wesentlich fundamentalere Problem: Das repräsentative Zeitalter geht insgesamt seinem Ende entgegen, das Zeitalter, in dem wir Zeichen als Repräsentanten interpretiert haben. Eine neue Interpretation der Zeichen ist noch nicht in Sicht. Was uns derzeit bleibt, ist der Versuch einer Wiederbelebung von Repräsentationen, von gemeinsamen Zeichenvorräten im repräsentativen Sinne, die verzweifelte und durchaus auch gefährliche Reanimation von Todgeweihten.

Donnerstag, 21. September 2017

313

Heute wieder einmal eine dieser Entmündigungserfahrungen im Flughafenpissoir – diesmal beim Blick auf eine symbolisierte Kerze (das Golfloch mit Fahne wird sonst auch gerne genommen), die den Strahl ins Ziel lenken soll. Aber wohl kaum ein anderer Ort eignet sich so gut für die Einsicht, dass sich Masse allein durch Entmündigung kanalisieren lässt.

Mittwoch, 20. September 2017

312

Sämtliche Hauptvorträge der vergangenen Bonhoeffer-Tagung hatten im Kern die reformatorische Dialektik von Evangelium und Gesetz, näherhin die Dialektik von Glaube und Gehorsam zum Gegenstand.

Samstag, 9. September 2017

311

Kurz vor dem Abflug aus Tegel noch ein Gesprächsmitschnitt von der IBG-Jahrestagung. Ein Promovierter fragt einen anderen Promovierten:

„Und Sie sind auch Theologe?“

„Ach, wissen Sie, eigentlich bin ich gar nichts.“

„Das macht frei.“

Und ortlos. Heimatlos. Denke ich still.

310

Sitze gerade im Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus – Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Bekannte Namen der gegenwärtigen deutschsprachigen evangelischen Theologie haben referiert: Pierre Bühler, Wilfried Härle, Torsten Meireis, Wolfgang Huber. Im Reformationsjubiläumsjahr steht die Frage nach Themen reformatorischer Theologie bei Bonhoeffer im Mittelpunkt, dabei auch die Frage nach der Relevanz Luthers für Bonhoeffers Denken.

Freitag, 8. September 2017

309

Die Ruhe der zurückliegenden Tage habe ich noch einmal dazu genutzt, um mich selbst dessen zu vergewissern, was mich durch mein Leben hindurch bewegt hat: die Suche nach dem, was ich will, nach dem, wie ich mich zur Wirklichkeit halten und was ich in der Wirklichkeit tun will. Gesucht habe ich jedoch nicht offen, sondern ganz im Sinne des Kampfes, der Nachfolge (Nr. 304). In diesem Sinne habe ich meine Lebensentscheidungen getroffen, und diese Entscheidungen haben mich in den Lebensraum geführt, in dem ich mich derzeit wiederfinde. Dieser Raum erscheint mir nun allzu offen. Aber ich habe noch einmal Ruhe gefunden in diesem Raum. Weil ich das Motiv und daher auch das (kausal begriffene) Warum meiner Existenz in diesem Raum kenne. Alles Andere liegt außerhalb meiner Verantwortung. Für alles Andere bin ich verantwortungslos.

Sonntag, 27. August 2017

308

Die Sehnsucht nach Berufung und Auftrag ist die Sehnsucht nach dem Besonderen im Sinne der Überhöhung des Allgemeinen, die Sehnsucht nach Heldentum und Heiligtum. Diese Sehnsucht verbleibt ganz im Raum der Natur und des Repräsentativen.
Der reservative Glaube dagegen wirft mitten ins Hier und Jetzt des jeweils Allgemeinen und stellt hier gegen die Natur die Aufgabe des Besonderen im Sinne des ganz Anderen. Dieses ganz Andere bleibt (in seinen Wirkungen) zumeist unbemerkt, hat nichts Heldenhaftes oder Heiliges an sich, weil es nicht repräsentativ ist. In diesem Ruf gilt es zu verharren, an diesem Ruf und Auftrag lässt sich der reservativ Glaubende genügen. Allein in dieser Schwäche ist er mächtig.

307

Nach wie vor neige ich dazu, der unendlichen Verantwortung der Dekonstruktion zu verfallen. Aber diese Verantwortung ist eine Erscheinungsform der Hoffnungslosigkeit. Die Verantwortung der Dekonstruktion kann nicht warten. Dekonstruktion kennt nicht die Verantwortungslosigkeit reservativen Wartens, kennt nicht die Ruhe in der unendlichen Verantwortung des ganz Anderen. Weil die Dekonstruktion nicht glaubt, bleibt sie nicht (Jes 7,9).

306

Ethik als repräsentatives System ist Ausdruck der kosmologischen Hoffnung, Moral möge mehr sein als Mode.

Mittwoch, 9. August 2017

305

Denken im eigentlichen Sinne hat immer den Willen des Einzelnen zum Gegenstand. Alles (uneigentliche) Denken, das den Willen des Einzelnen nicht unmittelbar zum Gegenstand hat, muss ihn zumindest mittelbar zum Gegenstand haben, muss also dem eigentlichen Denken irgendwie dienlich sein. Andernfalls ist es überflüssiges und damit verzichtbares Denken.

Dienstag, 8. August 2017

304

Was mich unentwegt irritiert, belästigt, belastet (obwohl ich es besser weiß, obwohl ich mir das bessere, antikatholische Wissen immer wieder vorhalte): Glaube und Liebe im reservativen Sinne kann man nicht einüben, sie können nicht zur guten Gewohnheit werden. Sie sind eben keine Tugenden, in denen man heimisch werden könnte. Sie sind vielmehr unausgesetzte Erinnerung daran, sich im Weltwirklichen an nichts zu gewöhnen, in nichts heimisch zu werden.
Glaube und Liebe im reservativen Sinne richten sich damit gegen unsere religiösen und moralischen Bedürfnisse, gegen alle Bedürfnisse des Ankommens in etwas Weltwirklichem überhaupt. Paulus wählt dafür die treffende Metapher des Kampfes (1 Kor 9,25–27). Selig sind gerade nicht die religiös und moralisch Tugendhaften. Selig sind vielmehr jene, die sich aller Dinge enthalten, die sich schinden und ihr eigenes Selbst bezwingen, die auf diese Weise darum ringen, dass ihr Glaube und ihre Liebe weltwirklich relevant und wirksam werden. Die paulinische Metapher des Kampfes sagt damit nichts anderes als die jesuanische Metapher der Nachfolge (Lk 9, 23–25).

Samstag, 29. Juli 2017

303

Ethik, existenziell und nicht bloß akademisch begriffen, wird nicht selten von überaus wohlmeinenden, sich in übersteigertem Maße für die Weltwirklichkeit verantwortlich wissenden Menschen betrieben. Der Kampf des (repräsentativen) Ethikers ist aber stets ein Kampf gegen Windmühlen, und je nach psychischer Konstitution kann sich dieser Ethiker kaum vor Verzweiflung und Verbitterung schützen.

Mittwoch, 19. Juli 2017

302

Die Frage eines Freundes, inwiefern reservative Theologie überhaupt noch als Theologie auftreten kann, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten.

Freitag, 14. Juli 2017

301

Vorhin eine nette kleine Begebenheit: Wir sitzen auf der Terrasse und essen zu Mittag. Am Briefkasten des Nachbarhauses steht ein Mann mittleren Alters und wirft Prospekte ein. Von der äußeren Erscheinung wirkt er wie einer, der üblicherweise in der Münchener Innenstadt die Zeitung BISS anbietet. Er bemerkt uns, wendet sich uns zu, tritt einen Schritt näher und winkt. „Habe die Ehre“, ruft er. „Eine frohe Botschaft für Sie: Wer an Jesus Christus glaubt, der hat das ewige Leben. Einen schönen Tag noch. Servus!“

Donnerstag, 13. Juli 2017

300

Ein kleiner Text zur neuen deutschen rationalen Theologie, zur philosophischen Erneuerung der christlichen analogia entis bei Volker Gerhardt und Holm Tetens, ist fertig. Während der Lektüre der beiden Bücher kam mir gelegentlich die reformatorische, vor allem von Calvin pointiert eingeforderte Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung in den Sinn. Was Tetens, vor allem aber Gerhardt in ihren (panentheistischen) Entwürfen betreiben, neigt gegen diese Unterscheidung sichtlich zur Kreaturvergötterung.
Die Neuvergötterung der Wirklichkeit in postsäkularer Zeit muss durch ein reformatorisches, ontologisch-existenzial radikalisiertes sola unterbunden werden. Sola fide – nichts Wirkliches kann helfen, allein der Glaube eines Nicht-Wirklichen. Sola gratia – das Nicht-Wirkliche ist die Annahme des (fremden) als ob nicht des Wirklichen. Sola scriptura – Annahme und Entfaltung des als ob nicht werden wirklich durch das Wort, durch Uminterpretation des Wirklichen durch das Wort. Solus Messias – die Uminterpretation des Wirklichen findet ihren Ermöglichungsgrund im messianischen Ereignis.

Mittwoch, 12. Juli 2017

299

Kürzlich habe ich in einem lutherischen Gottesdienst eine Predigt zu Lukas 15,3–7 gehört. Geboten wurde eine allgemeine Besinnung zum Verlieren, Suchen und Finden – und natürlich eine freundliche Erinnerung an Gott, an den, der uns findet.
Die überraschende und radikale Pointe des Gleichnisses hat der Ausleger – eher ein unbedarfter Nacherzähler – übersehen, vielleicht sogar ignoriert. Von Gott, von der Gotteswirklichkeit gefunden wird der, der sich auf das einlässt, was in deutschsprachigen Bibeln üblicherweise und moralisierend missverständlich mit Buße übersetzt wird: auf eine metanoia, auf einen Prozess der fundamentalen Änderung des eigenen Sinnes, der radikalen Uminterpretation von Wirklichkeit und eigener Existenz. Praxis inbegriffen. Gefunden werden ist also nicht weniger als eine Revolution der Denkungs- und Lebensart.

Montag, 26. Juni 2017

298

Nachtrag zu Nr. 296. In den religiösen Sätzen, mit denen hier das protestantischen Denkens der religiösen Übergangsepoche zwischen Reformation und Moderne skizziert wird, ist einerseits vorgezeichnet, wie wir die Wirklichkeit heute (immer noch) interpretieren: säkularistisch, kosmologisch, nominalistisch, nomologisch. Es ist aber auch vorgezeichnet, wie wir die Wirklichkeit heute (immer noch) gebrauchen: moralisch, utilitarisch, konstruktiv, iterativ.

Donnerstag, 22. Juni 2017

297

Vor einigen Tagen ist Helmut Kohl verstorben. Dieser Mann kann zuletzt nur Mahnung sein: Das politische Haus, das er, getrieben von Eitelkeit, zu bauen versucht hat, ist ein auf Sand gebautes Kartenhaus. Sein eigenes Haus, das Haus seiner Familie, in dem er Nächster hätte sein können, ist schlecht bestellt, auch um dieses Haus ist es schlecht bestellt. Was helfen da alle Ehrungen und Würdigungen.
Man muss nicht nur behutsam abwägen, welcher Sache man dienen will und was es ist, was zu dieser Sache treibt. Man muss auch sehr bedächtig abwägen, ob man überhaupt einer Sache, oder ob man nicht besser seinen Nächsten dienen will. Dass beides zusammen geht, ist Ausnahme, nicht Regel.

296

Webers Protestantische Ethik liefert nicht allein eine mögliche Erklärung für die Heraufkunft der okzidentalen, kapitalistischen Lebensmechanik. Aus meiner Sicht schließt sich hier, unausgesprochen, eine weitere Deutungslücke.

Mittwoch, 21. Juni 2017

295

Gelegentlich bleibe ich noch einmal an dem für meine eigene Denkbewegung so entscheidenden Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ hängen – an einem Text, den Bonhoeffer unmittelbar nach dem gescheiterten Hitler-Attentat am 21. Juli 1944 niederschreibt. Ungeachtet seines historischen und vor allem biographischen Kontextes, ungeachtet also seiner sichtlichen Bedingtheit sind in diesem Text eine Haltung und eine Praxis der Freiheit angedeutet, die der reservativen Haltung und Praxis schon sehr nahe kommen.

Dienstag, 13. Juni 2017

294

Tückisch: Eine Liebe, eine Geduld, ein Langmut, die sich als reservativ ausgeben, hinter denen sich aber tatsächlich natürliche Bindungen und die Feigheit vor der reservativen Grenzziehung verbergen. Man kann angesichts der Hinterlist der eigenen Natur nicht misstrauisch genug sein. Aber: Besser, in diesem Falle der Natur auf den Leim gehen, als den reservativen Kampf zu früh konfrontativ wenden.

293

Harnack meint einmal ganz richtig, ein Reformator könne nur sein, wer für sich persönlich unter einer zwingenden, unausweichlichen Nötigung stehe. „Das Größte tut nur, wer nicht anders kann.“ Es ist wohl so: Wer die Gewagtheit und Relativität der eigenen Interpretationen durchschaut hat, kann das Größte nicht mehr tun. Vielleicht noch nicht einmal Großes.

Montag, 12. Juni 2017

292

Derzeit drängt sich mir nicht ein Gedanke auf, von dem ich annehmen könnte, er sei ausreichend relevant oder wertvoll, ihn tatsächlich auszuformulieren oder gar zu publizieren. Die Gründe dafür kann ich nur ahnen. Es gibt einfach Zeiten, in denen die Existenz dem denkenden Erkennen im Wege zu stehen scheint. Weit schwerer wiegt in meinem Falle aber wohl die andauernde Beschäftigung mit der „Protestantischen Ethik“ Max Webers. Selbst wenn man Webers Interpretationen nicht immer folgen will, so offenbart sich in seinem Versuch, die dogmatischen und ethischen Eigentümlichkeiten der verschiedenen protestantischen Bewegungen zu bezeichnen, doch deren geradezu haarsträubende Lächerlichkeit (hinter der sich letztlich ja immer das verzweifelte Ringen mit dem deus absconditus verbirgt). Und dieser Lächerlichkeit will ich hier nun eine weitere hinzufügen? Und dies ohne das, was etwa dem Puritaner noch selbstverständlich sein konnte: ohne calling, ohne Ruf?

Freitag, 2. Juni 2017

291

Das wohl herausragende Merkmal reservativen Denkens ist die Gleichzeitigkeit von Gleich-Gültigkeit und Gleich-Ungültigkeit. Die reservative Gleichzeitigkeit ist keine konstruktive (gegen Kant) und auch keine dialektische (gegen Hegel). Damit entzieht sie sich dem (christlich-heilsgeschichtlich motivierten) Begriff des Fortschritts und ist insofern radikal entzaubernd und unendlich enttäuschend. Was sie jedoch jenseits von Entzauberung und Enttäuschung zu bieten hat, ist eine relative Stabilisierung im und einen relativ freien Gebrauch des Gleich-Gültigen.

Mittwoch, 31. Mai 2017

290

Der Kampf der Wirklichkeiten wird schmerzhaft, wenn die Natur zur Flucht drängt und der Glaube auszuharren gebietet.

289

Eins will nicht zusammen gehen: reservativ leben und heimlich Händchenhalten mit der Weltwirklichkeit.

Sonntag, 28. Mai 2017

288

Gleich-Gültigkeit (Kreuz, Nihilismus) vorausgesetzt, sind Haltung, Wille und Tat vielfältig, eine gleich-gültige Wahl, die sich bei näherem Hinsehen als Gewählt-Werden durch diese oder jene Gültigkeit herausstellt.
Gleich-Ungültigkeit (Auferstehung, Reservation) vorausgesetzt, sind Haltung, Wille und Tat einfältig, eine allein noch verbleibende gleich-ungültige Wahl des Einen: Haltung, Wille und Tat der Liebe. Auch die Wahl des Einen stellt sich bei näherem Hinsehen als (schon immer) Gewählt-Sein heraus, als Gewählt-Sein durch die alles Gültige verungültigende Wirklichkeit: Gott.

Donnerstag, 25. Mai 2017

287

„Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Messias, erkennen“ (Joh 17,3). Diesseitig interpretiert ist mit diesem Satz gesagt: Ewiges Leben meint keine wirkliche transzendente Existenz, die schon jetzt ins Weltwirkliche hineinragt, gewissermaßen als Ab- oder Vorabschattung. Ewiges Leben meint zunächst das durch das Messianische hindurch sich aufdrängende Zureinsichtkommen, das Kennen- und Anerkennenlernen Gottes als des ganz Anderen und insofern alleinig Wahren. In diesem Zureinsichtkommen wird das weltwirkliche Leben zugleich als aufgehoben begriffen. Ewiges Leben meint sodann ein weltwirkliches Leben, das als ein Ewiges im Sinne eines im ganz Anderen überwundenes Leben gelebt wird. Ewiges Leben ist so gesehen nichts anders als reservatives Leben.

Anmerkung: Es ist eine wenig hilfreiche Gewohnheit, bei der Lektüre biblischer Texte die Rede vom Ewigen stets religiös oder metaphysisch zu wenden. Damit wird dieser Rede unmittelbar die aufhebende und überwindende Spitze genommen.

Dienstag, 23. Mai 2017

286

Bei Max Weber und Ernst Troeltsch fällt mir immer wieder auf, dass beiden die Interpretationsfigur des verdrängten, unsichtbar werdenden Gottes noch nicht wirklich greifbar zu sein scheint – jene Figur, die später etwa bei Bonhoeffer oder auch bei Blumenberg eine so große diagnostische Kraft entwickelt.

Sonntag, 21. Mai 2017

285

Ich bin davon überzeugt, dass wir uns heute vom repräsentativen Weltanschauungssoldaten verabschieden müssen. Was ich damit meine, will ich kurz andeuten.

Freitag, 12. Mai 2017

284

Vielleicht doch an dieser Stelle einige grundsätzliche Anmerkungen zu den tagespolitischen Ereignissen rund um den tatsächlichen und vermeintlichen Rechtsradikalismus innerhalb der deutschen Streitkräfte.

Donnerstag, 4. Mai 2017

283

„Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“, so Luther im Großen Katechismus.

Mittwoch, 3. Mai 2017

282

Eine Beobachtung, eine Vermutung: Dass wir in einer Wissensgesellschaft leben, dass also Wissen zunimmt und dem Einzelnen unmittelbar abrufbar zur Verfügung steht, ist kein Aufklärungsgewinn. Wissenswachstum und Wissensverfügbarkeit haben den paradoxen Effekt, dass sich der Einzelne Wissen nicht mehr aneignet, es vermehrt und kritisch reflektiert, sondern dass Wissen abrufbar gehalten und nach Abruf und hastigem Gebrauch an den Ort der Abrufbarkeit zurückverwiesen wird. Wissensgesellschaften sind damit nicht zunehmend aufgeklärte, sondern zunehmend unmündige Gesellschaften.

Donnerstag, 27. April 2017

281

Die heutige Tageslosung – eine dieser eindrücklichen biblischen Verheißungen, an denen sich der religiös Glaubende aufrichtet und festhält: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht (Jes 43,18/19)?“

Mittwoch, 26. April 2017

280

Gestern hat sich für mich ein beruflicher Weg verschlossen, den ich gerne gegangen wäre. Da ist also ein starker weltwirklicher Wunsch nicht in Erfüllung gegangen, die (durchaus gut begründete) Erwartung einer kommenden Weltwirklichkeit für mich ist enttäuscht worden.

Montag, 17. April 2017

279

Der formale moralische Universalismus Kants (Kategorischer Imperativ) muss wohl zunächst vor allem als Warnung begriffen werden: Bedenkt die Folgen materialer Universalisierungen. Bei Licht betrachtet können wir sie zuletzt nicht wollen.
Tatsächlich aber erzeugt der Kantische Formalismus, sobald er auf Wirklichkeit trifft, nichts anderes als universale Materialismen. In Anlehnung an Kierkegaards Annahme, Luther würde angesichts der historischen Erzeugnisse der reformatorischen Bewegung wohl das Gegenteil von dem behaupten, was er im 16. Jahrhundert behaupten musste, lässt sich vielleicht annehmen, dass Ähnliches auch für Kant gelten könnte.

Donnerstag, 13. April 2017

278

Einer der Texte, die mich bleibend beeindruckt haben und an die es gelegentlich zu erinnern gilt, ist der Essay Zwischen den Zeiten von Friedrich Gogarten (1920). Wenn man diesen Text ernster nimmt, als ihn die Theologie der Krise selbst genommen hat, wenn man gewissermaßen bei ihm stehen bleibt und nicht über ihn hinauszuschreiten versucht, dann ist er (nach Nietzsches tollem Menschen) das wohl ergreifendste Manifest der nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeit (in die wir heute noch tiefer hineingerissen sind, als es 1920 der Fall war).

Mittwoch, 12. April 2017

277

Habe mir für die nächsten Tage zwei Bücher von Badiou vorgenommen (man muss bei Badiou den neo-marxistischen Duktus und das maoistische Gehabe übersehen können – dann kann er sehr anregend sein).

276

Gebrauche die Wirklichkeitsabhängigkeit des Anderen so, dass sie dir selbst zum Wachstum in der Wirklichkeitsunabhängigkeit dient. Das ist einer der Schlüssel zur Überwindung des Bösen mit Gutem (Röm 12,21).

Dienstag, 11. April 2017

275

Nachtrag zu Nr. 273: Ich bin noch nicht so recht zufrieden mit der Pointierung meiner eigenen Ergänzung der Interpretation Webers.

Montag, 10. April 2017

274

Gerade in Gerhard Ebelings „Luther und der Anbruch der Neuzeit“ entdeckt: „Ohne das rechte Verständnis von Sünde versinkt die Theologie überhaupt in Moralismus. Darauf lief in der Aufklärung und läuft heute wieder eine schlechte Anpassung an die Neuzeit hinaus. Das bedeutet aber nicht nur Verrat an Luther, sondern auch Verrat an der Neuzeit.“ Kürzer kann ein treffendes Urteil über die „öffentliche“ EKD-Theologie kaum gefasst werden.

Nachsatz: Meine Gewohnheit, gute Texte nach Jahren noch einmal in die Hand zu nehmen, erweist sich immer wieder als fruchtbar.

273

Unter innerweltlicher Askese (insbesondere in ihrer puritanischen Erscheinungsform) versteht Max Weber zunächst die weitreichende Wirklichkeitsdistanzierung im Sinne einer radikalen Zurückweisung jeder Kreaturvergötterung. Hinter dieser Zurückweisung verbirgt sich die puritanische (calvinische) Annahme einer unendlichen ontologischen Differenz zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit, zugleich die Annahme einer unendlichen existenzialen Differenz zwischen Gott und Mensch.

Donnerstag, 6. April 2017

272

In den vergangenen Tagen denke ich immer wieder über die Figur des Gastes nach – im Sinne Paul Gerhardts Gast auf Erden. Mit Gerhardt hat der Gast im Weltwirklichen keinen Stand, ist also nirgendwo weltwirklich befestigt, ist keiner Ordnung unterworfen, gehört zu keiner spezifischen gesellschaftlichen Schicht oder Gruppierung. Der Gast will treiben sein Leben durch die Welt, denkt aber gar nicht daran, zu bleiben in diesem fremden Zelt. Denn diese Herberg ist zu böse und sie ist nicht sein rechtes Haus.

271

Wenn wir Ethik sagen, meinen wir in aller Regel repräsentative Ethik. Ethik in diesem Sinne versucht, einen Maßstab für verantwortliches Handeln im Hier und Jetzt an die Hand zu geben, indem es ein zu Realisierendes, ein in der Weltwirklichkeit zu verwirklichendes Gut als Norm formuliert.

Montag, 3. April 2017

270

„Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Gott redet, wer sollte nicht Prophet werden?“ (Amos 3,8).

Freitag, 31. März 2017

269

In den vergangenen Wochen bin ich vermehrt mit der Frage nach Warum und Wozu meiner Interpretation und Praxis konfrontiert worden. Intuitiv, unmittelbar überzeugend sind der reservative Zugang zur und der reservative Gebrauch der Weltwirklichkeit tatsächlich nicht. Das liegt wohl vor allem am „Wesen“ des Sprungs. Streng genommen „gibt“ es für reservatives Denken und Handeln weder einen Grund noch einen Zweck.

Montag, 27. März 2017

268

In einem kürzlich erschienen Text („Entzauberung und messianische Spannung“) formuliere ich eine Max Weber ergänzende, möglicherweise widersprechende These.

Freitag, 24. März 2017

267

Denkende, interpretierende und sich so orientierende Menschen gehen mehr oder weniger selbstverständlich davon aus, dass alle Menschen als Menschen sich im Denken und denkend orientieren müssen – und dies auch wollen und tun. Nun ist es aber leider so, dass die Masse sich weder im Denken noch sich denkend orientiert. Weil sie es nicht kann, weil sie zu bequem ist oder weil sie es schlechtweg nicht für nötig hält. Und so ist die Masse im Wesentlichen Funktion ungeprüfter, heute sich pluralisierender Gültigkeiten, die als selbstverständlich, haltbar und bindend hin- und angenommen werden. Diese Funktion kann übrigens höchst intellektuell daherkommen (wobei ich interessanterweise spontan bekannte Gesichter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens oder bekannte Autoren führender Tages- oder Wochenblätter vor Augen habe).

266

Wer sich in Gebirge wie die „Protestantische Ethik“ hineingräbt, der stößt unvermeidlich auf kleine, bei der letzten Grabung übersehene Goldklumpen.

Donnerstag, 23. März 2017

265

Paulus ist kein Christ. Das Christentum als Kulturerscheinung ist, im Sinne Max Webers, auch eine transformierende, verzerrende Anverwandlung paulinischer Theologie bei gleichzeitiger Abschwächung, teilweise Beseitigung ihrer Zumutungen.

Mittwoch, 22. März 2017

264

Habe gestern an der Katholischen Akademie in Bayern (München) einen Vortrag zum Wiederaufleben des Pragmatismus von Richard Bernstein gehört, anschließend ein Podiumsgespräch mit Jürgen Habermas.

263

Kants kategorischer Imperativ als unbedingter Geltungsanspruch ist eine Täuschung, weil er nicht bedingungslos gilt, sondern auf die Herstellung spezifischer Bedingungen aus ist.

Dienstag, 21. März 2017

262

Ein gefährlicher Gedanke: Die Eigentümlichkeit, Besonderheit, Einzigartigkeit des Menschen gegenüber anderen bekannten Lebewesen liegt nicht darin, dass er Vernunft, Bewusstsein, Intelligenz hat. Hier sind die Unterschiede wohl bloß graduell. Der Mensch ist vielmehr das einzige bekannte Wesen, das seine vernünftigen Interpretationen reservativ wenden kann, das sich selbst und die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden begreifen und dieser Interpretation entsprechend handeln kann. Der Mensch ist also das einzige bekannte Wesen, das zu einem als ob nicht, das zur (reservativen) Hoffnung fähig ist.
Gefährlich ist dieser Gedanke, weil er in den alten und erbitterten Streit zwischen Natur und Gnade (man denke an Barths Nein! gegen Brunner) hineingesprochen ist und vielfältig fehlinterpretiert werden kann.

261

Max Webers Diagnose der okzidentalen Kultur lässt sich vielleicht auf diesen Punkt bringen: Alle kulturellen Prozesse der abendländischen Lebenswirklichkeit (politische, gesellschaftliche, rechtliche, wirtschaftliche, technische, ästhetische) folgen einer unerbittlichen Mechanik, die zur unausgesetzten Produktion eines irrationalen Mehr im quantitativen wie im qualitativen Sinne zwingt. Irrational ist dieses Mehr insofern, als dass es als Zweck an sich auftritt – völlig abgelöst von dem, was man als natürliches Bedürfnis beschreiben könnte.

Sonntag, 19. März 2017

260

Gestern nun die Aufführung des Luther-Pop-Oratoriums in der ausverkauften Münchener Olympiahalle. Als Mitmach-Erlebnis sehr unterhaltsam. Wem jedoch an der Sache Luthers gelegen ist, der kann nur ein gewisses Unbehagen empfinden. Dem Volk (um des Evangeliums willen) auf's Maul zu schauen, ist nun einmal etwas anders, als dem Volk (populär) nach dem Maul zu schwätzen.

Freitag, 17. März 2017

259

Ich passe auch deshalb nicht so recht in den Kreis der wissenschaftlichen Fachmenschen, weil ich in nichts Experte bin. Noch nicht einmal in meinem eigenen Denken.

Donnerstag, 16. März 2017

258

Zwei weitere Intuitionen bei der Weber-Lektüre: Die Entdeckung ist immer wieder schrecklich ernüchternd, dass mein vermeintliches Ich, meine vermeintliche Identität und die ihr eigentümlichen interpretatorischen und praktischen Rationalitäten wenig mit individueller Authentizität oder gar mit Wahrheit zu tun haben. Sie sind in hohem, vielleicht in überwiegendem Maße Kulturprodukt. Mein Kontext schafft mich zu seinem Bilde.
Und eine zweite Entdeckung ist immer wieder schrecklich ernüchternd: Dort, wo das reservativ begriffene Evangelium die geronnenen Interpretationen und Praktiken durchbricht (Paulus, Luther), wird es sogleich vom übermächtigen Strom der Kulturentwicklung erfasst, transformiert und den Gesetzen der Weltwirklichkeit dienstbar gemacht. Das dämpft alle Hoffnungen für ein kommendes postsäkulares Zeitalter.

257

Wer auch nur einen ersten Zugang zu Max Webers (in politischer Absicht vorgenommener) Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik finden will, der darf Webers Wirklichkeitsinterpretation nicht übersehen.

Mittwoch, 15. März 2017

256

In der "Protestantischen Ethik" eine wunderbare Fußnote wiederentdeckt - Webers Vorstoß in das Zeitalter der Interpretation: "'Irrational' ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten 'rationalen' Gesichtspunkte aus. Für den Irreligiösen ist jede religiöse, für den Hedoniker jede asketische Lebensführung 'irrational', mag sie auch, an ihrem letzten Wert gemessen, eine 'Rationalisierung' sein. Wenn zu irgend etwas, so möchte dieser Aufsatz dazu beitragen, den nur scheinbar eindeutigen Begriff des 'Rationalen' in seiner Vielseitigkeit aufzudecken."

255

Es gibt Menschen, und vielleicht nimmt ihre Zahl zumindest im Okzident ab, denen der Mantel der Religion oder Metaphysik von Natur aus zu passen scheint, weil sie von Natur aus religiöse oder metaphysische Wesen sind. Sie tragen ein religiöses oder metaphysische a priori in sich. Das macht sie immun gegen jede Entzauberung.

Dienstag, 14. März 2017

254

Die Erneuerung konstruktiv-messianischer Energien in der säkularen Aufklärungsphilosophie lässt sich durchaus als Antwort begreifen auf die reformatorische Entzauberung der Weltwirklichkeit. Sie lässt sich vergleichen mit der religiösen Antwort des Christentums auf die paulinischen Entzauberungen. Hier wie dort trifft, ganz im Sinne Max Webers, die Zumutung des Glaubens auf die Existenz. Und die Existenz erweist sich als unfähig, der Zumutung standzuhalten. Der Glaube wird transformiert zur weltheilenden Lehre, Praxis des Glaubens wird heilende Weltumgestaltung.

253

Warnung für alle, die reservativ geneigt sind: Grund und Verheißung, Herkunft und Zukunft als Weltwirklichkeiten – das ist der Preis, der für reservatives Leben zu zahlen ist. „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach“ (Mk 10,21). Wer dazu nicht bereit ist, wer nicht das Letzte auch noch loslassen will als ob nicht, der lässt es besser ganz. Der ist vielleicht eher für die Religion gemacht.

Montag, 13. März 2017

252

Liebe unter Gültigkeitsbedingungen, unter Bedingungen repräsentativer Interpretation, ist immer nur Instrumentalisierung des Anderen im Dienste der eigenen Gültigkeiten (was durchaus als beeindruckende Selbstlosigkeit erscheinen kann).

251

Am vergangenen Wochenende bin ich noch einmal nach dem Warum des als ob nicht gefragt worden. Dahinter steht die Frage nach Grund und Verheißung der Ungültigkeitsinterpretation, nach ihrem Wirklichkeitsfundament und ihrem Wirklichkeitsversprechen.

Samstag, 11. März 2017

250

Paulus interpretiert die Weltwirklichkeit so, als wäre sie aufgehoben und überwunden, als wäre sie ungültig, als ob nicht. Die paulinische Ungültigkeitsuniversalität gilt für die Weltwirklichkeit überhaupt, auch für alle wirklichen Menschen, auch für alle Menschen als Wirklichkeit – und dies gleichermaßen.
Und doch fordert Paulus im wirklichen Miteinander von Menschen so etwas wie ein Ungültigkeitsgefälle: Der Mensch soll sich selbst gegenüber anderen Menschen gewissermaßen als ungültiger begreifen. Der Einzelne hat vor allem und insbesondere sich selbst dem Gesetz des Messias, dem als ob nicht zu stellen, zu unterstellen, zu unterwerfen. Den Anderen soll der Einzelne demgegenüber gewissermaßen als weniger ungültig begreifen. In Gültigkeitsbegriffen formuliert: „In Demut achte einer den Anderen höher als sich selbst“ (Phil 2,3). Vielleicht ist dieser Gedanke einer der Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Ekklesia als Ungültigkeitsgemeinschaft, als Gemeinschaft von Ungültigen.

249

Noch ein kurzer Gedanke zu Weber: Wenn er sagt, der Einfall ersetze nicht die Arbeit, dann gilt dieser Satz wohl auch (oder noch viel mehr) umgekehrt. Keine Arbeit kann den Einfall, die Intuition ersetzen. Die geistes- und sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Publikationsindustrie der Gegenwart ich zweifellos beeindruckend. Aber sie ist auch erschreckend einfallslos, intuitionslos.

Donnerstag, 9. März 2017

248

Eine typisch pubertäre Reaktion auf eine unbequeme Entscheidungs- und Handlungszumutung: übertreibende und verzerrende Verallgemeinerung der Zumutung. Absicht: Entscheidungs- und Handlungsvermeidung.

Mittwoch, 8. März 2017

247

Mit Wilhelm Hennis habe ich mich gestern noch einmal der Fragestellung Max Webers angenähert. Ich halte es für sinnvoll, zwischen Annahme und Frage zu unterscheiden. Ein Versuch.

246

Rückblickend, analysierend, diagnostizierend ist meine Dissertation ein entscheidender Schritt heraus aus meiner religiösen Herkunft hinein in die säkulare Moderne. Das Buch ist Ergebnis eines sich selbst säkularisierenden Denkens, wobei an diesem Denken unverkennbar große kantische und auch noch offenbarungspositivistische Eierschalen kleben.
Nach meiner Dissertation ist es mir dann nicht gelungen, mich im säkularen Denken bequem einzurichten. Nur wenig später hat mich die Auseinandersetzung mit Bonhoeffers Religionslosigkeit (mit guten Gründen könnte ich auch formulieren: das unverfügbare Ereignis einer existenziellen Auseinandersetzung mit Bonhoeffer) aus dem Sessel der Säkularität herausgerissen und in die Offenheit einer bislang unbestimmten Postsäkularität gehängt. In dieser Offenheit habe ich dann nicht zuletzt die kantischen und offenbarungspositivistischen Eierschalen verloren.

245

Mein Unbehagen in der Kultur ist weniger trieb- oder instinktbedingt (Freud). Als Triebwesen bin ich durchaus auch, vielleicht sogar überwiegend Kulturwesen. Mein Unbehagen in und an der Kultur gründet in meiner Interpretation (Glaube), ist reservativ begründet. Meine Kritik der Kultur steht damit nicht im Dienst des Triebs, sondern im Dienst reservativen Lebens.

Dienstag, 7. März 2017

244

Gestern bin ich in den Vorbemerkungen zur Protestantischen Ethik noch einmal über Max Webers Kritik des wissenschaftlichen Dilettantismus gestolpert.

Montag, 6. März 2017

243

Am vergangenen Samstag im Münchener Gasteig: Hauptprobe für das Luther-Oratorium am 18. März 2017 in der Olympiahalle. Gegen Ende ein kurzer und doch allzu langer Auftritt von Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern und Ratsvorsitzender der EKD.

242

Wem die Wirklichkeit nicht zu einer bedrängenden Frage wird, zu einer Frage, die sich nicht beantworten lässt, dem bleibt der Zugang zu reservativem Denken und Leben verschlossen.

Sonntag, 5. März 2017

241

In Berlin, so lässt sich heute im SPIEGEL lesen, sei es jetzt hip, sich polyamor zu nennen. Die säkulare Emanzipationsbewegung frisst ihre Kinder. Polyamorie – ein eindrückliches und repräsentatives Phänomen dafür, dass das Menschenrecht gerade als gelebte Realität nichts anderes hervorbringt als einen Zustand unregulierter und zunehmend unregulierbarer Instinktbedingtheit, also einen Zustand, der nur noch einen Fußbreit entfernt ist vom Übertritt in einen realen Krieg aller gegen alle. In der Menschenrechtsidee ist der Keim der Selbstunterwanderung bereits angelegt.

240

Es hilft vielleicht, wenn noch einmal nach dem paulinischen Motiv gefragt wird: Warum ist Paulus so sehr daran interessiert, sein Evangelium, seine Interpretation vom Sieg des Messias über die Weltwirklichkeit unter die Leute zu bringen?

239

Es ist befremdend und lächerlich zugleich, wenn das politische und religiöse (insbesondere das kirchliche) Establishment Reformation feiert. Es feiert mit der Reformation immer auch sich selbst und damit das, was dringend der Reformation bedürfte.

Freitag, 3. März 2017

238

Das deutsche Wissenschaftssystem zwingt im zunehmend funktionalistisch-ökonomistischen Modus des Fortschritts auch die sogenannten Geisteswissenschaften zu dem, was man Forschung nennt. Das System unterdrückt damit zugleich das Denken.

Donnerstag, 2. März 2017

237

Mit meinem Text zu einer möglichen Theologie der Matrix-Trilogie habe ich vor gut 10 Jahren angehoben, den Denkraum meiner religiös-metaphysischen Herkunft zu verlassen.

Freitag, 24. Februar 2017

236

Es liegt eine paulinische, marcionitische, reformatorische Aufgabe vor uns: die Aufgabe, den abrahamitischen (reservativen) Glauben aus der religiös-metaphysischen Gefangenschaft zu befreien, aus der Gefangenschaft jüdischer, griechischer, römischer Religion und Metaphysik, die im abendländischen Christentum zueinander finden und heute in säkularer Gestalt auftreten.

235

Botox ist eine Spätfolge des Christentums.

Donnerstag, 23. Februar 2017

234

Gestern Abend habe ich in der Freien evangelischen Gemeinde München Südost (Ottobrunn) einen Vortrag zur neuen philosophischen Paulusrezeption gehalten. In einer leicht gekürzten Fassung steht er hier als mp3 zum Download zur Verfügung (es öffnet sich ein neues Fenster, der Download beginnt in der Regel automatisch).

Sonntag, 19. Februar 2017

233

Leiden ist nicht nur eine Frage des Schmerzes, sondern auch eine Frage der Interpretation. Wir leiden auch, weil unsere Interpretation nach einer anderen Zeit und nach einem anderen Raum verlangt – jenseits des Hier und Jetzt. Leiden ist also immer auch die Sehnsucht nach Verantwortungslosigkeit, danach, von der Antwort auf das Hier und Jetzt los zu sein.

Samstag, 18. Februar 2017

232

Freiheit (relative Wirklichkeitsunabhängigkeit) lässt sich nicht finden. Freiheit ist ein Ereignis, das findet, das statt-findet, das seine Statt findet. Eine bittere Botschaft für jene, die Unfreiheit tragen und ertragen müssen. Gegen Unfreiheit gibt es kein Mittel.

Freitag, 17. Februar 2017

231

Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ gründet in einem Akt der vorbehaltlosen Unterbrechung, in einem Augenblick der bedingungslosen Suspension aller natürlichen, politischen, rechtlichen und sonstigen Kausalitäten (erster Präliminarartikel). Von diesem Augenblick, der sich als Augenblick der Gnade begreifen lässt, ist alles Weitere abhängig. Wie dieser Augenblick gedacht wird, wie von ihm ausgehend das Politische gedacht wird, ist entscheidend.

230

Unmündigkeit (Unfreiheit, Gefangenschaft in den Wirklichkeitsgesetzen) ist allzu bequem, solange es Menschen gibt, die bereit sind, die Wirkungen und Folgen zu dämpfen oder gar aufzufangen.

Samstag, 4. Februar 2017

229

Wahrheit ist eine bewusste oder unbewusste Verabredung von Menschen über eine gemeinsame Interpretation dessen, was gelten soll. Und das ist das Problem jeder Wahrheit: Gemeinsame Interpretationen sind allenfalls ein bloß oberflächliches als ob, und gemeinsame Interpretationen sind in Bewegung – nicht zuletzt, weil Sprache und Kultur in Bewegung sind.

Montag, 30. Januar 2017

228

„Der Mensch ist frei geboren“, sagt Rousseau, „und überall liegt er in Ketten“. Der Satz hat, wie ein typischer Kalenderspruch, etwas Anrührendes, ist aber in seiner Pointierung falsch.

Samstag, 28. Januar 2017

227

Donald Trump erfüllt im Eiltempo seine Wahlversprechen, so heißt es. Bei aller Fragwürdigkeit in der Sache: Das Interessante, das geradezu Amüsante daran ist, wie sehr Trump damit das liberal-bürgerliche System irritiert. Zum einen: Wahlversprechen werden tatsächlich eingehalten. Zum anderen: Es wird Politik gemacht, es wird entschieden. Das liberal-bürgerliche System kennt weder das eine noch das andere. Es kennt allein die Exekution der ihm einprogrammierten Rationalität.

Freitag, 27. Januar 2017

226

In meinem kurzen Text zu Derridas Entscheidungstheorie habe ich den Gedanken eines enthaltsamen Rechts formuliert. Das scheint dem Rechtsverständnis reservativer Interpretation schon recht nahe zu kommen. Wir müssen uns auf ein Recht und einen Rechtsgebrauch zubewegen, die ausreichend, vielleicht sogar weitreichend offen sind für gerechte (politische) Entscheidungen. Diese Entscheidungen dürfen allerdings nicht mehr als so offen und unbestimmt gedacht werden, wie Derridas dekonstruktive Entscheidungen. Gerechte Entscheidungen müssen reservativ gegründet sein und reservativ schließen. Von repräsentativen Entscheidungen unterscheiden sich reservative Entscheidungen dadurch, dass sie sich keiner Annahme möglicher Wirklichkeitsordnung unterwerfen und dass sie sich nicht in ein normatives Ordnungssystem fassen lassen.

Mittwoch, 18. Januar 2017

225

Ich arbeite gerade an einem kleinen Text zu Derridas Entscheidungstheorie, erstaunlich systematisch vorgetragen in Gesetzeskraft. Und noch einmal wird mir bewusst, wie viel ich dem dekonstruktiven Denken verdanke, insbesondere in seiner politischen Wendung. Die Begegnung mit Derrida hat mir endgültig die metaphysische Brille abgenommen, durch die hindurch ich geglaubt habe, die Weltwirklichkeit anschauen und anordnen zu müssen.

Montag, 16. Januar 2017

224

Es gibt eine (Sehn)Sucht nach Schließung, nach Gegenwärtigkeit oder Zukünftigkeit eines Unveränderlichen im Veränderlichen. Diese (Sehn)Sucht ist geboren aus der Angst vor dem immer kommenden (drohenden) Anderen. Politisch äußert sich diese Sucht etwa in Nationalismen, aber durchaus auch in den Vergleichgültigungsversuchen, die mit dem Instrumentarium des Menschenrechts unternommen werden. Wenn einst alles gleich sein wird, dann wird auch der, die oder das Andere überwunden sein.

Freitag, 13. Januar 2017

223

Derrida spricht in Anlehnung an Kierkegaard gelegentlich davon, der Augenblick einer Entscheidung sei Wahnsinn (Kierkegaard hat an der von Derrida gebrauchten Stelle allerdings 1 Kor 1,18 im Sinn. Emanuel Hirsch übersetzt daher treffend mit Torheit).
Ich selbst denke und erfahre den Augenblick der Entscheidung dagegen (reservativ und eben nicht mehr dekonstruktiv) als Befreiung. Wahnsinn ist eher die Zwischenzeit, in der nicht nur der Augenblick der Entscheidung, sondern auch das zu Entscheidende im Werden ist. Das ist die Zeit des unbestimmten und doch offenen und hörenden Wartens. Das ist die Zeit des Kreuzes, der Torheit des Kreuzes. Karsamstag.

Donnerstag, 12. Januar 2017

222

„Niemand will soviel Reformen durchführen wie Kinder“ (Franz Kafka). Aber alle Reform des einzelnen Kindes stößt auf die Beweisführung und Gewalt des Allgemeinen. Bei Kafka wird einem Jungen, der des Nachts noch lesen will, das Gas des Leuchters abgedreht. Ihm wird erklärt: „Alle gehen schlafen, also mußt auch Du schlafen gehen.“

Mittwoch, 11. Januar 2017

221

Gut ist nicht immer das, was allgemein als gut gilt, ist nicht immer das moralisch oder rechtlich Gute, auch nicht immer das mit den Mitteln normativer Ethik ermittelte Gute. Gut kann auch das sein, was allgemein als Böse gilt. Böse ist nicht immer das, was allgemein als böse gilt, ist nicht immer das moralisch oder rechtlich Böse, auch nicht immer das mit den Mitteln normativer Ethik ermittelte Böse. Böse kann auch sein, was allgemein als Gut gilt.

Dienstag, 10. Januar 2017

220

Gibt es einen Zeitpunkt, an dem man den Kampf aufgeben und einen Menschen als an die Weltwirklichkeit verloren anschauen muss? Damit mag ich mich nur schwer abfinden.