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Montag, 10. April 2017

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Unter innerweltlicher Askese (insbesondere in ihrer puritanischen Erscheinungsform) versteht Max Weber zunächst die weitreichende Wirklichkeitsdistanzierung im Sinne einer radikalen Zurückweisung jeder Kreaturvergötterung. Hinter dieser Zurückweisung verbirgt sich die puritanische (calvinische) Annahme einer unendlichen ontologischen Differenz zwischen Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit, zugleich die Annahme einer unendlichen existenzialen Differenz zwischen Gott und Mensch.

Innerweltliche Askese meint bei Weber aber zudem und vor allem die ausgeprägt systematisierte Lebenspraxis, die planvoll-methodische Wirklichkeitsbearbeitung jenseits klösterlicher Mauern, also mitten in den erklärbaren und unerklärbaren Kausalitäten und Bedingtheiten der Weltwirklichkeit. Hinter dieser Lebenspraxis vermutet (der religiös unmusikalische) Weber die Sehnsucht nach einer Heilsprämie – nicht in dem Sinne, dass der Puritaner sich sein Heil zu verdienen versucht. Er will sich vielmehr durch seine methodische Lebenspraxis, durch Bewährung in der Welt seines Gnadenstandes vergewissern.
Ich habe kürzlich (Nr. 268) bereits angedeutet, dass ich als Triebkraft hinter der puritanischen Lebenspraxis weniger die Erwählungsungewissheit, als vielmehr die Erwählungsgewissheit und das davon ausgehende, prämienunabhängige Streben nach Gottesgehorsam vermute. Allerdings ist auch unter einer vorausgesetzten Erwählungsgewissheit die Sehnsucht nach so etwas wie einer Heilsprämie vorstellbar – wenn auch nicht im Sinne Webers. Der puritanisch (calvinisch) Glaubende, der sich seines Heils gewiss ist und sich als Gotteskind begreift, kann sich nach einer Art Sonderbehandlung durch den liebenden Vater im Himmel sehnen, nach zumindest für den Glaubenden selbst wahrnehmbarer, unterscheidender Vaterliebe. Erwählungsgewissheit kann den Wunsch nach sichtbarer Differenz zwischen drinnen und draußen mit sich führen (in der allerdings die ontologische und existenziale Differenz gewahrt bleiben muss), nach einem erfahrbaren Vater, der seinem Sohn keinesfalls Steine zu essen gibt, wenn dieser ihn um Brot bittet (Lk 11,11). Kurz: den Wunsch nach einem (zuletzt doch wieder) sichtbaren Gott.
Der Wunsch nach erfahrbarer Differenzierung lässt sich in der heraufziehenden Moderne kaum noch befriedigen. Die puritanische Lebenspraxis, die methodische Wirklichkeitsbearbeitung ließe sich angesichts dessen (insbesondere auch mit Blick auf die enge Verwandtschaft zwischen Puritanismus und Empirismus) als zunehmend verzweifelter und sich notwendig erschöpfender Versuch interpretieren, einen sichtbaren Gott zu erhalten, den zunehmend verdrängten, den zunehmend sich entziehenden Gott irgendwie ins Sichtbare, also ins Wahrnehmbare (zurück) zu zwingen. Der asketische Protestantismus (und mit ihm der ihm entwachsende moderne Kapitalismus, die moderne Lebenspraxis überhaupt) wäre so gesehen das letzte Aufgebot der Behauptung eines sichtbaren Gottes – und zugleich der Sehnsucht nach sichtbarer Auszeichnung.

Nachbemerkung: Der asketische Protestantismus hofft auf ein Happy Ending nach dem Vorbild der Hiob-Erzählung. Doch die Hiob-Erzählung der Moderne hat nur 41 Kapitel.

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