Seiten

Mittwoch, 21. Juni 2017

295

Gelegentlich bleibe ich noch einmal an dem für meine eigene Denkbewegung so entscheidenden Gedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ hängen – an einem Text, den Bonhoeffer unmittelbar nach dem gescheiterten Hitler-Attentat am 21. Juli 1944 niederschreibt. Ungeachtet seines historischen und vor allem biographischen Kontextes, ungeachtet also seiner sichtlichen Bedingtheit sind in diesem Text eine Haltung und eine Praxis der Freiheit angedeutet, die der reservativen Haltung und Praxis schon sehr nahe kommen.

„Zucht
Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem
Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden
und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen.
Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen,
und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist.
Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.

Tat
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens,
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen.

Leiden
Wunderbare Verwandlung. Die starken, tätigen Hände
sind dir gebunden. Ohnmächtig, einsam siehst du das Ende
deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte
still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden.
Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit,
dann übergabst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende.

Tod
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“

In reservativer Perspektive bleibt Bonhoeffers Text ergänzungsbedürftig. Ich selbst würde vielleicht so ansetzen:

Leben
Erneute Verwandlung. Jenseits des Todes, Freiheit glaubend, nicht schauend,
kehrst du zurück, lebend im Tod. Was zählt ist allein noch das Hier und Jetzt,
doch es zählt allein noch, als zählte es nicht. Zur Freiheit befreit
kehrst du zurück zur Zucht – als Freiheit, dich hierhin und dorthin zu wenden,
zurück zur Tat – als Freiheit, das hier und jetzt Rechte zu treffen,
zurück zum Leiden – als Freiheit zu warten im Tod auf das Leben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen