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Dienstag, 11. April 2017

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Nachtrag zu Nr. 273: Ich bin noch nicht so recht zufrieden mit der Pointierung meiner eigenen Ergänzung der Interpretation Webers.

Ich halte Webers Annahme eines psychischen Moments (Heilsprämie) hinter der spezifisch puritanischen Lebenspraxis durchaus für treffend – auch in der von ihm vorgetragenen Zuspitzung (Vergewisserung des eigenen Gnadenstandes). Die Frage der Heilsgewissheit zwischen möglicher Verlierbarkeit und vermeintlicher Sicherheit des Heils ist in prädestinarisch bestimmten religiösen Milieus höchst umstritten und hat, je nach Neigung in dieser Frage, unter Umständen erhebliche praktische Konsequenzen.
Dessen ungeachtet meine ich, dass ein anderes psychisches Moment nicht vernachlässigt werden darf, weil es das religiöse Empfinden des überzeugten Puritaners vermutlich deutlich stärker bestimmt hat und gerade im Kontext der heraufziehenden Säkularität weitaus wirkungsreicher war: die Sehnsucht nach dem wahrnehmbaren Unterschied zwischen Glaubens- und Weltgemeinschaft. Gott soll sein Volk gegenüber der Welt sichtbar abheben und auszeichnen. Diese Auszeichnung wird nicht als Lohn begriffen, sondern als (selbstverständliche) väterliche Fürsorge. Zugleich soll sie die Ehre Gottes vor der Welt sicherstellen. Der Auszeichnungsgedanke ist einerseits eine eigentümlich puritanische Anverwandlung altjüdischen Denkens, andererseits eine eigentümlich empiristische Reaktivierung dessen, was Luther (im Unterschied zur theologia crucis) theologia gloriae nennt und kritisiert.
Die Tragik der puritanischen Sehnsucht liegt nun darin, dass sie unter zunehmend säkularen Bedingungen nicht mehr durch einen selbstverständlich gesetzten sichtbaren Gott gestillt werden kann, sondern dass ihre Stillung gewissermaßen erzwungen werden muss. Der Puritaner stillt seine Sehnsucht nach Fürsorge und Gottesehre durch eine strikt systematisierte Praxis des göttlichen Gesetzes – eines Gesetzes, das er unter empiristischer Interpretation in seiner Kausalität durchschauen und gebrauchen lernt. Zugespitzt könnte man sagen: Der Puritaner schafft sich, sich selbst dabei als göttliches Werkzeug begreifend, durch seine Lebenspraxis eines systematischen Gebrauchs weltwirklicher Kausalitäten seinen eigenen sichtbaren Gott. Dieser Gott verliert im Säkularisierungsprozess seine transzendente Hinterlegung. Heute ist er ein reiner, pluralisierter, unpersönlicher Gott des innerwirklichen Fortschritts.

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