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Donnerstag, 22. Juni 2017

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Webers Protestantische Ethik liefert nicht allein eine mögliche Erklärung für die Heraufkunft der okzidentalen, kapitalistischen Lebensmechanik. Aus meiner Sicht schließt sich hier, unausgesprochen, eine weitere Deutungslücke.

Die protestantischen, insbesondere die calvinistischen Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts tragen wesentlich dazu bei, dass die reformatorische Ernüchterung über die Welt als Welt (Entzauberung und messianische Spannung) nicht dauerhaft ertragen werden muss. Der Protestantismus selbst lässt diese Ernüchterung vielmehr hinter sich und bereitet eine erneuerte, nun radikal säkularisierte christliche Weltordnungs- und Weltbesserungsideologie vor (die wohl im deutschen Idealismus ihren vollkommenen Ausdruck und Höhepunkt findet).
Entscheidende Interpretamente des protestantischen Denkens der religiösen Übergangsepoche zwischen Reformation und Moderne, die dieser Transformation und damit einer säkularisierten Reanimation des jüdisch-hellenisch-römischen Großchristentums den Weg bereiten, lassen sich nach der Weber-Lektüre (auch ganz unabhängig von einer Weber-These) leicht angeben:

Gott ist Gott und Welt ist Welt. Gott ist entweltlicht, die Welt ist entgöttlicht.

Welt ist gottlose Kreatur. Sie ist aber von Gott stabil geordnete Kreatur.

Die stabile Ordnung der Welt lässt sich in den Gesetzen der Welt erkennen.

Die Gesetze der Welt sind zum (diesseitigen) Wohl des Menschen zu gebrauchen.

Der dienliche Gebrauch der Gesetze der Welt ist unbedingte (Berufs-)Pflicht.

Der Gebrauch der Gesetze der Welt ist selbst gesetzlich, ist moralisch bestimmt.

Das moralische Gesetz ist Kreatur zum verbindlichen Gebrauch der Gesetze der Kreatur.

Dem moralischen Gebrauch der Gesetze der Welt ist (diesseitiger) Segen als Verheißung beigegeben.

Was der Mensch nicht leisten kann, das leistet Gott selbst. Gott ist aktiver Erhalter der Kreatur.

Schon in diesen wenigen, noch religiösen Sätzen deutet sich das Wesensmerkmal der Moderne als säkulare Neuauflage des Christentums an: Ist dem vorreformatorischen Christentum vor allem daran gelegen, das Göttliche im Weltlichen zu rekonstruieren und die Welt damit göttlicher zu machen, so ist das nachreformatorische, säkularisierte Christentum darauf aus, die Gesetze der Kreatur konstruktiv zu gebrauchen und die Welt damit kreatürlicher zu machen. Zweck und Effekt der beiden Christentümer sind grundsätzlich gleich: Weltordnung und Weltbesserung. Was jedoch als Ordnung und Besserung begriffen wird, das weicht himmelweit voneinander ab.

Anmerkung: Mit guten Gründen kann Weber die moderne abendländische Lebensmechanik für irrational und letztlich für sinnlos halten. Und doch will in der konstruktiv-kreatürlichen Wendung des modernen Denkens und Lebens durchaus so etwas wie Sinn durchscheinen, wenn auch nicht mehr letzter Sinn.

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