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Sonntag, 22. Oktober 2017

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Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519: ein eindrückliches Beispiel für seinen Begriff und seine Handhabung des Glaubens. Eine starke, mit robustem Strich gezeichnete Bilderwelt der Hoffnung wird der Realität (des Sterbens) und einer (im Sterben) sich aufdrängenden, ängstigenden religiösen Bilderwelt entgegen gestellt. Luther müht sich geradezu darum, Realität und ängstigende Religion durch Glauben so zu überdecken, dass sie nicht mehr sichtbar sind und ihre Macht verlieren.

In der Auseinandersetzung mit Luthers Sermon tritt mir selbst noch einmal deutlich vor Augen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, dass reservativer Glaube im Interpretierenden überhaupt Fuß und der Interpretierende reservativ Tritt fassen kann:

1) Dem Interpretierenden ist es nicht mehr möglich, religiöse Bilder oder Symbole sprachlicher, ästhetischer oder anderer Art als Zeichen, als Platzhalter, als Stellvertreter für eine andere, unsichtbare, transzendente Wirklichkeit zu begreifen. Unsichtbare Substanzen sind unwiederbringlich verloren, zugleich auch ihre Repräsentierbarkeit.

2) Dem Interpretierenden ist es nicht mehr möglich, die verlorenen realen Substanzen durch fiktive Substanzen zu ersetzen. Auch das als ob unsichtbarer Substanzen, das moderne Surrogat der verlorenen Religion, ist restlos zerronnen.

3) Der Interpretierende muss zu der Einsicht gelangt sein, dass er selbst, dass der Mensch überhaupt (als in praktischer Absicht interpretierendes Wesen) einer selbstbefestigenden Interpretation von Wirklichkeit bedarf, die sich als wenigstens vergleichbar mächtig erweist, wie die verlorene reale transzendente Substanz und die verlorene transzendente Substanz als ob – und dies nicht zuletzt in sozialer und politischer Hinsicht.

4) Der Interpretierende muss zu der Einsicht gelangt sein, dass er diese befestigende Interpretation nicht finden kann, ohne eine andere Wirklichkeit anzunehmen, die zur Weltwirklichkeit in ein Verhältnis gesetzt wird.

5) Und schließlich muss der Interpretierende zu der Einsicht gelangt sein, dass die andere Wirklichkeit, die zur Weltwirklichkeit in ein Verhältnis gesetzt wird, nicht die Wirklichkeit des Nichts sein kann. Das Nichts als andere Wirklichkeit muss ihm gegenüber der Weltwirklichkeit als nicht ausreichend mächtig erscheinen.

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