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Mittwoch, 20. September 2017

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Sämtliche Hauptvorträge der vergangenen Bonhoeffer-Tagung hatten im Kern die reformatorische Dialektik von Evangelium und Gesetz, näherhin die Dialektik von Glaube und Gehorsam zum Gegenstand.

Das reformatorische Denken verwirft zunächst die Vorstellung, der christliche Glaube sei ein Bündel materialer Dogmen (Evangelium), das als allgemeine Wahrheit vorgegeben, und der christliche Gehorsam sei ein Bündel materialer Pflichten (Gesetz), das als allgemeine Praxis gefordert wäre. Das reformatorische Denken verwirft aber vor allem auch die Vorstellung, durch Glaube im material-dogmatischen und Gehorsam im material-moralischen Sinne könne sich der Mensch Gott annähern und angleichen, sich ihm (transzendenzwirksam) gerecht machen. Gott einerseits, Dogma und Moral andererseits treten also insofern auseinander, als dass Dogma und Moral nicht mehr substanzielles Instrument zur Gottesannäherung von Sein und Existenz, schon gar nicht Instrument zur Gewährleistung jenseitiger Gottesgemeinschaft sein können. Dogma und Moral erfahren damit zunächst eine absolute Entwertung und Diskreditierung.
Im reformatorischen Denken ist jedoch weder die Annahme einer spezifisch christlichen Wahrheit noch die Forderung einer spezifisch christlichen Praxis aufgegeben. Glaube und Gehorsam werden nicht beliebig, vielmehr sind im reformatorischen Denken, recht begriffen, die Materie christlichen Glaubens und die Materie christlichen Gehorsams deutlich geschärft, zugleich sind die Forderung spezifischen Glaubens und die Forderung spezifischen Gehorsams deutlich verschärft. Glaube und Gehorsam verlieren dabei ihren instrumentellen Charakter und werden zu unbedingten Zwecken an sich.
Nach der Entwertung und Diskreditierung von Dogma und Moral wird nun allerdings höchst fragwürdig, was material zu glauben und was material zu tun ist. Als gemeinsame Quelle von Glaubens- und Gehorsamsmaterie gilt die Schrift, und hier insbesondere Christus als die Mitte der Schrift. Damit ist aber der Streit um Glaube und Gehorsam nicht beigelegt, sondern allererst entfacht. Jenseits allgemeiner dogmatischer und moralischer Vorgaben lässt sich über das, was Schrift und Christus sind und meinen, was mit ihnen gegeben und gefordert ist, trefflich streiten. An diesem Streit zerbricht die reformatorische Bewegung und zerfasert in unzählige protestantische Kulturen: am Streit um Materie und Verhältnis von Evangelium und Gesetz, von Interpretation und Praxis, von Glaube und Gehorsam.
Die reformatorische Bestimmung und Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz leistet eine Wiederannäherung an paulinisch-messianisches Denken, allerdings eine unvollständige, eine nach wie vor verunreinigte. Es gelingt dem reformatorischen Denken noch nicht, sich der römisch-christlichen Dogmatisierung und Moralisierung von Glaube und Gehorsam restlos zu entwinden. Ein nicht mehr dogmatischer Begriff des Glaubens und ein nicht mehr moralischer Begriff des Gehorsams werden erst wieder möglich durch eine radikale Ontologisierung und Existenzialisierung dieser Begriffe – und dies im reservativen Sinne.
Damit meine ich: Evangelium muss als Bezeichner einer ganz anderen, unbekannten und unzugänglichen Gotteswirklichkeit und Gottesexistenz, Gesetz muss als Bezeichner der bekannten und zugänglichen Weltwirklichkeit und Weltexistenz begriffen werden. Mit dem ontologisch-existenzial begriffenen Evangelium sind dem Glauben keine Substanzen, keine materialen Dogmen gegeben. Die (uneigentliche) Substanz des Evangeliums ist ein einziges (uneigentliches) Dogma: Weltwirklichkeit und Weltexistenz sind als aufgehoben und überwunden, als ungültig (als ob nicht) zu glauben. Dieses (uneigentliche) Dogma macht es dem Gehorsam unmöglich, dem ontologisch-existenzial begriffenen Gesetz Substanzen, materiale praktische Regeln und Pflichten zu entnehmen. Mit dem (uneigentlichen) Dogma des ontologisch-existenzial begriffenen Evangeliums ist zugleich eine einzige (uneigentliche) moralische Norm, eine einzige (uneigentliche) praktische Pflicht gegeben: Gebrauche das Gesetz, gebrauche Weltwirklichkeit und Weltexistenz praktisch so, als wären sie aufgehoben und überwunden, als wären sie ungültig (als ob nicht).
Die reservative Ontologisierung und Existenzialisierung von Evangelium und Gesetz hat dramatische Konsequenzen. Zunächst und vor allem aber ist mit ihr gesagt: Der Glaube speist sich nicht mehr aus vorgegebenen materialen Dogmen, materiale Dogmen können ihn nicht mehr stützen und absichern. Der Gehorsam speist sich nicht mehr aus einer vorgegebenen materialen Moral, eine materiale Moral kann ihn nicht mehr stützen und absichern. Glaube und Gehorsam werden zu einem total entsicherten und ungeschützten Akt des (reservativen) Willens. Das ist einerseits eine radikale Befreiung zu totaler Mündigkeit, das ist andererseits aber auch eine radikale Zumutung totaler Mündigkeit.

Nachbemerkung: Gerade in der Theologie Bonhoeffers lässt sich eine zunehmende Wiederontologisierung und Wiederexistenzialisierung von Evangelium und Gesetz beobachten, insbesondere in Bonhoeffers zunehmender Radikalisierung der Bestimmung und Verhältnisbestimmung von Christuswirklichkeit und Weltwirklichkeit. Diesen Impuls nicht wahrzunehmen oder ihn nicht ernst zu nehmen – das ist wohl das wesentliche Versäumnis der Bonhoeffer-Interpretationen bis heute.

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