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Dienstag, 14. November 2017

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In meinem wirtschaftsethischen Seminar vergangene Woche einer dieser leider allzu seltenen Momente, in denen im Diskurs die Annäherung an eine relevante Gegenwartsdiagnose gelingt.

Gegenstand der Sitzung: das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, seine weltanschaulichen Voraussetzungen und Strukturmerkmale. Wir stellen fest, dass die Soziale Marktwirtschaft (wie auch andere Konzepte, die der jungen Bundesrepublik Deutschland nach Weimar und Nationalsozialismus den Weg bereiten) zwei Feinde zu bekämpfen versucht: den zügellosen Individualismus einerseits und den zügellosen Kollektivismus andererseits. Positiv formuliert: Die marktwirtschaftliche Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft zielt auf Individualität, ihre soziale Ordnung zielt auf Kollektivität. Dem Individuum soll es möglich sein, seine Interessen frei zu verfolgen, es soll aber zugleich einen Rahmen vorfinden, der es sittlich bindet, der es ins Kollektiv einbindet. Freiheit und Sittlichkeit zugleich, beides zur Förderung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes – wobei Wohlstand vor allem nicht-materiell begriffen wird. Materieller Wohlstand ist natürliche Folge und willkommenes Beiwerk der Sozialen Marktwirtschaft. Nicht mehr.
Schon erste, oberflächliche Analysen fördern zu Tage, dass da etwas nicht passt im Vergleich zwischen Konzept und Gegenwart der Sozialen Marktwirtschaft. Ganz offensichtlich ist der Gedanke der Sittlichkeit verloren, nicht mehr präsent. Das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft steht heute nicht mehr für Kollektivbindung, sondern bloß noch für die Forderung nach Gerechtigkeit, verstanden als Erwartung an den Staat, die Marktrisiken abzusichern und die Marktergebnisse umzuverteilen. Diese Forderung ist natürlich auch schon im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft enthalten, hier ist sie jedoch nachrangig. Vorrangig ist das nicht-materielle Vorhaben der Sittlichkeitsproduktion, und dieses Vorhaben ist offenbar gescheitert. Unter Bedingungen der Sozialen Marktwirtschaft entsteht ein deutliches Sittlichkeitsdefizit, ein Defizit kollektiver Bindung. Anders und zugespitzt formuliert: Das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft ist heute leer. Der Begriff des Sozialen greift ins Leere, begreift nichts mehr.
Nun könnte man annehmen, die aufgerissene Sittlichkeitslücke ließe sich durch nach- und aufholende Sittlichkeitsproduktion schließen. Und tatsächlich haben diese Annahme und dieses Produktionsvorhaben Konjunktur. Wirtschaftsethik, insbesondere Unternehmensethik, „Corporate Compliance“ und „Corporate Social Responsibility“ boomen. In Theorie und Praxis. Allerdings: Der Mangel der Sozialen Marktwirtschaft ist fundamentaler Natur. Mit ein bisschen Ethik lässt sich diesem Mangel nicht abhelfen. Im Gegenteil: Ethik, insbesondere Unternehmensethik, wie sie gegenwärtig auf dem Markt ist, trägt nicht unerheblich bei zur weiteren Entleerung der ersten Idee der Sozialen Marktwirtschaft, zu ihrer praktischen Aushöhlung.
Das fundamentale Problem der Sozialen Markwirtschaft ist das Problem der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Diese Gesellschaft ist heute nicht mehr ein sittliches Kollektiv von freien Individuen, sondern ein hoch komplexes System (Luhmann), das sich funktional ausdifferenziert hat und in dem das ökonomische Teilsystem mit seiner spezifischen ökonomischen Logik den Primat beansprucht. Der materiellen ökonomischen Logik, der Logik der Maximierung und der Effizienz, müssen sich zuletzt alle anderen, gerade auch die nicht-materiellen Logiken beugen. Auch die erste Logik der Sozialen Marktwirtschaft. Übler noch: Die Soziale Marktwirtschaft ist mittlerweile Teil des ökonomischen Teilsystems, ist gewissermaßen einfunktionalisiert. Die marktwirtschaftliche Ordnung dient nicht mehr der individuellen Freiheit, die soziale Ordnung dient nicht mehr dem sittlichen Kollektiv im ursprünglichen Sinne. Beide Ordnungen zielen allein noch auf Maximierung und Effizienz. Freiheit und Sittlichkeit sind damit auch einfunktionalisiert. Als frei gelten Individuen, als sittlich gelten Kollektive, wenn und insofern sie zu Maximierung und Effizienz beitragen. Andere Freiheiten und andere Sittlichkeiten sind nicht erwünscht, werden nicht geduldet, werden durch das System abgestoßen und ausgeschlossen.

Gemessen an dem, was ihre Konstrukteure im Sinn hatten, ist Soziale Marktwirtschaft damit heute nichts anderes als eine inhaltsleere, ökonomisch funktionalisierte Phrase. Gegen zügellosen Individualismus und gegen zügellosen Kollektivismus angetreten, ist Soziale Marktwirtschaft heute funktionaler Teil eines zügellosen ökonomischen Systems, einer zügellosen ökonomischen Logik. Und dieser Schaden lässt sich tatsächlich nicht mit ein bisschen Ethik beheben. Hier hilft allein noch eine fundamentale Entkoppelung, eine weltanschauliche und lebenspraktische Entkoppelung von Individuen und Kollektiven.

Ein Nachsatz (auch das war kurz Gegenstand der Seminarsitzung war): Entkoppelung meint hier nicht eine revolutionäre Entkoppelung, wie sie etwa in Alain Badious "Versuch, die Jugend zu verderben" vorbereitet wird. Gemeint ist, wie könnte es anders sein, eine reservative Entkoppelung.

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