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Donnerstag, 27. April 2017

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Die heutige Tageslosung – eine dieser eindrücklichen biblischen Verheißungen, an denen sich der religiös Glaubende aufrichtet und festhält: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht (Jes 43,18/19)?“

Biblische Verheißungen in christlich-religiöser Deutung verweisen nicht etwa, wie üblicherweise angenommen, vor allem auf eine transzendente Wirklichkeit, sondern auf eine kommende, werdende Weltwirklichkeit. Biblische Verheißungen, insbesondere die Verheißungen der hebräischen Überlieferung, sind zunächst historisch eingebettet und insofern einzigartig. Sie lassen sich allerdings theologisch entbetten und so gewissermaßen vergegenwärtigen. Sie lassen sich dann entweder begreifen und wahrnehmen als Verheißungen an sich, oder als Verheißungen für mich. Verheißungen an sich stellen das Werden einer allgemein ersehnten Weltwirklichkeit, Verheißungen für mich stellen das Werden einer vom Einzelnen ersehnten Weltwirklichkeit in Aussicht.
Wer sich ernsthaft, geradezu existenziell christlich glaubend auf biblische Verheißungen einlässt, der lässt sich auf einen harten Kampf mit Raum und Zeit ein, auf einen Kampf, dessen Ausgang im Weltwirklichen völlig offen und zufällig ist, auf einen Kampf, der spätestens im Tod als verloren aufgegeben werden muss. Ich selbst habe mich, noch religiös glaubend, immer wieder existenziell auf Verheißungen für mich, auf den glaubenden Kampf mit Raum und Zeit eingelassen und bin wieder und wieder existenziell enttäuscht worden – zuletzt in jener Phase des Umbruchs, in der meine heutige, reservative Interpretation vorbereitet wurde. In dieser Zeit habe ich eine Weile Tagebuch geführt, habe in den Einträgen, noch ganz im christlichen Paradigma gefangen, nicht zuletzt mit meinen angenommenen Verheißungen für mich gerungen, mit Verheißungen, die zuletzt nicht weltwirklich geworden sind. Einige Beispiele dieses Ringens will ich hier wiedergeben – einerseits, um die (not-wendige) Verzweiflung anzudeuten, die sich darin anbahnt, andererseits, um zu zeigen, wie im verzweifelten Ringen Begriffe auftauchen, die jenseits der Verzweiflung (anders gewendet) befreiend relevant werden (etwa der Gedanke des als ob):

Eintrag vom 12. November 2005: „Mit der Verheißung empfangen wir zugleich, wir haben, besitzen, nehmen teil. Die Verheißung versetzt uns in ein neues Sein, in einen Zustand der Teilhabe, in einen Zustand des ‚schon jetzt’. Aber: Verheißung ist immer offenbartes Letztes, entbehrt zunächst immer der Gegenständlichkeit, ist nicht greifbar im Vorletzten. Was mir verheißen ist, gehört mir also ganz und ist doch nicht mein. Mein ‚wird’ es erst. Das Werden des Verheißenen im Vorletzten ist immer Kampf. Das für das Vorletzte Verheißene muss immer durch einen Prozess der Vergegenständlichung hindurch. Vergegenständlichung heißt: in Raum und Zeit Wirklichkeit werden. Raum und Zeit sind also die großen ‚Aufhalter’ (Katechon) des Verheißenen. Als Empfänger der Verheißung ‚bin’ ich damit immer schon in der Verheißung, muss aber immer auch durch die Vergegenständlichung des Verheißenen hindurch. Diesen Prozess darf ich nicht abzukürzen versuchen (Hagar), und ich muss mich vorsehen, nicht in Hass gegen Raum und Zeit zu verfallen. Raum und Zeit sind starke Gegner. Gegen Raum und Zeit vermag allein der Glaube zu siegen (als besonders tragisch empfinde ich es, wenn das Verheißene mir schon vergegenständlicht vor Augen steht – ich es aber nicht ergreifen darf, weil auch das Ergreifen Raum und Zeit hat, auch dem Ergreifen muss der Kampf vorausgehen – Israel vor dem verheißenen Land, aber dann erst 40 Jahre Wüste).“
Eintrag vom 18. November 2005: „Darf ich Verheißungen, deren Vergegenständlichung offenbar noch durch Jahre hindurch muss, einfach ‚zurückstellen’? Ist das nicht Unglaube? Was macht der Glaube in der Zwischenzeit, was macht er zwischen den Zeiten, zwischen den Welten (und nur hier können wir ja von Glauben sprechen)? Was macht der Glaube, wenn er weiß, dass ihm das, was ihm verheißen ist, noch nicht gegeben wird? Was heißt hier ‚Gleichzeitigkeit’? Was macht der Glaube, wenn sein Blick, wenn seine Konzentration auf das Verheißene ihn daran hindern will, zunächst das Gegebene zu leben? Reißt der Glaube mich aus dem Jetzt heraus, oder bindet er mich nicht vielmehr an das Jetzt – bei gleichzeitiger Hoffnung? Kann und darf ich leben im festen Glauben an, im energischen Vertrauen auf die Verheißung, gleichzeitig aber so, ‚als ob’ mir keine Verheißung gegeben wäre?“
Eintrag vom 22. November 2005: „Was hat Noah gehört, gesehen, gefühlt, geträumt, als Gott ihm den Auftrag gab, die Arche zu bauen? War die Wahrnehmung der Verheißung so deutlich und eindeutig, dass sie ihn durch die Jahre getragen hat? Oder beginnt das, was wir Glaube nennen, nicht schon in der Annahme einer Wahrnehmung (in welcher Form auch immer sie an uns herantritt) als Verheißung? Ist dies nicht der erste Schritt des Glaubens: Annahme des Unsicheren, des Unglaublichen, des Unmöglichen als sicher, als glaublich, als möglich? Und: Im Unterschied zu Abraham war die Vorbereitung auf das Verheißene (die Rettung) für Noah nicht nur Warten – er hat durch den Bau des Rettungsmittels sehr konkret an der Vergegenständlichung der Verheißung mitwirken dürfen. Und schließlich: Die Erwartung des Verheißenen wird bisweilen durch ein ‚Unterpfand’ erleichtert – so ist uns der Geist gegeben als Unterpfand für das, worauf wir warten. Ich frage mich: Darf ich wirklich meine Wahrnehmung als Verheißung annehmen? Darf ich an der Vergegenständlichung der Verheißung mitwirken?“
Eintrag vom 4. Januar 2006: „Zwischen den Zeiten kann ich nur leben unter dem ‚als ob’. Ich empfange im Glauben, was künftig sein wird. Mir wird gegeben, was ich noch nicht habe und was durch den Prozess der raum-zeitlichen Vergegenständlichung hindurch muss. Um nun eben nicht in Hass gegen Raum und Zeit zu verfallen und um denen, die von dem, was ich glaube, unmittelbar betroffen sind, das Zusammenleben mit mir zu ermöglichen, bedarf es dessen, was ich barmherzige Selbstreduktion nenne. Ich reduziere mich selbst in meiner Erkenntnis und in meinen Empfindungen aus Barmherzigkeit gegenüber denen, die nicht haben, was mir im Glauben gegeben ist. Ich reduziere (‚erniedrige’) mich aber auch selbst, um überhaupt den Zustand des ‚noch nicht’ ertragen und leben zu können. Ich lebe also (vor allem im Sichtbaren), als ob ich von dem, was mir der Glaube gibt, nichts wüsste – nur damit ermögliche ich mir und anderen die ‚Zwischenzeit’. Damit tritt der paradoxe Zustand ein: Im Glauben halte ich mit aller Kraft an dem fest, was ich als Verheißung ergreife, zugleich lebe ich aber aus Glauben den Zustand des ‚als ob’ – und damit ist sichergestellt, dass ich mir nicht selbst zu verschaffen versuche, was ich allein empfangen darf und dass ich von der Erfüllung der Verheißung immer überrascht werde.“

Reservativer Glaube lässt das in diesen Einträgen angedeutete, verzweifelte irreführende Ringen um das Verheißene, um das Kommen von Weltwirklichkeiten befreit hinter sich. Was Verheißen ist, ist nichts Weltwirkliches, sondern ausschließlich eine ganz andere, nicht-wirkliche Gotteswirklichkeit. In dieser Gotteswirklichkeit dürfen alle angenehmen und unangenehmen, alle erwünschten und unerwünschten Weltwirklichkeiten losgelassen werden als ob nicht.
Damit ist nicht gesagt, dass wir uns an sich und für uns keine Weltwirklichkeiten mehr wünschen dürften. Damit ist auch nicht gesagt, dass wir für erwünschte Weltwirklichkeiten, wenn sie tatsächlich wirklich werden, nicht dankbar sein dürften. Eins muss heute aber wohl deutlicher denn je gesagt werden: Im Glauben an eine in der Gotteswirklichkeit aufgehobene und überwundene (ungültige) Weltwirklichkeit ist zugleich mitgeglaubt, dass die Weltwirklichkeit im Vergehen begriffen ist (1 Kor 7,31). Wir werden also an sich und für uns durch eine (letzte) Zeit hindurch müssen, in der wir immer weniger mit angenehmen oder erwünschten Weltwirklichkeiten rechnen können. So gesehen, reservativ gewendet, hat die heutige Tageslosung einen bitteren Beigeschmack: Wachstum des (ganz anderen) Neuen meint unangenehmes und unerwünschtes Vergehen des Wirklichen.

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