Der Mensch liegt nicht nur überall in Ketten, er ist auch in Ketten geboren. Der Mensch ist nicht natürlich frei, und seine Unfreiheit liegt nicht in seiner Vernunft oder der Kultur. Als Wirklichkeit ist der Mensch unfrei: als Naturwesen, als Vernunftwesen, als Kulturwesen. Er funktioniert: nach den Gesetzen der Natur, der Vernunft oder der Kultur. Diese Gesetze bedingen sich wechselseitig, ihre Rationalitäten sind immer nur an der Oberfläche durchschaubar und in Raum und Zeit alles andere als stabil. Wenn ich also sage, der Mensch liege nicht nur in Ketten, sondern sei auch in Ketten geboren, dann meine ich nicht, er habe gewissermaßen einen freien (göttlichen) Wesenskern, der zur Freiheit fähig wäre, den es zu befreien, dem es Freiheit zu verschaffen gälte. Der Mensch ist als Wirklichkeitswesen wesentlich unfrei. Sein Wesen ist die Unfreiheit. Das Wesen der Wirklichkeit insgesamt ist Unfreiheit.
Die Alten (vor allem Augustinus) haben die Unfreiheit des Menschen als peccatum originale zu fassen versucht. Die Übertragung dieses Symbols ins Deutsche ist recht unglücklich, denn gemeint ist nicht Erbsünde im Sinne einer vermachten fremden Schuld. Gemeint ist eine Ursünde, die das zur Folge hat, was Calvin haereditaria corruptio nennt: die erbliche Verderbnis, die vollständige und unauflösliche Zerrüttung der Natur – nicht nur der Natur des Menschen, sondern der Natur als Wirklichkeit überhaupt. Diese Zerrüttung ist so massiv, dass noch nicht einmal eine Vorstellung von dem entwickelt werden kann, was eine nicht korrumpierte Natur überhaupt sein soll.
In der christlichen Tradition hat das Symbol von Schöpfung, Fall und Erbsünde zumindest einen moralischen Beigeschmack. Mit diesem Beigeschmack ist die Natur des Menschen im Sinne seiner Leidenschaften pauschal diffamiert, die Vernunft des Menschen und die durch sie vermeintlich mögliche Freiheit im Sinne einer Herrschaft der (kultivierenden) Moral über die Leidenschaften sind dagegen pauschal überschätzt (Rousseau kehrt die Werturteile über Natur und Vernunft um – was nicht weniger falsch ist).
Angesichts dessen, was wir heute über die Gesetze der Natur und der Vernunft wissen, könnte es uns gelingen, aus dieser irreführenden Dialektik auszusteigen. Sünde und Erbsünde könnten ihren moralischen Beigeschmack verlieren und als Begriffe wahrgenommen werden, die Wirklichkeit schlicht zu beschreiben versuchen – als eine Wirklichkeit der Unfreiheit. Damit wäre allerdings unmittelbar ein anderer Freiheitsbegriff gefordert, ein Freiheitsbegriff jenseits der Dialektik von Natur und Vernunft. Die mit diesem Begriff gegebene Freiheit wäre dann nicht mehr als (mögliche) Wirklichkeit zu verstehen. Sie könnte nur eine fiktionale unfreie Freiheit sein, ein geglaubtes als ob nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen