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Donnerstag, 6. April 2017

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In den vergangenen Tagen denke ich immer wieder über die Figur des Gastes nach – im Sinne Paul Gerhardts Gast auf Erden. Mit Gerhardt hat der Gast im Weltwirklichen keinen Stand, ist also nirgendwo weltwirklich befestigt, ist keiner Ordnung unterworfen, gehört zu keiner spezifischen gesellschaftlichen Schicht oder Gruppierung. Der Gast will treiben sein Leben durch die Welt, denkt aber gar nicht daran, zu bleiben in diesem fremden Zelt. Denn diese Herberg ist zu böse und sie ist nicht sein rechtes Haus.

In Paul Gerhardts Figur des Gastes kommt vieles von dem zusammen, was reservative Existenz ausmacht. Der Gast im reservativen Sinne existiert wirklich und ganz in der Weltwirklichkeit, ist selbst Weltwirklichkeit. Und doch existiert er – paradox – als Fremder in der Fremde unter fremden Bedingungen. Diese Bedingungen binden ihn, nötigen ihn, zwingen ihn – sie mögen als Naturgesetze (Krankheit), als Kulturgesetze (Moral, Recht) oder in welcher Form auch immer auf ihn zugreifen. Und doch sind diese Bedingungen nicht seine Bedingungen. Er ist ihnen gewissermaßen nur auf der Durchreise ausgeliefert, und im Glauben als ob nicht ist er ungeachtet alles weltwirklichen Scheins schon jetzt frei von ihnen.
An Gerhardts Figur des Gastes hat mich eine Überlegung John Wesleys erinnert, die Max Weber geradezu als Motto der Protestantischen Ethik präsentiert. Sich als Gast zu interpretieren, fällt Gerhardt insofern leicht, als dass er aus der Perspektive einer erfahrungsgesättigten Wirklichkeitsmüdigkeit formuliert (die man durchaus auch als negative Wirklichkeitsabhängigkeit begreifen kann). Wesley reflektiert dagegen den tragischen Sog positiver Wirklichkeitsabhängigkeit, in den jeder Gast auf Erden hineingezogen werden kann – einen Sog, der das fremde Zelt unversehens zur Heimat werden lässt: „Ich fürchte: wo immer der Reichtum sich vermehrt hat, da hat der Gehalt an Religion in gleichem Maße abgenommen. Daher sehe ich nicht, wie es, nach der Natur der Dinge, möglich sein soll, daß irgendeine Wiedererweckung echter Religiosität lange Dauer haben kann. Denn Religion muß notwendig sowohl Arbeitsamkeit als Sparsamkeit erzeugen, und diese können nichts anderes als Reichtum hervorbringen. Aber wenn Reichtum zunimmt, so nimmt Stolz, Leidenschaft und Weltliebe in all ihren Formen zu. Wie soll es also möglich sein, daß der Methodismus, das heißt eine Religion des Herzens, mag sie jetzt auch wie ein grünender Baum blühen, in diesem Zustand verharrt? Die Methodisten werden überall fleißig und sparsam; folglich vermehrt sich ihr Güterbesitz. Daher wachsen sie entsprechend an Stolz, Leidenschaft, an fleischlichen und weltlichen Gelüsten und Lebenshochmut. So bleibt zwar die Form der Religion, der Geist aber schwindet allmählich. Gibt es keinen Weg, diesen fortgesetzten Verfall der reinen Religion zu hindern? Wir dürfen die Leute nicht hindern, fleißig und sparsam zu sein. Wir müssen alle Christen ermahnen, zu gewinnen was sie können und zu sparen was sie können, das heißt im Ergebnis: reich zu werden.“

Es ist auch Webers These, dass in der säkularen (kapitalistischen) Moderne genau das stattgefunden hat, was Wesley so hellsichtig ahnt: Der Geist ist entwichen, die Weltwirklichkeit ist zur ausschließlichen Heimat geworden und hat sich des Menschen absolutistisch bemächtigt. Wie nun wieder Gast werden in einer Welt, die für uns alles geworden ist?

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