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Mittwoch, 8. März 2017

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Mit Wilhelm Hennis habe ich mich gestern noch einmal der Fragestellung Max Webers angenähert. Ich halte es für sinnvoll, zwischen Annahme und Frage zu unterscheiden. Ein Versuch.

Weber nimmt ganz allgemein einen Zusammenhang an zwischen praktisch-normativ gerichteter (religiöser) Wirklichkeitsinterpretation einerseits und Kultur andererseits – Kultur begriffen als mächtiges Gehäuse, errichtet aus spezifischen Rationalitäten der Lebensführung.
Ausgehend von dieser Annahme stellt Weber die fundamentale Frage, welche Interpretation (er spricht noch von Idee) welche Kultur gebiert. Insbesondere interessiert ihn der mögliche Zusammenhang zwischen christlicher, näherhin protestantischer Interpretation und okzidentaler Kultur – wobei er diese Kultur als weitgehend sinnentleerte universale Maschine wahrnimmt, die gerade auch in ihrer entfesselten ökonomischen Dynamik übermächtig zu werden droht.
Was ist Webers Antwort? Ganz grundsätzlich: Gegen die idealistische und gegen die materialistische Perspektive lässt sich sagen, dass Interpretationen durch die Geschichte hindurch keine Linie zeichnen können. Interpretationen gebären durchaus Kulturen, die ihrer Intention zuwider sind. Interpretationen treffen immer auf Bedingungen, und durch diese Bedingungen werden Interpretationen selbst, aber auch die mit Interpretationen gegebenen Haltungen und Praktiken unberechenbar umgeformt. Es wachsen Kulturen heran, die überaus mächtig sein können, gerade aber durch ihre Übermacht neue Interpretationen provozieren, deren Gang durch die künftige Geschichte wiederum unbekannt und unberechenbar ist.

Ob sich hinter Webers (fachmännischer) Frage die existenzielle Frage nach einer Interpretation verbirgt, die den Menschen dazu ermächtigen könnte, sich nicht zuletzt der Übermacht von Kultur zu entziehen, die Frage nach einer Interpretation, an der die Macht der Weltwirklichkeit überhaupt zerbricht – das kann ich nicht sagen. Webers eigene (fachmännische und private) Lebensführungspraxis scheint dem zumindest zu widersprechen.
Die existenzielle Frage ist jedenfalls meine eigene Frage. Und für die Beantwortung dieser Frage ist mir Max Weber unschätzbar wertvoll geworden. Er ist es, der mich auf den Zusammenhang von Interpretation und Macht aufmerksam gemacht hat – wobei es mir selbst existenziell eher um die Macht in der Kultur, Weber kultursoziologisch eher um die Macht der Kultur geht. Und Weber hat mir die faszinierend paradoxe Kulturentwicklung der christlichen, insbesondere der reformatorischen Interpretation zugänglich gemacht: Ob man das frühe römische Großchristentum und seine Interpretation (wohlwollend) eher als Versuch deutet, die eschatologische Spannung zwischen Weltwirklichkeit und Gotteswirklichkeit aufrecht zu erhalten, oder ob man, wozu ich selbst neige, die großchristliche Interpretation eher als Versuch der repräsentativen Gottesverwirklichung im Weltwirklichen begreift – die kulturgeschichtliche Entwicklung des Christentums mündet so oder so im von Weber diagnostizierten stählernen Gehäuse moderner säkularer Rationalität.

Mich selbst provoziert die Existenz in diesem Gehäuse zu einer neuen (postsäkularen) Interpretation, die ich reservativ nenne. Dieser Interpretation versuche ich, in praktisch-normativer Absicht, mich zumindest in ersten Ansätzen und fragmentarisch anzunähern. In der Perspektive Webers gilt aber auch für die reservative Interpretation: Sollte sie für irgendjemanden irgendwie relevant werden, so wird das Ergebnis nicht das sein, was mir selbst vor Augen steht.

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