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Mittwoch, 9. August 2017

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Denken im eigentlichen Sinne hat immer den Willen des Einzelnen zum Gegenstand. Alles (uneigentliche) Denken, das den Willen des Einzelnen nicht unmittelbar zum Gegenstand hat, muss ihn zumindest mittelbar zum Gegenstand haben, muss also dem eigentlichen Denken irgendwie dienlich sein. Andernfalls ist es überflüssiges und damit verzichtbares Denken.

Wille ist einerseits die Fähigkeit, andererseits die Notwendigkeit des Menschen, sich in der Wirklichkeit zu bestimmen. Bestimmen kann und muss der Einzelne einerseits seine Haltung gegenüber der Wirklichkeit, andererseits sein Handeln in der Wirklichkeit. Denken im eigentlichen Sinne reflektiert die Bestimmung von Haltung und Handlung. Dabei sucht das Denken einerseits das Wie (Form), andererseits das Was (Substanz) dieser Bestimmung. Denken läuft immer auf eine Qualifikation der möglichen Bestimmungen von Haltung und Handlung hinaus, auf eine Qualifikation als richtig oder falsch, als gut oder böse, auf eine Qualifikation des Willens als richtig und gut oder als falsch und böse.

Gedacht wird immer unter der Bedingung dessen, was wir Wirklichkeit oder Welt (Weltwirklichkeit) nennen. Wirklichkeit ist das, was der Fall ist, ist die Gesamtheit aller Tatsachen (Wittgenstein). Einzelne Tatsachen können zu komplexen Tatsachenbündeln zusammengefasst werden. Es lassen sich Tatsachenbündel benennen und unterscheiden, die in besonderer Weise Einfluss nehmen auf den Willen des Einzelnen, auf die Bestimmung von Haltung und Handlung. Wesentliche Tatsachenbündel sind:

(1) Existenz: der natürliche Mensch, die natürliche Konstitution und Disposition des Menschen

(2) Dasein: die natürlichen Dinge, die natürliche Konstitution und Disposition der Dinge

(3) Kultur: die geschaffenen Dinge, die ideologisch und technologisch konstruierten Dinge

(4) Milieu: der geschaffene Mensch, der familial und sozial gebildete Mensch

(5) Ereignis: natürliche und geschaffene Emergenzen, unberechenbare und unverfügbare Widerfahrnisse

Die fünf Tatsachenbündel wirken auf den Willen des Einzelnen mit dem ein, was üblicherweise als Gesetz bezeichnet wird. Grundsätzlich lassen sich zwei Gesetzesarten unterscheiden:

(1) natürliche Gesetze, die sich dem Willen des Einzelnen durch natürliche Kausalitäten vermitteln

(2) geschaffene Gesetze, die sich dem Willen des Einzelnen durch habituelle oder sprachliche Sollensansprüche (Gründe) vermitteln

Gesetze der Existenz und des Daseins sind natürliche Gesetze, Gesetze der Kultur und des Milieus sind geschaffene Gesetze. Gesetze des Ereignisses können natürlich oder geschaffen sein. Natürliche wie geschaffene Gesetze konfrontieren den Willen des Einzelnen mit Geltungsansprüchen. Das (eigentliche) Denken muss sich mit diesen Ansprüchen auseinandersetzen, ist aber auch darum bemüht, ein eigenes Gesetz des Wollens, ein Gesetz für Haltung und Handlung des Einzelnen zu formulieren, das diese Ansprüche moderiert, einzelne Ansprüche möglicherweise sogar zurückweist oder gar außer Kraft setzt.

Ob und in welcher Weise das Denken dieser Aufgabe nachkommt, hängt von zahlreichen Vorannahmen ab, über die im Vorfeld der Formulierung eines Gesetzes des Wollens entschieden werden muss. Grundsätzlich ist vorab zu entscheiden, wie Wirklichkeit überhaupt begriffen werden soll. Es gehört zur Eigentümlichkeit des Menschen, dass er Wirklichkeit wahrnimmt (Bewusstsein) und dass er nicht anders kann, als das Wahrgenommene zu interpretieren (Vernunft). Die Interpretation des Wahrgenommenen kann von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Vorausgesetzt werden kann etwa, dass neben der wahrgenommenen Wirklichkeit auch noch eine andere oder gar ganz andere Wirklichkeit (Transzendenz) gegeben sein soll. Angenommen werden kann auch, die wahrgenommene Wirklichkeit sei ewig oder endlich, kosmisch oder chaotisch, sinnvoll oder sinnlos.

Mit den Voraussetzungen, die im Feld der Wirklichkeitsinterpretation gemacht werden, sind zugleich Vorannahmen gegeben, die dem (eigentlichen) Denken zum Zweck der Bestimmung von Haltung und Handlung die Richtung weisen. Wegweisend sind die interpretatorisch vorgeprägten Vorannahmen vor allem für Entscheidungen in folgenden Fragen:

(1) Bestimmtheit und Bestimmbarkeit des Willens (Freiheit)

(2) Bedeutung und Verhältnis der verschiedenen natürlichen Gesetze

(3) Bedeutung und Verhältnis der verschiedenen geschaffenen Gesetze

(4) Bedeutung und Verhältnis von natürlichen und geschaffenen Gesetzen

(5) Vorhandensein eines (höheren) Gesetzes außerhalb natürlicher und geschaffener Gesetze

(6) Herkunft, Beschaffenheit und Vermittlung dieses (höheren) Gesetzes

(7) Partikularität oder Universalität dieses (höheren) Gesetzes

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