Meine eigenen Eltern waren in meinem eigenen Annäherungsprozess begleitend präsent, und dies durchaus restriktiv. In unserer damaligen religiösen Sprache haben sie mich dazu genötigt, mir über meine eigene Geschlechtlichkeit im Gegenüber zur anderen, weiblichen Geschlechtlichkeit, mir über meine eigenen Vorstellungen wechselseitiger partnerschaftlicher Verantwortung Aufklärung zu verschaffen. Die Besonderheit dieser zur Selbstaufklärung drängenden Begleitung lag wohl darin, dass Elternwort als Gotteswort galt (Karl Barth). Das habe ich damals selbst so verstanden und habe es gegen alles Unbehagen, oft widerstrebend so anerkannt. Das haben damals aber auch meine Eltern so wahrgenommen, nicht jedoch im Sinne einer Ermächtigung, sondern im Sinne einer zur verantwortlichen Begleitung verpflichtenden Last.
Dynamik und Ergebnis dieser Konstellation lassen sich in schlichten psychoanalytischen Begriffen wohl so beschreiben: Das mir in meiner Annäherung an die Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft gegenübertretende Über-Ich war stark und restriktiv, die zu Selbstaufklärung und Verantwortlichkeit verpflichtende Pointe seines Geltungsanspruchs war allerdings werbend und überzeugend. In mir selbst hat die Auseinandersetzung mit diesem Über-Ich ein starkes Ich heranwachsen lassen, das Geschlechtlichkeit und Partnerschaft mittlerweile eigenständig aufgeklärt und verbindlich zu praktizieren vermag. Irritierend und erschütternd war allein jener (lebensgeschichtlich notwendige) Moment, waren allein jene Jahre, in denen sich mir das Über-Ich entzogen hat und das Ich plötzlich allein in der Pflicht stand. Die eigentümliche Herausforderung lag in meinem Falle darin, dass sich der einst durch meine Eltern repräsentierte Gott in kürzester Zeit verflüchtigt hatte, nicht mehr wirklich war. In dieser Lage hat mir geholfen, dass mich die Gleich-Gültigkeit der Interpretationen und Lebensformen wenig überzeugt und dass ich den heute üblichen Versuchen der Selbstrepräsentation im Sinne einer schlichten Naturrepräsentation misstraue. Aber auch dies, die Verdächtigung jeder Gleich-Gültigkeit und der Argwohn gegenüber meiner eigenen Natur, ist ja auch und gerade Wirkung jenes Über-Ichs, das meine Eltern mir zur Verfügung gestellt haben.
Heute müssen und können wir bei der aufklärenden Begleitung unserer Kinder im Prozess ihrer Annäherung an die Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft nicht mehr auf religiöse Symbole zurückgreifen. So müssen und können wir nicht mehr von Sünde sprechen. Der Begriff ist (vielleicht mehr denn je) moralisch einfunktionalisiert und daher für die Zwecke Aufklärung und Verantwortung geradezu verbrannt. Wir können auch nicht mehr ohne weiteres einen repräsentierbaren Gott und ein repräsentatives Gotteswort als Über-Ich einführen. Der repräsentationsfähige Gott ist heute verloren.
Wir können und müssen aber, im Sinne einer Ontologisierung und Existenzialisierung des Sündenbegriffs, unsere Kinder durchaus umfassend über die zahlreichen Kausalitäten aufklären, die gerade in der Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft ineinander greifen, die sich ergänzen und verstärken, die sich reiben und schwächen und die sich sogar widersprechen können.
Und wir können und müssen unsere Kinder immer wieder erinnern und ermahnen, sich auf die Suche nach einer Interpretation der Weltwirklichkeit zu begeben, die sie gerade im Strudel der Kausalitäten von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft innerlich und äußerlich zu stabilisieren und zu festigen vermag. Denn gerade in diesem Strudel wird ja, im Blick auf die Sicherung unserer engsten sozialen Beziehungen, vor allem unserer familialen Milieus, die drängende Frage unserer Gegenwart besonders drängend: Was hält uns, woran halten wir uns als Einzelne, als Partner, als Familien fest, wenn uns nichts mehr zur Verfügung steht, was sich repräsentieren ließe, nichts Weltwirkliches und nichts Gotteswirkliches, nichts Sichtbares und nichts Unsichtbares?
Eine haltbare und haltende Antwort auf diese Frage werden unsere Kinder nur dann finden können, wenn wir sie im Prozess ihrer Annäherung an die Praxis von Geschlechtlichkeit und Partnerschaft aufmerksam begleiten und ihnen ein starkes (nicht mächtiges oder gar übermächtiges) Über-Ich zur Verfügung stellen, das sie zu Selbstaufklärung und Verantwortlichkeit drängt, an dem sie sich interpretierend und praktisch abarbeiten und aufrichten können. Dieses Über-Ich muss und wird früher oder später das Feld räumen. Aber die Erwartung eines starken Ichs, dass dann das Steuer übernimmt, scheint allein gerechtfertigt, wenn das Über-Ich zuvor präsent war.
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