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Donnerstag, 13. April 2017

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Einer der Texte, die mich bleibend beeindruckt haben und an die es gelegentlich zu erinnern gilt, ist der Essay Zwischen den Zeiten von Friedrich Gogarten (1920). Wenn man diesen Text ernster nimmt, als ihn die Theologie der Krise selbst genommen hat, wenn man gewissermaßen bei ihm stehen bleibt und nicht über ihn hinauszuschreiten versucht, dann ist er (nach Nietzsches tollem Menschen) das wohl ergreifendste Manifest der nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeit (in die wir heute noch tiefer hineingerissen sind, als es 1920 der Fall war).

„Wir sehen die Zersetzung in Allem“, sagt Gogarten. „Das bedeutet dies: wir haben das feinste Gefühl für das Menschliche bekommen. […] Wir sind alle so tief in das Menschsein hinein geraten, daß wir Gott darüber verloren. Ihn verloren. Ja, wirklich verloren; es ist kein Gedanke mehr in uns, der bis zu ihm reicht. Sie reichen alle nicht über den menschlichen Kreis hinaus. Nicht ein einziger.“
„Noch können wir Gott nicht denken. Aber wir erkennen immer deutlicher, was Er nicht ist, was Er nicht sein kann. Man kann uns nicht mehr täuschen und Menschliches für Göttliches nehmen. Es ist uns viel damit genommen, aber nichts, dem wir nachtrauern könnten. Denn das flimmernde Durcheinander von Göttlichem und Menschlichem in allen unseren Gedanken, Worten und Werken war uns zu lange eine quälende Not. Und bliebe uns nichts als diese nur-menschliche Welt, schon das wäre uns eine Erlösung nach jenem elenden Versteckspielen, bei dem man nie wußte, was im gegebenen Augenblick nicht da sein durfte, das Menschliche oder das Göttliche.“
„Der Raum wird frei für das Fragen nach Gott. Endlich. Die Zeiten fielen auseinander und nun steht die Zeit still. Einen Augenblick? Eine Ewigkeit? Müssen wir nun nicht Gottes Wort hören können? Müssen wir nun nicht Seine Hand bei Seinem Werk sehen können? Darum können wir nicht, dürfen wie noch nicht von der einen Zeit zur anderen gehen. So sehr es uns auch zieht. Erst muß hier die Entscheidung gefallen sein. Vorher können wir nichts mit ganzem Herzen tun. Solange stehen wir zwischen den Zeiten. Das ist eine furchtbare menschliche Not.“
Es gilt „mit Entsetzen einzusehen, daß in der Lage, in der wir tatsächlich alle sind, auch wenn es bis heute nur Wenige erkannten, gute Vorschläge nicht mehr helfen können. Versteht man noch nicht, daß unsere Stunde (aber sie läuft nicht mit den anderen, den gewöhnlichen) wahrscheinlich die Stunde der Buße ist? – Oder kann man mit ein und demselben Atem Buße tun und sein Programm für das Kommende entwickeln? Hüten wir uns in dieser Stunde vor nichts so sehr, wie davor, zu überlegen, was wir tun sollen. Wir stehen in ihr nicht vor unserer Weisheit, sondern wir stehen vor Gott. Diese Stunde ist nicht unsere Stunde. Wir haben jetzt keine Zeit. Wir stehen zwischen den Zeiten.“

Im (nicht zuletzt protestantisch vorangetriebenen) Prozess des Werdens der säkularen Moderne geht Gott verloren, der christlich vermenschlichte Gott verflüchtigt sich in einem säkularen Allgemein-Menschlichen. Wer oder was Gott nun noch ist oder sein kann, ist zunächst einmal offen, lässt sich (noch) nicht denken. Dieser Zustand ist eine Erlösung, auch insofern, als dass er ein anderes Fragen nach Gott, ein Fragen nach einem (ganz) anderen Gott ermöglicht. Dieser Zustand zwischen den Zeiten muss ausgehalten, ertragen, darf nicht übersprungen werden. Es ist ein Zustand der Nicht-Zeit, der unendlich zusammengeschrumpften Zeit. Es ist der Zustand der Buße, der Umkehr, der denkenden und handelnden Abkehr vom menschlichen Gott, vom Gott des Menschlichen, vom Menschen als Gott.

Die Theologie der Krise, allen voran Karl Barth, hat diesen Zustand – und wer könnte dafür kein Verständnis aufbringen – nicht auszuhalten vermocht. Sie hat sich vom Sog einer vermeintlich anderen Zeit mitreißen lassen, hat Gott neu zu denken angefangen und, vom neu gedachten Gott ausgehend, mehr oder weniger ausführliche Programme für etwas Kommendes entwickelt, hat ein Sollen formuliert um zu. Das muss, spätestens in der zweiten und dritten Generation dieser Theologie, unvermeidlich in eine (fromme oder entmythologisierte) Neuvermenschlichung Gottes und in eine Neuvergöttlichung des Menschen münden.

Reservative Theologie, die Gott nicht mehr denkt, die allein noch die Weltwirklichkeit als in der Gotteswirklichkeit aufgehobene und überwundene, als ungültige Wirklichkeit denkt, ist dagegen eine (wenn man das so sagen kann) auf Dauer gestellte Theologie zwischen den Zeiten. Das Zwischen, die Nicht-Zeit, die unendlich zusammengeschrumpfte Zeit ist die einzige „Zeit“ des reservativ Denkenden und Handelnden. Reservative Existenz ist dauerhafte Existenz, dauerhaftes Stehen in der Nicht-Zeit (was sich, nebenbei bemerkt, deutlich unterscheidet vom Schweben in einer Jetzt-Zeit bei Benjamin und Agamben). Das „Ende“ der Nicht-Zeit ist unverfügbar, eine andere, neue Zeit kann nicht interpretatorisch und praktisch vorweggenommen, noch nicht einmal angebahnt werden. Es werden keine Programme mehr entwickelt, kein Sollen um zu. Reservative Existenz ist damit zum einen auf Dauer gestellte Buße, interpretatorische und praktische Abkehr von der Gotteswirklichkeit als Weltwirklichkeit, von der Weltwirklichkeit als Gotteswirklichkeit, zum anderen ist reservative Existenz auf Dauer gestellte Freiheit, interpretatorische und praktische Verungültigung der Weltwirklichkeit.

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