Politik ordnender Weltbesserung setzt immer auf Geltung und Anspruch. Sie sichert Ansprüche, die sich auf interpretatorisch gewonnene Gültigkeiten zurückführen lassen. Hinter der modernen, säkularen Weltbesserungspolitik lassen sich grundsätzlich zwei rational begründete Gültigkeiten ausmachen: die Gültigkeit eines anspruchslegitimierenden Ideals und die Gültigkeit eines anspruchslegitimierenden Kontextes. Ideale begründen nicht selten, etwa in der liberalen Theorie, Ansprüche und politischen Vorrang von Individuen, Kontexte begründen nicht selten, etwa in der kommunitaristischen Theorie, Ansprüche und politischen Vorrang von Kollektiven. Gültigkeiten und Ansprüche moderner Politik erscheinen heute fragwürdig. Kritisieren lassen sich vor allem ihre konfrontativen Schließungen. In das modern erzeugte Geflecht von Individuen und Kollektiven sind Ausschluss und Gewaltsamkeit unvermeidlich eingewoben. Moderne Politik ordnender Weltbesserung konserviert durch ihre individualistischen oder kollektivistischen Geltungsbehauptungen den Krieg – den Zustand des Krieges der Ansprüche in raum-zeitlicher Gemeinschaft von Individuen und Individuen, von Individuen und Kollektiven, von Kollektiven und Kollektiven.
Moderne Gültigkeits- und Anspruchspolitik ist in der jüngeren Vergangenheit nicht zuletzt von Jacques Derrida befragt worden. Sein dekonstruktiver Zugang zur Wirklichkeit eröffnet die Möglichkeit, die konstitutive Gewalthaltigkeit moderner Politik hell auszuleuchten. Derrida deckt auf, dass moderne Politik nichts anderes sein kann, als eine drohende, stets be- und verdrängende Politik der Feindschaft. Er sucht daher nach einem interpretatorischen Zugang zur Politik, durch den sich der innere Zusammenhang von politischer Ordnung und Gewalt aufzulösen beginnt. Derrida denkt eine Politik, die vom unbedingten Anspruch des immer kommenden Anderen ausgeht. Er denkt nicht mehr eine das Individuum oder das Kollektiv behauptende und damit unvermeidlich ausschließende Politik, sondern eine Politik des Empfangs, der Gastlichkeit, der Freundschaft. Der Preis, den Derrida für diese Politik bezahlt, ist hoch: Zugemutet ist eine politische Existenz, die in unendlicher Offenheit, in ewiger Nicht-Schließung verharrt. Diese Nicht-Schließung kann sich als anthropologisch überfordernd und als politisch gefährdend erweisen. Ihr wohnen die Nötigung zur Nicht-Identität und die Ohnmacht auch gegenüber dem destruktiven Anderen inne.
Ich selbst teile das Anliegen Derridas, die moderne Gültigkeits- und Anspruchspolitik zu überschreiten. Eine bloße Verschiebung von Geltung und Anspruch auf den oder die kommenden Anderen halte ich jedoch zumindest für unzureichend. Die konstitutive Feindseligkeit moderner Politik lässt sich nur durch eine Verabschiedung von Geltung und Anspruch, durch eine Verabschiedung auch der Politik ordnender Weltbesserung überwinden. Gelingen muss eine interpretatorische Zurücknahme von Gültigkeiten und Ansprüchen, die einerseits identitäts- und existenzsichernde Schließungen zulässt, die aber Individuen und Kollektive andererseits vom gewalthaltigen Geltungs- und Anspruchsdruck politischer Selbstbehauptung befreit und ihnen einen weiten Raum vorgelagerter politischer Elastizität und Beweglichkeit eröffnet. Angeregt durch die jüdisch-messianische Pauluslektüre Giorgio Agambens, sehe ich diese interpretatorische Wendung vorgezeichnet im paulinischen Denken der Ungültigkeit von Gültigkeiten und Ansprüchen. Dieses Denken begründet eine Politik der Ungültigkeit, die ich im Unterschied zur herkömmlichen, repräsentativen Politik reservativ nenne. Reservative Ungültigkeitspolitik ist nicht mehr religiös, nicht mehr säkular, wohl aber theologisch hinterlegt. Sie ruht auf einer reservativen Theologie der Welt.
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