Dieser Gedanke ist auch ein geeigneter Zugang zur Frage nach jenen geschlechtlichen Verbindungen, auch nach jenen familialen Milieus, die dem dauerhaften Zusammenbleibenkönnen einer größeren Gemeinschaft von Menschen zuträglich sind. Derzeit betreiben wir die Vergleichgültigung aller möglichen Geschlechter- und Familienkonstellationen, in Deutschland zuletzt unter dem Slogan „Ehe für alle“. Wir müssen uns allerdings gut überlegen, was wir damit aufgeben. Und wir müssen uns gut überlegen, ob wir damit tatsächlich Kontexte schaffen, die kommende Generationen zu einem dauerhaften Zusammenbleibenkönnen befähigen.
Man kann die Ehe als Verbindung eines Mannes und einer Frau, aus der leibliche Kinder hervorgehen und die sich so zur Familie erweitert, durchaus als moderne, bürgerlich-idealistisch-romantische Erscheinung begreifen, die ihre christlich-religiöse, insbesondere ihre protestantische Herkunft kaum verleugnen kann und die es heute zu überholen gilt. Und man kann daher durchaus fordern, Ehe- und Familienbegriff zu erweitern und mit ergänzenden oder neuen Inhalten zu füllen. Die sozialen, wohl auch die kulturellen Vorteile, die mit dem modernen Ehe- und Familienbegriff gegeben sind, gehen allerdings mit Begriffserweiterungen (denen immer Praxiserweiterungen folgen) verloren. Ganz vorläufig würde ich vier sozial-kulturelle Stärken der modernen Begriffe und ihrer Praxis angeben:
1) Die modern konstituierte Ehe und die modern konstituierte Familie reduzieren die Komplexität des engsten Milieus, der engsten Lebenswelt. Ungeachtet aller tatsächlichen alltäglichen Herausforderungen halten sie die Quantität und die Qualität möglicher sozialer Probleme für die Betroffenen, insbesondere für die Verantwortlichen, überschaubar.
2) Die modern konstituierte Ehe und die modern konstituierte Familie nötigen zu verbindlicher intimer Konfrontation und sie nötigen zu verbindlicher intimer Kooperation. Sie nötigen vor allem die Ehepartner, sie nötigen einen Mann und eine Frau zu unausweichlicher geschlechtsübergreifender Konfrontation und Kooperation – auch jenseits der unvermeidlichen Verflüchtigung hormonell bedingter Zuneigung.
3) Die modern konstituierte Ehe und die modern konstituierte Familie konservieren und schärfen das aus ihrer Herkunftsreligion überkommene Inzestverbot, sie konservieren und schärfen das Verbot rechtlicher und geschlechtlicher Verbindungen im familialen Milieu – was dazu nötigt, rechtliche und geschlechtliche Verbindungen im größeren sozialen Kontext, in einer erweiterten menschlichen Gemeinschaft zu suchen, die soziale Vernetzung also über das familiale Herkunftsmilieu hinaus auszudehnen.
4) Die besondere Stärke der modern konstituierten Ehe und der modern konstituierten Familie liegt aber wohl darin, dass in ihnen eine eigentümliche, kaum zu ersetzende Verbindung aus Blut und Wasser, aus Natur und Kultur, aus Gegebenem und Geschaffenem realisiert wird. Zunächst in der Ehe selbst, begriffen als rechtliche Verbindung eines Mannes und einer Frau, die einander zugeneigt sind und die einander (deshalb) gewählt haben. Dann aber auch und vor allem in der Familie, die diese Ehe hervorbringt. Selbst wenn die emotionale (natürliche) und die rechtliche (kulturelle) Verbindung von Mann und Frau, aus welchen Gründen auch immer, brüchig wird, so wird sie doch dauerhaft zusammengehalten durch den Kitt der natürlichen Nachkommenschaft.
Die sozial-kulturellen Stärken des modernen Ehe- und Familienbegriffs, so meine These, gehen unter dem Leitgedanken einer „Ehe für alle“ (wirklich für alle?) verloren. Mit den gegenwärtigen Begriffs- und Praxiserweiterungen nimmt die reale Komplexität der familialen Milieus zu. Überschaubarkeit und Beherrschbarkeit nehmen ab. Die verbindliche intime (geschlechtsübergreifende) Konfrontation und Kooperation lässt sich leichter umgehen oder gar meiden. Der Druck, stabile soziale Vernetzung über den Tellerrand des eigenen Milieus hinaus auszudehnen, lässt nach. Vor allem aber wird die eigentümliche, sozial außerordentlich stabilisierende Verbindung von Blut und Wasser aufgegeben. Sie wird ersetzt durch ausufernde Patchwork-Konstrukte, die bloß noch von dürftigem und sprödem Naturkitt zusammengehalten werden. Mir will diese werdende Weise des engsten sozialen Zusammenlebens und Zusammenhaltens als nicht sonderlich geschickt erscheinen. Für Bestand und Dauerhaftigkeit unserer Gesellschaft, für unser Zusammenbleibenkönnen wird sie sich kaum als förderlich erweisen.
Anmerkung 1: Kulturerscheinungen wie die modern konstituierte Ehe und die modern konstituierte Familie sind immer auch Versuche, mit der Natur an sich, vor allem mit der Natur des Menschen in geeigneter Weise umzugehen, die Natur zu gebrauchen und dienstbar zu machen, sie zu kanalisieren und zu strukturieren, ihr möglicherweise auch etwas entgegen zu setzen und ihr Einhalt zu gebieten. Gerade das dekonstruktive Denken der jüngeren Vergangenheit hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass es hier keine ewig gültigen Kulturwahrheiten und keine ewig gültigen Naturwahrheiten gibt, dass überkommene Kultur- und Naturwahrheiten transformationsfähig und transformationsbedürftig sind – insbesondere dort, wo sie gewalthaltige Hierarchien des Ausschlusses etabliert haben. Real und konkret wird dieses Denken in verschiedenen Nivellierungsstrategien, etwa dem sogenannten Gender Mainstreaming. So richtig und wichtig dieser Denkansatz ist: Seine Realisierungsversuche neigen einerseits dazu, bewährte kulturelle Bestände rücksichtslos wegzufegen, ohne etwas vergleichbar Stabiles an ihre Stelle setzen zu können. Andererseits überschätzen sie die konstruktive Manipulierbarkeit des Natürlichen, erwecken den Eindruck, als würde sich das Natürliche letztlich jedem beliebigen Konstrukt beugen, als könne das Konstrukt die Natur regelrecht ersetzen. Beides ist höchst naiv und dem Zusammenbleibenkönnen größerer sozialer Verbände eher abträglich als dienlich.
Anmerkung 2: Mein vorsichtiges Votum für die modern konstituierte Ehe und die modern konstituierte Familie arbeitet offensichtlich mit Gültigkeitsannahmen, stützt sich auf gegebene und geschaffene Gültigkeiten. Dieses Votum ist also kein reservatives Votum und kann daher nur ein übergängiges Votum sein. Wie eine reservative (Ungültigkeits-) Gemeinschaft von Menschen, wie insbesondere die geschlechtliche Verbindung von Menschen und wie engste familiale Milieus reservativ gedacht werden können, ist für mich noch weitgehend offen, ist eine künftige Aufgabe. Allerdings: Reservatives Denken setzt sich ja über die vorgefundene Weltwirklichkeit nicht einfach hinweg, setzt sie nicht revolutionär außer Kraft. Es nimmt die Gesetze der vorgefundenen Weltwirklichkeit vielmehr aufmerksam zur Kenntnis und ist darum bemüht, sie sensibel und behutsam zu gebrauchen als ob nicht. Und da scheinen mir in dem unter modernen Gültigkeitsannahmen stehenden Ehe- und Familienbegriff schon manche Einsichten über einen geeigneten Wirklichkeitsgebrauch durchzuschimmern, die auch unter reservativen Interpretations- und Lebensbedingungen nicht unbedingt verworfen werden müssen.
Nachtrag: Dankbar verfasst am 55. Hochzeitstag meiner Eltern.
Nachtrag: Dankbar verfasst am 55. Hochzeitstag meiner Eltern.
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