Montag, 30. Dezember 2019
572
Früher haben die Gesetzlichen unter den Frommen nicht selten angenommen, ich sei einer von ihnen. Das war für mich insofern befremdlich, als dass ich mich auch in frommer Zeit eher als suchend begriffen habe. Allerdings: Was mir auch auf der Suche nie als Möglichkeit erschienen ist: die Gleich-Gültigkeit. Das hat wohl manchen Beobachter auf die falsche Fährte gesetzt.
571
Die Hoffenden sind immer auch die Unzufriedenen.
Sonntag, 29. Dezember 2019
570
In den kommenden Wochen will ich mich noch einmal Nietzsche zuwenden, noch einmal seinem Denken nachdenken. Man kann verschiedene Zugänge zu Nietzsche finden, man kann ihn ganz unterschiedlich, auch ganz fragwürdig ausdeuten. Mir selbst war Nietzsche immer hilfreich als hellsichtiger Diagnostiker seiner kommenden und unserer gegenwärtigen Kultur. Und ich habe Nietzsche immer in selbstdemütigender Absicht gelesen, habe ihn als vehementen Einspruch gerade gegen unseren (meinen) traditionellen christlichen und unseren (meinen) modernen säkularen Dünkel wahrnehmen können.
Ein eindrückliches Beispiel – der Auftakt zu Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘; aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt.“
569
Bonhoeffer wirft nicht zuletzt der christlichen Apologetik vor, sie treibe ein sinnloses, unvornehmes und unchristliches Spiel, wenn sie versuche, den einfachen Menschen in die Verzweiflung zu treiben, um so den Boden zu bereiten für eine zweifelhafte, kaum noch tragfähige Heilsbotschaft. Unter modernen, säkularisierten Bedingungen erreiche man auf diese Weise ohnehin bloß noch eine „kleine Zahl von Intellektuellen, von Degenerierten, von solchen, die sich selbst für das Wichtigste auf der Welt halten und sich daher gerne mit sich selbst beschäftigen“.
Mein Eindruck ist: Alle derzeit als relevant geltenden politischen Debatten sind säkularisierte Erscheinungsformen der von Bonhoeffer kritisierten Apologetik. Und in allen relevanten politischen (und moralischen) Lagern haben die Degenerierten Konjunktur.
568
Benoît Peeters hat im Blick auf Derrida einmal bemerkt, dass Menschen, deren Denken starke emanzipatorische Impulse aussendet, sich in ihrer Rolle als Eltern durchaus sehr konservativ gebärden können. Ich selbst beobachte bei mir gelegentlich eine gewisse Sorge vor der Freiheit, die ich meinen eigenen Kindern denkend eröffnen musste. Vermutlich sorge ich mich deshalb, weil ich einen zu selbstverständlichen und zu sorglosen Gebrauch dieser Freiheit befürchte, weil ich sehr genau weiß, dass der angemessene Gebrauch dieser Freiheit sehr viel Achtsamkeit und sehr viel Übung voraussetzt.
Mittwoch, 25. Dezember 2019
567
Noch einmal – nach der erneuten Erfahrung eines erschreckend naiven, evangelikal katholisierenden Gottesdienstes am sogenannten Heiligen Abend (welcher Abend kann überhaupt heilig, welcher kann nicht heilig sein?): Stark verkürzt gesagt, ist die Weltwirklichkeit in sich widersprüchlich. In dieser Widersprüchlichkeit ist sie selbstdestruktiv. Die Widersprüchlichkeit der Weltwirklichkeit lässt sich nicht auflösen, das Ende ihrer Selbstdestruktivität lässt sich nicht abwenden. Wenn dem messianischen Ereignis – von der Krippe bis zum Grab – überhaupt ein repräsentativer Gehalt gegeben werden darf, dann ist dies nicht etwa die (christliche) Leugnung, sondern die ursprünglich jesuanische Bekräftigung dieser Einsicht.
Die Widersprüchlichkeit der Weltwirklichkeit lässt sich nicht auflösen, das Ende ihrer Selbstdestruktivität lässt sich nicht abwenden. Widersprüchlichkeit und Selbstdestruktivität des Weltwirklichen lassen sich allenfalls im Übergang handhaben. Handhabung meint jedoch nicht, Gesetze, also etwa Moral und Recht zu exekutieren – also gerade das nicht, was auch in evangelikal katholisierenden Gottesdiensten gerne eingefordert wird (oft verbunden mit der Illusion eines als Möglichkeit behaupteten gelingenden Lebens). Der Exekution von Gesetzen ist eigentümlich, dass sie die Wirklichkeit unter Harmonisierungsdruck setzt und damit letztlich nichts anderes bewirkt als die Dynamisierung und Beschleunigung der Selbstdestruktion. Handhabung meint reservativen Gebrauch von Wirklichkeit, meint weltunabhängige Weltlichkeit. Handhabung in diesem Sinne rettet die Welt nicht, löst nichts auf und wendet nichts ab. Und doch kann man sagen, dass wir der Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und Selbstdestruktivität nichts besseres zukommen lassen können, als ihren reservativen Gebrauch.
Frohe Weihnachten!
Sonntag, 22. Dezember 2019
566
Ein Freund berichtet mir von der Entsorgung seiner durch intensiven Gebrauch zerlesenen, geradezu zerfledderten Bibel. Er berichtet mir von der inneren Hemmung, von der natürlichen Besorgnis, der eigene Glaube werde mit der entsorgten Bibel zugleich entsorgt.
Eine schöne Repräsentation für den Moment, in dem die repräsentative Interpretation entsorgt werden und der reservativen Interpretation weichen muss. Wenn repräsentative Werkzeuge (wie etwa die Bibel) ihr Werk verrichtet haben, dann dürfen, dann müssen sie in gewissem Sinne sogar beiseite- und abgelegt werden (siehe Nr. 461).
565
Gestern Star Wars IX angeschaut. Die quasi-christlich-religiöse Botschaft des Films: Deine Herkunft ist nicht bindend für das, was Du bist. Oder anders: Was Du bist ist nicht bindend für das, was Du sein kannst.
Eine pathetische und anrührende Botschaft, in der unsere westliche Kultur gründet. Die entzaubernde weltwirkliche Wahrheit ist jedoch: Die religiöse Gründungsbotschaft der westlichen Kultur als mögliche Gültigkeit ist schlechtweg falsch. Und gerade im Blick auf die bevorstehenden Weihnachtsfeierlichkeiten muss auch gesagt werden: Das messianische Ereignis ist gerade nicht Ermöglichungsgrund der Gründungsbotschaft westlicher Kultur, sondern deren endgültige Destruktion. Aber für wen wäre das schon ein Grund zu feiern?
564
In unserer weltanschaulich und moralisch sich neu aufladenden Zeit scheint mir die Erinnerung an den alten paulinischen Gedanken neu relevant zu werden: die Erinnerung daran, dass jene, die sich in weltanschauliche und moralische Sicherheiten flüchten, die mit weltanschaulichen und moralischen Sicherheiten aufwarten (und sei es mit der Sicherheit weltanschaulicher und moralischer Gleich-Gültigkeit), nicht etwa zu den Starken, sondern zu den Schwachen zu rechnen sind. Die Schwachheit dieser Schwachen gilt es zu handhaben (siehe Nr. 186, 205, 394). Wehe uns aber (und darauf steuern wir zu), wenn die Schwachen mit ihren weltanschaulichen und moralischen Sicherheiten das Zepter an sich reißen. Wehe uns, wenn die Schwachen zu herrschen beginnen.
563
Heute früh beim Bäcker. Auf der Theke eine Sammlung kleiner Marzipanfiguren. Daneben ein Aufsteller mit der Aufschrift: „Glücksbringer. Eigene Herstellung.“ Ein nicht intendierter Pleonasmus. Unschlagbar.
Sonntag, 15. Dezember 2019
562
Das messianische Ereignis ist ein repräsentativ erscheinendes Zeichen für eine nicht repräsentierbare Sache selbst. Der vielleicht entscheidende Fehler des Christentums liegt darin, die Sache selbst als repräsentierbar zu behaupten, das Repräsentierte mit dem Zeichen zu identifizieren und somit über das Zeichen unmittelbar zugänglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass alle christliche Predigt letztlich in die Irre gehen und in die Irre führen muss.
561
Die zahllosen Gültigkeitsschlammschlachten in den sogenannten sozialen Netzwerken: Symptom auch für die anonymisierende Vermassung in der späten Moderne. Selten geht es in den Schlachten um eine mögliche Relevanz der jeweiligen Gültigkeiten selbst. Es geht vielmehr um die panisch behauptete Relevanz derjenigen, die mit letztlich beliebigen Gültigkeiten um sich werfen. Mit Gültigkeiten um sich werfend verschaffen sie sich selbst den Eindruck von Relevanz, von Sinn, Aufmerksamkeit und Einfluss.
Samstag, 14. Dezember 2019
560
Boris Johnson gewinnt in Großbritannien die Wahlen. Absolute Mehrheit. Der tatsächliche Brexit rückt damit in greifbare Nähe. Dazu ein Gedanke (siehe auch Nr. 113 und 329).
Freitag, 13. Dezember 2019
559
Der reservativ Existierende hat keine Meinung, keine Position im Sinne einer gefestigten Gültigkeitsbehauptung. Der reservativ Existierende hält sich offen für die Wahl im Augenblick, für die not-wendige Entscheidung.
558
Gestern eine dieser ritualisierten Jahresabschlussreden. Darin ein immer wiederkehrender Leitspruch, der dem Porzellanfabrikanten und Politiker Philip Rosenthal zugeschrieben wird: „Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.“
Der Absicht des Zitierten kaum entsprechend, wurde dieser Leitspruch gestern im Sinne einer eher schlichten Motivations- und Selbstoptimierungsformel aus dem Coaching-Handbuch verwendet. Wird der Ausspruch Rosenthals tatsächlich so verstanden, dann kann man durchaus sagen: Die tragische (gerade auch christlich provozierte) Verirrung abendländischer Kultur in einem Satz. Der Höhepunkt dieser Verirrung dann am Ende der Rede: Dem Aufruf zum unausgesetzten Fortschritt folgte die Klage über die Rastlosigkeit gegenwärtiger Gesellschaft, die Klage darüber, dass kein Advent, kein Ankommen mehr möglich sei.
Wie kann man, wenn man halbwegs intellektuell redlich bleiben will, einerseits den unausgesetzten, letztlich sinnentleerten Fortschritt predigen, zugleich aber Kultur und Gesellschaft beschuldigen, nicht mehr innehalten zu können?
Sonntag, 8. Dezember 2019
557
Kein Ruf, der an den Einzelnen ergeht, lässt sich universalisieren. Es lässt sich jedoch so etwas wie eine Universalität des Gerufenseins denken, eine Universalität des aufhebenden und überwindenden, des verungültigenden Gerufenseins der Einzelnen. Die weltwirklich entscheidende Frage lautet: Ist diese unmögliche Möglichkeit politisierbar?
556
Es gibt keinen Fortschritt im Denken. Es gibt lediglich einen Verlust möglicher Interpretationen.
Samstag, 7. Dezember 2019
555
Derzeit halte ich mich häufig an Bahnhöfen und Flughäfen auf. Dabei streife ich in Wartezeiten gerne durch die dort ansässigen Bücher- und Zeitschriftenläden. Beim Blick über die Buchtitel und Überschriften fällt mir auf: Die apokalyptischen Zuspitzungen und Überzeichnungen haben Konjunktur, gleichzeitig die dramaturgisch aufbereiteten Rezepte und Konzepte. Zeichen der Zeit. Wie lässt sich in diese Krisen- und Lösungshysterie die reservative, nachhaltig beruhigende Hoffnung hineintragen? Ich weiß es nicht. Für Reservation gibt es keine Rezepte, keine Konzepte. Reservation geschieht, ereignet sich. Oder eben auch nicht.
554
Es ist wieder – gerade im beruflichen Kontext – die Zeit für Rückblicke und Ausblicke. Es ist nicht zuletzt auch wieder die Zeit für motivierende Belobigungen (ein Schelm, wer ökonomische Absichten dahinter vermutet).
Man kann immer nur hoffen, dass beide Seiten – die Belobigenden und die Belobigten – sehr genau wissen, dass hier nicht mehr geschieht, als ein Ritual zu pflegen. Man kann nur hoffen, dass niemand dem Glauben aufsitzt, hier ginge es um etwas Substanzielles, dem irgendetwas Verbindliches anhaften würde oder das man als verbindlich, als verbindend wahrnehmen dürfte.
Donnerstag, 5. Dezember 2019
553
Was hat mir die reservative Haltung, die reservative Interpretation, den reservativen Glauben ermöglicht: Die erschütternde Erfahrung des unendlichen Aufschubs der innerwirklichen Erfüllung einer messianischen Verheißung. Dann aber auch die ernüchternde Erfahrung der Ungenießbarkeit, ja der Nichtigkeit dessen, was sich mir als weltwirklicher Ersatz, als Surrogat des Verheißenen angeboten hat.
Beiden Erfahrungen, in denen sich ja im Grunde genommen die beiden zentralen geschichtlichen Erfahrungen des Christentums widerspiegeln, habe ich mich gestellt, weder der einen noch der anderen bin ich ausgewichen, aus beiden Erfahrungen habe ich die interpretatorischen und lebenspraktischen Konsequenzen gezogen. Dies allerdings im Unterschied zum Christentum und seinem modernen Säkularisat. Dies auch im Unterschied zu vielen religiösen und säkular-religiösen Mitmenschen, die mir bekannt und zum Teil vertraut sind. Wer reservativ denken und leben will, der muss beides lassen, loslassen: die mögliche Weltwirklichkeit messianischer Verheißungen, aber auch die mögliche Zuflucht zu weltwirklichen Surrogaten – welcher Art diese auch immer sein mögen.
Dienstag, 3. Dezember 2019
552
Wenn ich eine erste, nachdrückliche Erinnerung aus dem mitnehme, was nun meine Aufgabe ist, dann ist es wohl diese: Unser Wissen ist immer Bruchstück, ist immer Fragment. Nicht zuletzt unser Wissen über Menschen. Menschen sind wie die Wirklichkeit selbst: Sie bergen zahllose Überraschungen in sich. Manche Überraschungen sind erfreulich, viele aber auch erschreckend. Das bedeutet: Nicht nur unser Wissen, sondern damit zugleich auch unsere Urteile (über Menschen) sind immer bloß Bruchstück, können nie mehr sein.
Sonntag, 24. November 2019
551
Vermehrt denke ich derzeit darüber nach, wie Menschen sein, wie sie beschaffen, wozu Menschen in der Lage sein müssen, die unter gegenwärtigen Bedingungen politische oder politisch relevante Positionen besetzen. Zweifellos brauchen wir hier mehr denn je Menschen der Entscheidung und Tat. Letztlich zählt gerade auch politisch nur dies: die Tat. Dringender denn je brauchen wir jedoch in politischen oder politisch relevanten Positionen Menschen, deren Entscheidung und Tat ein Warten ist. Wir brauchen Menschen, deren Entscheidungen und Taten nicht bloß Funktionen ihrer selbst oder des politischen Systems sind. Wir brauchen politische Menschen, die fähig sind, zu sich selbst und zu den Funktionen des politischen Systems innerlich (interpretatorisch) auf maximale Distanz zu gehen, aus dieser Distanz heraus zu entscheiden – und dann das und nur das zu tun, was Not tut, alles andere jedoch zu lassen. Wir brauchen Menschen der politischen Entscheidung und Tat, die sich allem, was nicht Not tut, kraftvoll verweigern können.
Was dem entgegen steht: Menschen dieser Beschaffenheit sind selten. Und: Nahezu alle politischen Auslesesysteme, die wir etabliert haben, spülen Menschen auf politische oder politisch relevante Positionen, die anders beschaffen sind. Menschen, die so beschaffen sind, dass sie möglichst perfekt den Mechanismen des politischen Systems entsprechend funktionieren.
Samstag, 23. November 2019
550
Kein Allgemeines vermag das Einzelne aufzunehmen. Und kein Einzelnes vermag sich in ein Allgemeines einzufügen. Das ist die Unmöglichkeit, die unter anderem das Politische zu überwinden versucht. Dieser Versuch des Politischen ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Was wir im Politischen wollen, ist grundsätzlich unmöglich. Der bescheidene Ansatz jedes Politischen muss daher sein: das Unmögliche halbwegs handhaben.
549
„Man kann und darf das letzte Wort nicht vor dem vorletzten sprechen“ (Dietrich Bonhoeffer). Zunächst ein Satz wie ein banaler Kalenderspruch, zur beliebigen Interpretation freigegeben. Tatsächlich aber eine bittere Diagnose: Im Weltwirklichen haben wir nur vorletzte Worte. Das letzte Wort ist kein Wirklichkeitswort, kein Wort, das wirklich sein könnte. Im Wirklichen steht uns kein letztes Wort zur Verfügung. Noch nicht einmal am offenen Grab.
Das ist das Nichts, mit dem sich auch Karl Barth konfrontiert sah. Seine (ganz moderne) Antwort: Konstruktion einer positiven Als-ob-Religion. Formulierung eines fiktiven letzten Wortes, damit überhaupt etwas Positives, etwas Gültiges zu sagen bleibt. Barth hätte die Unsagbarkeit des Letzten besser noch eine Weile schweigend und leidend erduldet. Er war dem Wort der Ungültigkeit wieder sehr nahegekommen (Römerbriefkommentar). Und seine Zeit hätte des Ungültigkeitswortes dringend bedurft.
Sonntag, 17. November 2019
548
In dieser Woche noch einmal der alten salomonischen Weisheit begegnet: „Wo viele Worte sind, da geht’s ohne Sünde nicht ab. Wer aber seine Lippen im Zaum hält, ist klug“ (Spr 10,19). Diese Weisheit in nicht-moralischer Interpretation: Wo viele Worte, da viele kaum beherrschbare Kausalitäten. Wenige bedachte Worte dagegen sind in der Lage, die eine oder andere Kausalität aufzufangen, ihr Einhalt zu gebieten. Was nicht vergessen werden darf: Es gibt auch eine Schweigsamkeit, es gibt auch eine Stille des Bösen.
547
Das moderne, funktionalisierte Leben fordert von uns, in vielen verschiedenen Räumen des Lebens viele verschiedene Rollen zu bedienen, vielen verschiedenen Rollenbildern zu entsprechen. Und es ist wohl die reservative Interpretation, die in kaum zu überbietender Weise dazu befähigt, die modernen Selbstdifferenzierungen (oder auch: Selbstentfremdungen) zu handhaben. Und doch müssen wir sensibel bleiben dafür, dass jede Selbstdifferenzierung immer auch Grenzen hat, die wir nicht überschreiten können, manchmal auch nicht überschreiten dürfen. Grenzen der Natur und Grenzen der Interpretation (wobei, um es noch einmal zu betonen, jede Interpretation immer auch abhängt von der jeweiligen Natur).
546
Es ist durchaus nicht so, dass ich derzeit – unter veränderten Umständen – nicht denken würde, nicht denken müsste. Gefordert ist von mir allerdings nun wieder ein radikales Mit-Denken, eine über den Tag nahezu unterbrechungsfreie funktionale Rationalität. Und für diese Art des Denkens ist dieser Blog nicht der rechte Ort.
Samstag, 9. November 2019
545
Die Gaukelei des mathematisch-logischen Ideals: Es gibt Lösungen. Im Wirklichen gibt es jedoch keine Lösungen. Es gibt nur Entscheidungen. Und entscheidungsinduzierte Kausalitäten.
Samstag, 26. Oktober 2019
544
Es gibt unterschiedliche – wie soll ich sagen – Ausdrucksformen dessen, was wir Denken nennen. Mir erscheint folgende grobe Differenzierung halbwegs treffend:
Sonntag, 13. Oktober 2019
543
Eine Mühe des Denkens, der man sich stellen muss, wenn man das, was man da tut, tatsächlich Denken nennen will: viele mögliche Wege des Denkens bis zu ihren Voraus-Setzungen zurück und bis zu ihren Konsequenzen hin voraus verfolgen, um zu entdecken, dass die jeweiligen Voraus-Setzungen und Konsequenzen grundsätzlich nicht (mehr) gewollt sein können, oder dass wir selbst die jeweiligen Voraus-Setzungen und Konsequenzen nicht wollen können, dass also die verfolgten Wege des Denkens nicht die eigenen sind.
Samstag, 12. Oktober 2019
542
Die Entscheidung für Abel gegen Kain ist die Entscheidung für das Fragment gegen das Universale, die Entscheidung für das Einzelne gegen die Masse, die Entscheidung für die Pilgerschaft gegen die Verwurzelung, die Entscheidung für die Demut gegen die Selbstbehauptung, die Entscheidung für die Ungültigkeit gegen die Gültigkeit. Wer Kain wählt und nicht Abel, der wählt unvermeidlich Abels Tod.
Gedanke nach dem Besuch des Münchener Oktoberfestes: Massen lassen sich bändigen allein durch massive Kanalisierung. Die politische Entscheidung für die Demokratie ist keine Entscheidung für den Einzelnen, sondern für die Masse. Die politische Neigung zur Radikaldemokratisierung ist die Neigung zur Vermassung ohne Kanalisierung. Ein gewagtes Experiment.
541
Es ist skurril: Unter veränderten Bedingungen bin ich herausgefordert, die Figur des als ob nicht noch einmal neu zu wenden. Gewissermaßen gegen sich selbst. Es gilt, ein als ob nicht des als ob nicht zu – ja was eigentlich? Zu realisieren? Wenn ja, dann aber nicht im Sinne eines subversiv und destruktiv sich einschleichenden und durchsetzenden als ob (wie etwa im werdenden römischen Christentum), sondern im Sinne einer Suche nach dem Besten der Stadt in quasi-babylonischer Gefangenschaft (Jer 29,7).
Samstag, 5. Oktober 2019
540
Der reservativ Interpretierende ist, wo auch immer er ist, unvermeidlich der Andere. Die Anderen sind dort, wo er jeweils ist, lediglich anders anders. Es ist also letztlich gleich-ungültig, wo er ist. Es gilt lediglich, im jeweiligen Hier und Jetzt ein jeweils anderes Anderes reservativ zu handhaben.
539
Reservative Interpretation eröffnet in der chaotischen Vielfalt des Wirklichen eine neue Einfältigkeit, eine neue Einfalt des Entscheidens.
Montag, 30. September 2019
538
Gegen Luther: Im Ruf und unter dem Ruf zu bleiben meint nicht, den weltwirklichen Beruf als göttliche Berufung zu begreifen. Im Ruf zu verharren, im Ruf auszuharren meint, sich in jedem beliebigen weltwirklichen Beruf als Herausgerufener zu begreifen und jeden beliebigen weltwirklichen Beruf als Herausgerufener zu handhaben.
Anmerkung: Beruf ist einer dieser Begriffe, dessen repräsentativer Gehalt sich hartnäckig gegen die moderne Funktionalisierung und damit gegen seine Entzauberung zu behaupten weiß. Auch und gerade Luther ist dafür mitverantwortlich.
Sonntag, 29. September 2019
537
Bis wir halbwegs durchschaut haben, was uns treibt, bis wir halbwegs verstanden und anerkannt haben, dass und wie wir das, was uns treibt, handhaben können und müssen, bis zu diesem Zeitpunkt haben wir es zumeist schon recht weit, oft allzu weit getrieben. Und es gilt immer, von diesem Punkt, von diesem Ort unseres Lebens aus weiterzuschreiten. Neuanfang als Wirklichkeit ist unmöglich.
Dienstag, 24. September 2019
536
Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel. Wütende Anfragen an die Politik, verbissen hinausgespuckt mit zitternder Stimme und feuchten Augen. Man kann dieses Mädchen verachten, man kann es vergöttern – eines ist ganz offensichtlich: In einem fiktiven Hollywood-Streifen über eine jugendliche Klimaaktivistin wäre es zweifellos die Bestbesetzung. Es spielt seine Rolle unüberbietbar gut.
Samstag, 21. September 2019
535
Gestern an vielen Orten auf dem Globus Demonstrationen. Ein kollektiver Aufschrei gegen den menscheninduzierten Wandel des Klimas und seine Folgen. Es ist wie ein ohnmächtiges Zappeln in der selbstgestellten Falle.
Der (gerade auch christlich) hervorgebrachte Mensch der sogenannten Moderne ist nicht mehr in der Lage, interpretatorisch an zwei voneinander unterschiedenen Wirklichkeiten festzuhalten. Er kennt allein noch eine Wirklichkeit: die Wirklichkeit der Welt. Diese Welt wird ihm Einziges und Alles, sie gewinnt unentrinnbare Macht über ihn. Sie befiehlt ihm, allein noch in ihr das Heil zu suchen. Gehorsam unterwirft der moderne Mensch die Welt einer radikalen, vor allem auch technischen Optimierungskur. Was er allzu spät bemerkt: Die Weltwirklichkeit kann das, was sie verspricht, nicht einlösen. In all ihrer kausalen Komplexität und Kontingenz schlägt sie unerbittlich, gnadenlos zurück.
Das eigentlich Irritierende am gestrigen Aufschrei: Der moderne Mensch will offenbar nach wie vor nicht von seinem Paradigma lassen. Er glaubt nach wie vor, die Weltwirklichkeit mit modernen Interpretationen und mit modernen Mitteln seinen modernen Heilszwecken entgegenbiegen zu können.
534
Eine Beobachtung: Im unvermeidlichen, mehr oder weniger heftigen Streit zwischen Natur und Interpretation setzt sich lebensgeschichtlich zumeist die Natur durch. Die Natur will nicht wahrhaben, dass zahlreiche Interpretationen nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen. Und die Natur will nicht wahrhaben, dass die Weltwirklichkeit so ist, wie sie ist. Also baut sich die Natur Stätten der Zuflucht. Das erklärt zahlreiche psychische Ausweichstrategien, die wir üblicherweise als Störung beschreiben. Das erklärt auch, warum so viele Menschen im Alter verbittern oder fromm werden.
Donnerstag, 12. September 2019
533
Abschiedsgang durch München. Diese Stadt und das, was zu ihr gehört, bedient in großem Maße meine natürlichen Bedürfnisse. Diese Stadt ist jedoch auch in besonders ausgeprägtem Maße repräsentativ – wie wohl kaum eine andere Stadt in Deutschland. Nahezu alles, was sie ausmacht, ist ein Angriff gerade auf jene Interpretation, die sich mir, am Rande dieser Stadt lebend, über die Jahrzehnte hinweg aufgedrängt hat.
Der Abschied von München ereignet sich also im Streit wider meine Natur, zugleich aber auf Drängen meiner Interpretation. Meine Hoffnung für das Kommende: eine zumindest zeitweise gemilderte Spannung zwischen Natur und Interpretation.
532
Jede Entscheidung ist eine unendliche Reduktion von Komplexität. Entscheidungen exekutieren also nie Wahrheiten (als Gültigkeiten). Jede Entscheidung ist Exekution von Wahrheit (als Gültigkeit).
Sonntag, 8. September 2019
531
In der Welt, in der Sprache der Gültigkeiten gilt: Jede Komplexitätsreduzierung ist der Wahrheit Tod.
Samstag, 7. September 2019
530
Die eigentliche Pointe der Noah-Erzählung: Die Vernichtung dessen, was wir Leben nennen, schafft keine Abhilfe. Abhilfe schafft allein die Aufhebung und Überwindung des Wirklichen überhaupt. So gesehen ist der Bogen am Himmel kein Zeichen der Hoffnung und des Trostes. Er ist Erinnerung daran, dass wir nun und künftig durch das, was wir Leben nennen, hindurch müssen – bis zum bitteren aber abhelfenden Ende aller Kausalitäten.
529
Eine der vorrangigsten Forderungen im menschlichen Beisammensein: die Anderen mit dem eigenen Selbst möglichst wenig zu belästigen. Unter der Herrschaft von Würde und Recht im Sinne von Ansprüchen ist diese Forderung kaum noch vermittelbar.
527
Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Unzufriedenheit und Illusionslosigkeit. Man kann dankbar und nüchtern zugleich sein.
526
Als Menschen glauben wir von Natur aus besonders gerne unseren eigenen Erzählungen. Seinen eigenen Erzählungen misstrauen zu lernen – das ist der Anfang der Weisheit.
525
Menschen mit peripherer sozialer und moralischer Wahrnehmung scheinen seltener zu werden. Die Perspektiven selbst jener Menschen, die die Wirklichkeit durch soziale oder moralische Filter hindurch wahrnehmen, scheinen sich zunehmend zu verengen.
524
Bildung ist immer auch eine Form der Kontrolle.
523
Wir wissen heute, dass unsere interpretierenden Weltzugänge nichts anderes sind als nichtige Sprachspiele. Daraus folgt aber nicht, dass wir dieser Sprachspiele nicht mehr bedürfen. Wir können nicht anders, als diese Spiele zu spielen. Allerdings: Unsere Sprachspiele als Gültigkeitsspiele sind an ihr Ende gekommen. Auch alle Gültigkeitsspiele, die wir im Übergang in zweiter Naivität (Paul Ricœur) gespielt haben. Die Frage lautet also: Wie künftig noch spielen?
522
Es gab und gibt gute Gründe, den substantialen Begriff der Schuld durch den kausal-funktionalen Begriff der Verantwortung zu ersetzen.
521
Man stellt sich der Wirklichkeit – oder man verfällt ihr. Tertium non datur.
520
Jeder Universalismus, selbst jeder partikulare Universalismus, wird geboren auch aus der Verzweiflung am Anderssein des Anderen, aus der Unerträglichkeit des Andersseins des Anderen.
519
Allein in der Erinnerung und im Entwurf können wir den Fortgang des Wirklichen auf- und anhalten. Erinnerung und Entwurf sind unsere Zuflucht vor der Flüchtigkeit.
Im Hier und Jetzt sein meint dagegen, sich der Flüchtigkeit alles Gegenwärtigen zu stellen und in dieser Flüchtigkeit gewissermaßen zu verharren, auszuharren.
Im Hier und Jetzt sein meint dagegen, sich der Flüchtigkeit alles Gegenwärtigen zu stellen und in dieser Flüchtigkeit gewissermaßen zu verharren, auszuharren.
Dienstag, 6. August 2019
518
Als Einzelne sind wir immer auch Phänomene, sind wir immer auch Symptome (des Allgemeinen) unserer Zeit. Ich selbst begreife mich mittlerweile auch als (vorauseilendes) postsäkulares Phänomen, als Symptom einer im gegenwärtigen Übergang der Epochen zumindest möglichen, vielleicht kommenden, vielleicht einzufordernden Postsäkularität.
Donnerstag, 25. Juli 2019
517
Kürzlich habe ich mich tatsächlich dazu durchgerungen, mich an einer kurzen Klimadebatte im kleinen Freundeskreis zu beteiligen. Warum bin ich hier üblicherweise sehr zurückhaltend?
Samstag, 20. Juli 2019
516
Wenn für den deutschen Soldaten vom Rückblick auf den 20. Juli 1944 etwas bleiben kann, dann ist es dies: Er muss bereit und fähig sein, unabhängig von der Zahl der Likes aus Gesellschaft und Politik das Richtige und Gute ausfindig zu machen und zu tun. Und alles andere zu lassen.
515
Es gibt Menschen, die halten sich für kritisch, weil sie unermüdlich und akribisch Unstimmigkeiten und Fehler im gesellschaftlichen und politischen System aufzudecken und anzuprangern versuchen. Kritik dieser Art, in der immer auch die geradezu diebische Freude des Kritisierenden an der eigenen Intelligenz und an der eigenen Moralität mitklingt, ist jedoch nichts anderes als Funktion des jeweils geltenden Allgemeinen. Mit Kritik im eigentlichen, etwa im Kantischen Sinne, hat diese Art von Kritik nichts zu tun.
514
Vor 75 Jahren scheitert der Versuch, Hitler zu töten. Eine Überlegung: Die historische Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Faschismus und der von ihm installierten Vernichtungsmaschinerie lässt sich mit guten Gründen behaupten. Und mit guten Gründen kann man fordern, sich der Einzigartigkeit des im Nationalsozialismus wirklich gewordenen Bösen zu erinnern.
Wenn allerdings diese Erinnerung in ihrer Perpetuierung gerinnt und wenn dabei die Erinnerung an das einzigartig Böse, selbst die Erinnerung an den Widerstand gegen das einzigartig Böse, zuletzt allein noch dem Zweck dient, das dem einzigartig Bösen Folgende als das einzigartig Gute zu behaupten und abzusichern, dann werden die Behauptung der Einzigartigkeit des Bösen und die Erinnerung daran selbst zur Gefahr. Weil sie den Blick auf das Böse im folgenden Guten verstellen, weil sie vor allem den Blick auf die natürliche und kulturelle Anfälligkeit verstellen, die sowohl das einzigartig Böse als auch das folgende, vermeintlich einzigartig Gute möglich gemacht hat.
Die natürliche und kulturelle Anfälligkeit der Deutschen ist der allzu leichtfertige Gehorsam gegenüber dem jeweils als gültig auftretenden Allgemeinen. Daran hat sich in den vergangenen 75 Jahren nur wenig geändert.
Eine Überlegung am Rande: Auch der deutsche militärische Widerstand rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist bei der Planung des Tötungsversuchs einem Allgemeinen gefolgt, war mit dem Tötungsversuch auf ein Allgemeines aus – auf ein Allgemeines, das rückblickend glücklicherweise nicht wirklich geworden ist. Und damit stellt sich auch hier die alte normative Frage: Wenn man nicht will, worauf Menschen hinaus wollen, kann, darf man dann dennoch bewundern, was sie tun?
Freitag, 19. Juli 2019
513
In mir wirken drei jeweils stark ausgeprägte Unfähigkeiten, teils miteinander, teils gegeneinander: die Unfähigkeit, Gott zu lassen, die Unfähigkeit, Gott im Weltwirklichen wahrzunehmen oder ihn ins Weltwirkliche hineinzuinterpretieren, und schließlich die Unfähigkeit, Zuflucht zu finden in einer Gültigkeitsfiktion, in einem als ob des Göttlichen – es sei religiöser oder metaphysischer, theologischer oder philosophischer Natur.
Diese drei Unfähigkeiten sind gewissermaßen die natürlichen Bedingungen, die zumindest in Ansätzen gegeben sein müssen, um sich reservativer Interpretation und reservativer Wirklichkeitshaltung überhaupt annähern zu können.
Anmerkung: Angesichts meiner drei Unfähigkeiten ist es nicht verwunderlich, dass mich weder die reformatorische Theologie noch die (deutsche) idealistische Philosophie auf Dauer hat überzeugen und binden können.
Donnerstag, 18. Juli 2019
512
Subjekt, Person, Individuum – allzu gerne glauben wir, dass diese und ähnliche Begriffe, mit deren Hilfe, von denen ausgehend wir heute unsere (politische) Wirklichkeit zu konstruieren und zusammenzuhalten versuchen, tatsächlich eine mögliche Wirklichkeit sind, dass mit ihnen zumindest etwas mögliches Wirkliches bezeichnet ist.
Dieser Glaube ist eine quasi-religiöse Annahme, die durch nichts Wirkliches gestützt werden kann. Die in den Begriffen Subjekt, Person oder Individuum angenommene Möglichkeit formaler oder substanzieller Einheit, Unteilbarkeit, Stabilität entspricht keiner wirklichen und auch keiner möglichen Wirklichkeit. Was das letztlich für die mögliche Einheit, Unteilbarkeit und Stabilität unserer (politischen) Wirklichkeitskonstruktionen bedeutet, lässt sich leicht vorstellen. Auf Sand gebaut.
Anmerkung: Die gesamte Kantische Transzendentalphilosophie steht und fällt mit der quasi-religiösen Annahme, Behauptung, Forderung, dass das, was als Bedingung Wirklichkeit überhaupt erst möglich macht, eben darum gültig und damit wirklich sein muss. Der alte religiöse Handstreich also, lediglich in säkularisierter, konsequent verdiesseitigter Fassung.
Nachbemerkung: Die hier angedeutete Kritik schließt nicht aus, dass wir auf dem Weg hinein in ein Jenseits der Gültigkeiten durchaus vorläufig auf Gültigkeitsfiktionen wie Subjekt, Person oder Individuum setzen können. Vermutlich müssen wir das sogar. Es muss uns allerdings bewusst sein und bleiben, was wir da tun.
Nachbemerkung: Die hier angedeutete Kritik schließt nicht aus, dass wir auf dem Weg hinein in ein Jenseits der Gültigkeiten durchaus vorläufig auf Gültigkeitsfiktionen wie Subjekt, Person oder Individuum setzen können. Vermutlich müssen wir das sogar. Es muss uns allerdings bewusst sein und bleiben, was wir da tun.
511
Was der Fromme nicht glaubt: Er glaubt nicht, dass seine Interpretationen, seine Empfindungen und sein Praxis sehr viel mit seiner Natur, seiner Erziehung und seinem kulturellen Herkunftskontext zu haben – nur sehr wenig aber oder auch gar nichts mit Gott. Er glaubt nicht, dass er gerade in dem, worin er sich Gott nahe wähnt, Gott ausgesprochen fern ist.
Der Fromme glaubt nicht an die eigene Gottlosigkeit, an die Gottlosigkeit der Weltwirklichkeit in der eigenen Person. Sie ist ihm unerträglich. Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, die Gottlosigkeit der Welt zu ertragen, und religiöser Musikalität.
Anmerkung: Säkular gewendet gibt es selbstverständlich auch einen positiven Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, den Nihilismus, die Nichtigkeit des Wirklichen zu ertragen, und metaphysischer Musikalität. Also der Neigung, Ideen und Idealen, metaphysischen Erzählungen unterschiedlichster Art anzuhängen.
Montag, 15. Juli 2019
510
Heute auf der Autobahn einen Reisebus überholt. Auf der Motorhaube im Heck stand in großen geschwungenen Lettern zu lesen: Make Today So Awesome That Tomorrow Gets Jealous.
Besorgniserregend ist nicht der Satz an sich. Als solcher lässt er sich ja durchaus als lächerlicher Einfall eines überspannten Werbetexters beiseite schieben. Besorgniserregend ist dieser Satz als Symbol. Als Symbol für eine nicht unerhebliche generationsübergreifende Zahl von Menschen in modernen Gesellschaften, die mit eben dieser Erwartung an die Wirklichkeit herantreten und die die Welt mit eben dieser Erwartung auszukaufen versuchen: Das Leben als unendliches und sich selbst unausgesetzt überbietendes Spektakel.
Samstag, 13. Juli 2019
509
Gegenwärtig wollen die okzidentalen Gesellschaften und Politiken gleichzeitig (und dies in globaler Dimension), was nicht gleichzeitig zu haben ist: Sie wollen den (spät)modernen Menschen, die ihm zuträglichen Formgebungen, die mit ihm gegebenen, vor allem materiellen Segnungen. Zugleich wollen sie die Begrenzung, gar Überwindung der dem (spät)modernen Menschen eigentümlichen Deformierungen und des mit ihm zugleich gegebenen, vor allem ökonomischen und ökologischen Unheils. Das geht nicht zusammen. Wer den (spät)modernen Menschen mit seinen Errungenschaften will, der muss zugleich auch dessen Abgründe und Katastrophen wollen. Die Idee einer sensibilisierten, reflexiven Moderne ist eine nette aber gefährliche Gaukelei. Diese Gaukelei zügelt nichts, die hält nichts auf, sie verhindert nichts.
Nachgedanke: Die gegenwärtige Panik vor den unvermeidlichen Abgründen des (spät)modernen Menschen, die damit einhergehende, teils dramatische Durchmoralisierung und Vergesetzlichung aller Lebensbereiche okzidentaler Gesellschaften (insbesondere in Deutschland) – eine säkular-religiöse, geradezu mittelalterliche Angst vor der Verfehlung oder gar dem Verlust des Heils, verbunden mit verzweifelten Selbstentlastungs- und Selbstrechtfertigungsbemühungen.
Freitag, 12. Juli 2019
508
Wenn man tatsächlich glaubt, Vorbilder haben, Vorbildern folgen zu müssen: Dieser Glaube wird immer dazu zwingen, das gewählte Vorbild so stark zu verkürzen und das Verkürzte so stark zu überhöhen, dass das Bild, dem man dann zuletzt folgt, nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Donnerstag, 11. Juli 2019
507
Es gibt Lebensphasen, in denen wir uns genötigt sehen, ganz in dieser Welt seiend, uns mit aller Kraft an das reservative nicht von dieser Welt zu klammern. Weil uns nichts anderes geblieben ist, als der reservative Nihilismus.
Es gibt aber auch Lebensphasen, in denen wir der Stadt Bestes suchen (Jer 29,7), in denen wir ganz weltlich ganz in dieser Welt sein dürfen. In diesen Phasen darf der reservative Nihilismus ruhig verklingen und zu einer Art Hintergrundrauschen der Existenz werden.
Entscheidend ist die bleibende Aufmerksamkeit dafür, dass cantus firmus und Kontrapunkt nicht vertauscht, nicht verwechselt werden. Die systematische Vertauschung von cantus firmus und Kontrapunkt ist eines der herausragenden Merkmale der Theologie des Christentums (siehe auch Nr. 422).
506
Aufschlussreich – die gegenwärtige öffentliche, vor allem auch sozial-mediale Empörung über das Verfahren zur Nominierung der schließlich ausgehandelten Kandidatin für den EU-Kommissionsvorsitz. Fragwürdig ist weniger das Verfahren selbst. Deutlich fragwürdiger ist der Glaube, der die Empörung über das Verfahren antreibt. Der Glaube an eine bestimmte Idee von Demokratie als Politik und der Glaube daran, dass diese Idee tatsächlich Wirklichkeit sein oder werden könnte. Wer glaubt, dass Demokratie als Politik repräsentativ sein kann, wer Demokratie als (mittelbare oder unmittelbare) Repräsentation für eine mögliche Wirklichkeit hält, der ist in der Tat politisch ein Kind.
Donnerstag, 4. Juli 2019
505
Zu Nr. 503 und 504: Die reservative Interpretation und Praxis gebraucht die (christliche) geordnete Sesshaftigkeit und die (islamische) offene Pilgerschaft gleichermaßen, lässt sich allerdings von den jeweiligen Bindungskräften, von der Sucht nach Endgültigkeit und von der Flucht vor Endgültigkeit nicht festsetzen.
Das wohl treffendste Symbol reservativen Lebens ist die abrahamitische Existenz. „Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen im Land der Verheißung wie in einem fremden Land und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Hebr 11,8–10). Der reservativ Existierende begreift sich in der Weltwirklichkeit als pilgernder Fremdling, und dies an dem Ort, an dem er sich in der Wirklichkeit wiederfindet und den er für sich als Land der Verheißung annimmt. Das meint: Er lässt sich vorläufig auf eine Endgültigkeit ein, die er unausgesetzt als vorläufig interpretiert. Alles, was er hat, hat er immer schon losgelassen. Alles immer schon Losgelassene hat er, als habe er es auf Dauer.
504
Zu Nr. 503: Was hier vorläufig angedeutet ist, gilt selbstverständlich nicht für jede christlich imprägnierte Kultur, auch nicht für jede islamisch imprägnierte Kultur. Die christliche Sucht nach Endgültigkeit findet sich vor allem im (erweiterten) kontinentaleuropäischen, die islamische Flucht vor der Endgültigkeit findet sich vor allem im (erweiterten) arabischen Raum.
Wenn sich die Heuristik der geordneten Sesshaftigkeit einerseits und die Heuristik der offenen Pilgerschaft andererseits tatsächlich als treffend erweist, dann lässt sich damit etwa erklären, warum die kontinentaleuropäische Interpretation und Praxis zwar eine gewisse Attraktivität in den arabischen Kulturraum ausstrahlt, hier jedoch auf Dauer kulturell keinen An- und Rückhalt finden kann. Erklären lässt sich etwa das unvermeidliche Scheitern des sogenannten Arabischen Frühlings, auch das unvermeidliche Scheitern der Gründung und Sicherung eines sogenannten Islamischen Staates. Erklären lässt sich aber auch, warum Muslime einer bestimmten Kulturprägung, die im europäischen Kontext leben, unvermeidlich in subkulturelle Milieus ausweichen und hier abseits der europäischen Ordnungsvorstellungen ihr eigenes Ding drehen müssen.
Mittwoch, 3. Juli 2019
503
Erste ganz vorläufige Formulierung einer Intuition. Über eine kulturelle Prägungsdifferenz, die mir nicht wenig zu erklären scheint.
502
Enttäuschungsschmerzen sind Wachstumsschmerzen. Sofern wir sie uns als solche dienen lassen.
Dienstag, 2. Juli 2019
501
Gestern bin ich auf David Hayward, auf Nakedpastor aufmerksam geworden. Auf einen Menschen, der die Dekonstruktion seiner Religion, seiner Theologie, seiner Profession offensichtlich existenziell durchlebt und durchlitten hat. Sehr schön etwa die Skizze seines Gottesverlustes:
Spontan erinnert mich die Skizze an den Gedanken Bonhoeffers: „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt.“
Für Nakedpastor ist heute die Dekonstruktion die Mission. Schon das lässt mich innerlich einen Schritt zurücktreten. Meine fundamentalere Distanz ist jedoch diese: Religiöse Christen wie David Hayward (oder auch wie Josh de Keijzer mit seinem Blog End of God), die im Interpretationsraum der Dekonstruktion Erklärungen für ihren eigenen Gottesverlust gefunden haben, bleiben nicht selten in diesem Raum hängen, richten sich gewissermaßen in der Öffnung und Offenheit der Dekonstruktion bequem ein. Damit bleiben Sie einerseits negativ im Schema ihres Gegners gefangen. Damit sind sie andererseits nicht mehr als ein Phänomen, ein Symptom ihrer Zeit, ein Symptom der späten Moderne. Mir selbst wäre das zu schlicht, zu wenig, zu kurz gesprungen.
Montag, 1. Juli 2019
500
Im Kairos muss man die Wirklichkeit handhaben wie im Gefecht.
Samstag, 29. Juni 2019
499
Was mich an der linken Theorie Alain Badious und anderer beeindruckt: Sie müht sich (im Unterschied zur liberalen Alternative) konsequent darum, Demokratie vom Einzelnen her zu denken. Was mich zu ihr auf Distanz bringt: Sie kennt in der Handhabung des Allgemeinen letztlich immer bloß die Revolution. Warum ich sie nicht teile: Sie vermag, wie der Liberalismus auch, keinen Ausweg zu öffnen aus den herkömmlichen Systematiken der Gültigkeiten. Sie ist nichts anderes als Gültigkeitsdogmatik.
Zur Einführung in die linke Demokratietheorie empfehle ich übrigens gerne das kleine Suhrkamp-Bändchen Demokratie? Eine Debatte.
498
Manchmal bleibt in der Erziehung nichts anderes übrig, als die Luft anzuhalten und auf die enttäuschende Macht der Wirklichkeit zu warten.
497
Heute nicht nur auf dem Olympiadach, sondern auch noch einmal auf dem eventgeladenen Olympiagelände unterwegs. Beim aufmerksamen Blick in die bunte Menge ist ein Trend kaum zu übersehen: Der urbane Mensch generiert sich selbst zunehmend als Exponat. Dieses Exponat verweist auf nichts. Oder anders: Dieses Exponat ist Verweis auf ein Nichts.
Mittwoch, 26. Juni 2019
496
Öffentlichkeit ist weder reflektiert noch differenziert. Öffentlichkeit ist immer schlicht und pauschal. Selbst jene, die sich öffentlich zu reflektieren und zu differenzieren bemühen, werden früher oder später aus der Öffentlichkeit verdrängt oder in der Öffentlichkeit und durch die Öffentlichkeit zur Schlichtheit und Pauschalität genötigt. Das gilt für Freunde und Feinde der Öffentlichkeit gleichermaßen.
495
Zwei Netz-Notizen: Nach Jahren wohl begründeter Abkehr habe ich mir erneut ein Facebook-Profil eingerichtet (was man durchaus als konfrontationstherapeutischen Akt verstehen darf). In dieser besonderen repräsentativen Wirklichkeit, in der in besonders ausgeprägtem Maße schlichte Gültigkeiten schlicht geteilt werden, ist für mich schon die Auswahl von Profil- und Titelbild eine Herausforderung. Sich reservativ abbilden mitten im Repräsentativen, dabei sein ohne als gleich wahrgenommen zu werden – auf Netzplattformen wie Facebook ist was wohl nahezu unmöglich.
Und: Ich habe mir die Domain hosme.de gesichert. Zwar stößt das paulinische hōs mē (als ob nicht) umgangssprachlich durchaus auf Verständigungsschwierigkeiten – im bayerischen Umfeld wird hier gerne die mundartliche Frage „Host mi?“ herausgehört. Aber so abwegig scheint mir diese humorige Analogie gar nicht zu sein. Frei übertragen will sich der Bayer mit seinem etwas ruppigen „Host mi?“ eigentlich nur vergewissern, ob man ihm interpretatorisch folgen kann und will. Und eben in diesem Sinne will hōs mē, will hosme.de interpretatorisches Angebot und interpretatorische Einladung sein.
494
Der politische Westen glaubt traditionell und nach wie vor an eine katholische (universale) und ökumenische (globale) Gemeinschaft der Glaubenden. Dabei sind Substanz und Funktion dieses Glaubens mittlerweile ausschließlich von dieser Welt.
493
Hiobs größte Herausforderung in den 140 Lebensjahren nach seiner Genesung (zu Nr. 146): nicht zu vergessen, dass er zuvor recht und was er zuvor Rechtes von Gott geredet hat. Seine vom Aussatz zerfressenen Finger und Zehen werden ihm bei der notwendigen Erinnerungsleistung sicher behilflich gewesen sein.
Donnerstag, 13. Juni 2019
492
Wenn wir in früheren Jahren, was eher selten vorkam, auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln Menschen begegnet sind, die leise oder laut mit einem nicht sichtbaren Gegenüber kommuniziert haben, dann war diesen Menschen unser Bedauern und unsere Anteilnahme gewiss. Ganz offensichtlich waren sie krankhaft verwirrt. Heute sind Menschen wie diese im öffentlichen Leben üblich geworden. Was sie unterscheidet: Sie tragen kleine Kopfhörer, immer seltener kabelgebunden. Und sie halten sich selbst sicher nicht für krankhaft verwirrt. Dennoch: Auf mein Beileid können sie nach wie vor zählen.
491
Eine der wichtigsten Fragen, die ich mir denkend immer wieder vorgelegt habe, ist wohl diese: Wer bin ich? Weit wichtiger aber war und ist mir die Frage: Wer soll ich sein? Oder nachmetaphysisch, mündig gewendet: Wer will ich sein? Wie auch immer ich diese Fragen an den verschiedenen Stationen meines Denkweges beantwortet habe: Nie, zu keinem Zeitpunkt habe ich die bisweilen kaum erträgliche Spannung zwischen Sein und Wollen auflösen können. Weder in die eine noch in die andere Richtung.
490
Ein für mich durchaus bedeutsamer Tag: Heute beende ich, mit einer letzten militärethischen Sitzung, nach vielen Jahren meine hauptberufliche universitäre Lehrtätigkeit. Es bleibt die Hoffnung, dass bei allem, was ich in meinen Lehrveranstaltungen ausgestreut habe, die eine oder andere Perle dabei war. Und dass diese Perlen nicht bloß von Borstenvieh verschluckt wurden.
489
Die Hoffnung der Alten: dass irgendwer oder irgendetwas die Welt im Innersten zusammenhält. Die Hoffnung der Modernen: etwas – es sei Substanz oder Funktion – ausfindig zu machen, mit dessen Hilfe es ihnen gelingen kann, die Welt – es sei innerlich oder bloß äußerlich – zusammenzuhalten. Beide Hoffnungen trügen.
Mittwoch, 12. Juni 2019
488
Mit einem lieben muslimischen Freund bei Tee und Shisha das mögliche Verhältnis von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ausgelotet. In Calvins Bestimmungsversuch, in seinem berühmten Auftakt zur Institutio finden wir zueinander (was viel aussagt über die strukturelle Analogie zwischen calvinischem und muslimischem Denken). Der für mich entscheidende Satz Calvins: Erst dann fangen wir an, uns nach Gott, nach dem wirklichen Gott, nach der Gotteswirklichkeit auszustrecken, „wenn wir angefangen haben, uns selber zu missfallen“. Ein Satz, der im gerade auch christlich mitverursachten und christlich (nicht zuletzt protestantisch) nach wie vor beförderten „Zeitalter der Authentizität“ (Charles Taylor), im Zeitalter der Gier nach uneingeschränktem Gefallen am Selbst und nach unregulierter Realisierung des Selbst nicht deutlich genug in Erinnerung gerufen werden kann.
487
Nach einem Kurzbesuch in Tunis: Wer tatsächlich annimmt, (theologische oder philosophische) Interpretationen und deren öffentliche Verbreitung könnten (heute noch) den Lauf der Welt, den Gang der Dinge, die Interpretationsbewegungen von Menschen und Menschheit wirklich bewegen oder gar entscheidend steuern, dem empfehle ich einen längeren aufmerksamen Beobachtungsaufenthalt im Terminal eines gut frequentierten internationalen Flughafens. Wer hier halbwegs sensibel wahrnimmt, was da kommt, was da ist, was da unbeeindruckt und unbeeindruckbar weiterzieht, dem wird jede missionarische Illusion rasch vergehen.
486
Eintrag unter der Rubrik „Man begegnet sich immer zweimal im Leben“ (zu Nr. 301). Heute früh auf meiner Laufrunde, einige Kilometer liegen noch vor mir. Schon von Weitem sehe ich einen Mann auf mich zukommen. Es wird sich herausstellen, dass es der Unbekannte von damals ist. Als wir uns fast erreicht haben, lüftet er seinen Hut, strahlt mich fröhlich an und ruft mir erneut zu: „Wer an Christus glaubt, der hat das ewige Leben!“
„So ist es“, gebe ich, kurz bevor sich unsere Wege wieder trennen, lächelnd zurück – wohl wissend, dass sein und mein Verständnis der von ihm gebrauchten Formel nach wie vor inkompatibel ist. Aber nach wie vor scheint er seine Straße fröhlich (und für andere unschädlich) zu ziehen. Warum also über Interpretationen streiten?
Donnerstag, 6. Juni 2019
485
Zu Nr. 480: Der Begriff der Entscheidung ist diskreditiert – gerade auch in Deutschland. Entscheidungen werden verachtet, weil sie pflichtbestimmt sind, also einer rationalen Mechanik folgen. Entscheidungen werden verachtet, weil sie triebbestimmt sind, sich also nicht rational universalisieren lassen. Oder Entscheidungen werden verachtet, weil sie gar nicht bestimmt erscheinen, also willkürlich im Sinne von beliebig getroffen werden.
Jenseits des Nihilismus wird es eine der größten (politischen) Herausforderungen sein, einen Entscheidungsbegriff jenseits von Pflichtbestimmtheit, Triebbestimmtheit und Unbestimmtheit ausfindig zu machen – und diesen dann praktisch einzuüben.
484
Idealisten, auf ihre Weise oft auch Universalisten, kritisieren das Tun oder Unterlassen Einzelner gerne mit dem Alle-Argument: Wenn alle dieses oder jenes tun oder unterlassen würden, dann! Dann ließe sich die Katastrophe verhindern. Dann wäre das Heil wirklich möglich. Das Alle-Argument der Idealisten ist zumindest in dreifacher Hinsicht problematisch:
Es stützt sich auf eine ideale (gedachte) Wirklichkeit, die nicht und niemals Wirklichkeit ist.
Es birgt die Gefahr der unduldsamen Gewaltsamkeit gegenüber allen, die nicht alle sind oder sein wollen.
Es kann nicht wirklich darüber Auskunft geben, was tatsächlich Wirklichkeit würde, wenn alle dieses oder jenes tun oder unterlassen würden.
483
In unseren Interpretationen äußern sich auch unsere neuronalen Strukturen, auch – so könnte man vielleicht sagen – die neuronalen Abdrücke, die besonders unsere eindrücklichen Erfahrungen hinterlassen haben. Und nicht selten ist es wohl der Fall, dass wir mit unseren Interpretationen gerade unsere größten inneren Feinde zu bekämpfen versuchen.
Dienstag, 4. Juni 2019
482
Neulich einen Radiobeitrag gehört über Steve Jobs, insbesondere auch über seine spirituelle Beheimatung im Be Here Now von Ram Dass. Dieses Sein im Hier und Jetzt hat mit der reservativen Gegenwärtigkeit nichts gemeinsam. Im Gegenteil. Es ist totale Wirklichkeitsfunktion, totale Wirklichkeitsgefangenschaft, verborgen hinter dem Heiligenschein (pseudo)religiöser Transformationsverheißungen. Nicht zufällig gehört Jobs zu jenen Menschen, deren verlockende und faszinierende Wirklichkeitsschöpfungen uns kaum noch Alternativen, kaum noch Auswege lassen.
Montag, 3. Juni 2019
481
Auch in unserer eigenen, westlichen Kulturgeschichte gab es Zeiten, in denen Menschen in mehr oder weniger ritualisierter Weise sichtbar markiert wurden. Nicht selten waren damit Mündigkeit, (kriegerische) Leistungsfähigkeit oder soziale Stellung symbolisiert. Das, was heute als Piercing oder Tattoo modern ist, ist also wahrhaftig kein neues Phänomen. Es scheinen sich allerdings die Vorzeichen geändert zu haben. Mit dem sichtbaren Symbol soll wohl etwas kompensiert oder zumindest verborgen werden. Gelegentlich drängt sich geradezu der Verdacht auf: Je mehr äußerlich dranhängt, desto weniger ist drin. Je großflächiger und martialischer das sichtbare Symbol auf der Haut, desto dürftiger und enttäuschender der (zunächst) unsichtbare Mensch unter der Haut.
Sonntag, 2. Juni 2019
480
Jenseits des Nihilismus gibt es keine Gründe mehr. Nur noch Entscheidungen. Selbst der einzige mögliche Grund, der noch bleibt, selbst die Fiktion der Ungültigkeit, wird zum Grund allein durch Entscheidung. Durch Entscheidung, nicht durch Wahl. Jenseits des Nihilismus bleibt uns keine Wahl.
Samstag, 1. Juni 2019
479
Es ist vollbracht? Nichts ist jemals vollbracht im Wirklichen. Die Wirklichkeitsgeschichte, die Geschichte des Wirklichen, die Geschichte des Vorletzten geht weiter. Immer.
Freitag, 24. Mai 2019
478
Wichtige Bausteine meines eigenen Denkens hat Richard Rorty geliefert. Er verzichtet konsequent auf letzte Gründe, auf letzte Formen und letzte Substanzen. Weil er sie nicht mehr findet, nicht mehr hat. Was bleibt, ist eine Entscheidung. Die Entscheidung für das Leben, das wir leben wollen. Als Einzelne und als politische Gemeinschaften. Das Denken, das Interpretieren hat sich dann in den Dienst dieser Entscheidung zu stellen. Philosophie, Wirklichkeitsinterpretation ist die nachträglich entworfene Stütze der Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise.
477
Das reformatorische sola lässt sich so oder so verstehen: als konstruktiver Akt (der Mensch beschließt, Gott nirgendwo sonst mehr zu suchen) oder als Verlustanzeige (der Mensch kann Gott nirgendwo sonst mehr finden). Zwischen den Haltungen, die dem jeweiligen Verständnis entsprechen, liegen Welten.
Donnerstag, 23. Mai 2019
476
Eine weitere psychoanalytisch-biografische Aufklärung (zu Nr. 28): Von Natur aus habe ich naiv große Erwartungen an die Wirklichkeit. Ich erwarte, wirklich Einfluss nehmen zu können auf die Wirklichkeit, und ich erwarte, dass die Wirklichkeit mir meine Bedürfnisse wirklich stillen wird. Meine natürlichen Erwartungen sind im Kontext und Umfeld meines Herkunftsmilieus aufgeladen worden durch religiöse Verheißungen, durch ein religiöses Bild von Wirklichkeit, das mir vorgegaukelt hat, unter bestimmten Voraussetzungen (Rechtgläubigkeit und Moralität), für die ich selbst verantwortlich bin und die ich selbst schaffen kann, sei das Erwartete wirklich möglich und wirklich im Kommen.
Mittwoch, 22. Mai 2019
475
Wenn Theologen oder Philosophen, wenn Geisteswissenschaftler, wenn Interpreten des Geistes Interpretationskrisen diagnostizieren, dann ist Vorsicht geboten, dann muss man erst einmal genau hinschauen. Allzu häufig ist die diagnostizierte Krise lediglich Mittel zum Zweck. Die Krise soll die jeweils eigene Interpretation als Heilsbotschaft aufscheinen lassen, bisweilen sogar als alternativlose Heilsbotschaft. Dass Interpreten des Geistes mit ihren Interpretationen selbst an ein Ende gekommen und in eine Krise gestürzt sind, aus der sie keine der zuhandenen Interpretationen hat retten können – dieses Ereignis ist dagegen selten. Dieses Ereignis ist aber Voraussetzung dafür, überhaupt von einer Interpretationskrise sprechen zu dürfen.
474
Calvins Vorsehungslehre ist in ihren praktischen Konsequenzen letztlich nichts anderes als auf die Spitze getriebener Nihilismus. Alles, was wirklich ist, wird radikal funktionalisiert. Calvin will der Funktionalisierung des Weltwirklichen noch einen Wert beimessen, indem er ihr den sinnlosen Sinn der Gottesehrung zuschreibt. Dieser Sinn leidet jedoch an dem Geburtsfehler der unvermeidlichen Verflüchtigung.
473
Nach dem Besuch mancher kirchlichen Gottesdienste sehne ich mich geradezu nach dem Kulturabbruch. Danach, dass dergleichen endgültig dem Vergessen überantwortet wird. Andererseits: Wenn ich gemeinsam mit Studierenden in Lektüreseminaren Max Webers Protestantische Ethik zu erschließen versuche, dann erlebe ich bei diesen den Kulturabbruch als bereits vollzogen. Keinerlei Sensibilitäten mehr für religiöse Begründungen und Rationalitäten. Und dann bin ich mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder ob ich trauern soll. Trauern über die durchaus gefährliche Ohnmacht gegenüber der Religion. Trauern auch über die Unfähigkeit, die eigene kulturelle und gesellschaftliche Lage, sogar sich selbst in seinem Gewordensein und Sosein auch nur halbwegs zu verstehen.
Montag, 20. Mai 2019
472
Ob es an sich eine Welt, ob es eine Welt an sich gibt, können wir nicht wissen. Als Menschen haben wir eine Welt immer bloß durch Sprache (nicht etwa schon durch eine vermeintliche Unmittelbarkeit der Anschauung). Welt ist immer eine sprachlich abgebildete oder sprachlich konstruierte Welt. Die Welt, die wir haben, ist also immer bloß das Symbolsystem einer möglichen Welt, eine Fiktion, ein als ob. Wenn uns die Welt, die wir in Sprache als Fiktion haben, verloren geht, dann haben wir nichts mehr (das ist im Grunde genommen der Zustand, auf den Wittgensteins Tractatus hinausläuft). Dieser Zustand könnte die Geburtsstunde reservativer Interpretation sein, einer Interpretation, die keine Welt mehr haben muss. Doch das Weltbedürfnis, das uns als sprachbegabten, als zum Sprechen verurteilten Wesen eigentümlich ist, ist übermächtig. Es ist so mächtig, dass wir nach dem Verlust der fiktional gegebenen oder geschaffenen Welt sogar bereit sind, uns in virtuelle Welten zu flüchten und uns damit zu befriedigen.
Donnerstag, 9. Mai 2019
471
Heute einen Studenten nach einem kurzen Gespräch im Anschluss an ein berufsethisches Seminar dazu ermutigt, einen seiner Gedanken weiter zu verfolgen: Vielleicht muss der kommende Soldat ein Stoiker sein. Stoiker sind nicht die schlechtesten Soldaten.
470
Zu Nr. 466: Das Sprachspiel, das Calvin zur Verhältnisbestimmung von göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit in ganz unterschiedlichen Fragezusammenhängen aufbietet, ist komplex und paradox.
469
Der homo oeconomicus ist ein undankbares und insofern unfreies Wesen. Als solches schafft er sich seine eigenen, immer neuen Bedürfnisse, auf deren Befriedigung er nicht mehr verzichten will, nicht mehr verzichten kann. In seiner Bewegung der Undankbarkeit verstrickt er sich immer tiefer in die vermeintlichen oder tatsächlichen Notwendigkeiten der Weltwirklichkeit.
Mittwoch, 8. Mai 2019
468
Eine Beobachtung und eine Empfehlung: Menschen, die Wirklichkeit nur durch das Allgemeine hindurch anschauen, können sich kaum auf das jeweils Einzelne einlassen, ziehen sich gerne vor dem, was im Einzelnen gefordert ist, ins Allgemeine zurück. Menschen, die Wirklichkeit nur durch das Einzelne hindurch anschauen, können sich kaum dem jeweils Allgemeinen unterwerfen, neigen zu destruktiver oder gar revolutionärer Ignoranz.
Wer in die Wirklichkeitsschlacht zieht, der umgibt sich besser weder mit Allgemeinen noch mit Einzelnen. Die einen brechen im Schildwall leicht nach hinten, die anderen leicht nach vorne aus. In der Wirklichkeitsschlacht hat man am besten jene neben sich im Wall, die Allgemeines wie Einzelnes gleichermaßen kennen und anerkennen, die Allgemeines wie Einzelnes zugleich handhaben können. Entschlossen und unerbittlich.
467
Gesprochenes oder geschriebenes Wort hören und lesen wir nie authentisch. Allenfalls ist die Interpretation unserer eigenen Interpretation des Gehörten oder Gelesenen authentisch. Und selbst das ist bloß eine Annahme, eine Hoffnung.
Montag, 6. Mai 2019
466
In seinem Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance versucht Cassirer sich auch an einer geeigneten Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. Um nichts anderes als um dieses Verhältnis geht es zuletzt in allem praktischen Denken. Die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit ist das nervöse Zentrum jedes auf Praxis sich richtenden Interpretierens. An dieser Frage entscheidet sich alles.
465
Gelegentlich erstaunt und beruhigt mich zugleich, wenn ich die wesentlichen Entwicklungen und Sprünge in meinem eigenen Denken im Denken anderer wiederfinde. Es gibt strukturelle Analogien zwischen Existierenden, ihren Interpretationen und ihrer Praxis – bei aller qualitativen und inhaltlichen Differenz.
464
Jede Erzählung kann auch anders erzählt werden. Jede
Erzählung zeitigt auch Folgen, die dem Erzähler, hätte er sie gekannt oder
zumindest geahnt, wohl frühzeitig den Mund verschlossen hätten.
463
Der Tod des Märtyrers befreit diesen immer auch von der Last, mit seiner Interpretation über die volle Distanz gehen, eine ganze Lebenslänge an seinem Glauben festhalten und diesen praktisch demonstrieren zu müssen.
Manche Märtyrer mussten sichtlich zu früh abtreten. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, die eigenen Interpretationen noch einmal kritisch befragen und die Dinge auch anders anschauen zu lernen.
Sonntag, 5. Mai 2019
462
Unter (protestantischen) Pfarrern, unter Theologen erinnert man sich gelegentlich scherzhaft daran, dass man im Beamtenstatus mit A14-Besoldung kaum als Prophet auftreten könne. Das ist nicht ganz falsch. Die priesterliche Wahrheit des Allgemeinen verträgt sich nicht mit der prophetischen Wahrheit des Einzelnen.
Samstag, 4. Mai 2019
461
Seinen Tractatus will Wittgenstein ganz ähnlich begriffen und gebraucht wissen, wie Jesus seine Gleichnisse (siehe Nr. 83). Die Gleichnisse Jesu können helfen aufzuklären, dass die Wirklichkeit, die sie vermeintlich bezeichnen und repräsentieren, mit Sprache, ja, mit Symbolen überhaupt, gar nicht bezeichnet und repräsentiert werden kann. Dass ein ganz anderer, nicht auf Bezeichnung und Repräsentation hinauslaufender Wirklichkeitszugang aufgesucht werden, dass die Wirklichkeit anders angeschaut und anders gebraucht werden muss.
Mittwoch, 1. Mai 2019
460
Wenn ich mich Benjamin, Cassirer, Heidegger und Wittgenstein, wenn ich mich den philosophischen Zauberern der roaring twenties denkend stelle, dann bin ich noch nicht einmal versucht, mich mit ihnen zu messen. Das wäre höchst vermessen. Selbst der Versuch, mich auf die Schultern ihres Denkens zu stellen, um von hier aus besser und weiter sehen zu können, erscheint mir völlig abwegig.
Mich den Zauberern denkend zu stellen, meint in meinem Falle: eine Tür aufstoßen zur Dankbarkeit für die eigenen Begrenzungen. Gerade meine Begrenzungen eröffnen mir die Möglichkeit, die Wirklichkeit auch anders sehen, sie auch anders handhaben zu können. Talente, gerade auch Talente des Denkens, setzen ja immer auch in je spezifischen Gehäusen des Denkens und Lebens gefangen.
459
Zu Sein und Zeit schreibt Heidegger an Jaspers, die Arbeit daran werde ihm nicht mehr einbringen als dies: „daß ich für mich selbst ins Freie gekommen bin und mit einiger Sicherheit und Direktion Fragen stellen kann“. Glücklich, wer denkend für sich ins Freie kommen darf. Das ist schon viel. Allerdings: Für sich ins Freie zu kommen, ist das eine. Etwas anderes ist es, an sich ins Freie zu kommen.
Dienstag, 30. April 2019
458
Nach weiterer Auseinandersetzung mit den Zauberern (zu Nr. 457): Die bittere Gnade meines Denkweges liegt darin, dass sich in meinem eigenen messianischen Ereignis nicht eine einzige Wirklichkeitshoffnung erfüllt, nicht eine einzige Erwartung materialisiert hat. Nicht eine einzige Verheißung ist wirklich weltwirklich geworden.
Montag, 29. April 2019
457
Lese gerade das Buch Zeit der Zauberer. Wolfram Eilenberger
versucht hier in einer schönen Komposition die Existenzen Walter Benjamins, Ernst
Cassirers, Martin Heideggers und Ludwig Wittgensteins in ihrem Neben-, Zu- und
Gegeneinander zu begreifen. Erste Eindrücke in aller Kürze.
Freitag, 26. April 2019
456
Jedes Denken steht auch, vielleicht vor allem vor dem Problem, dass andere anders denken, dass andere nicht denken wollen oder dass andere (wohl die meisten) nicht denken können. Jedem Denken, auch jedem Nicht-Denken korrespondiert ein Handeln, ein Handeln in raum-zeitlichem Beisammensein, jedes Denken kann also nicht anders, als politisch zu sein. Jede Philosophie ist zuletzt unvermeidlich politische Philosophie, jede Theologie ist zuletzt unvermeidlich politische Theologie.
Die (okzidentalen) politischen Philosophien und Theologien der Gegenwart sind nach wie vor, sind ganz traditionell darum bemüht, das Problem des Anders- und Nicht-Denkens zu lösen: durch Diskurs (Begründung), durch Struktur (Form), durch Kontext (Substanz), durch Macht (Gewalt). Diese Lösungsversuche setzen allerdings nach wie vor, setzen ganz traditionell auf die Annahme einer vorgegebenen oder auf die Annahme einer herstellbaren Harmonie – und sei es bloß auf eine Harmonie im Fluss, auf eine Harmonie in Bewegung.
Jedoch: Das Problem des Anders- und Nicht-Denkens, das Problem der Anders- und Nicht-Praxis (Nicht-Praxis verstanden als ein Handeln, das nicht bedacht ist) lässt sich nicht lösen. Harmonie und Harmonisierbarkeit sind traditionelle okzidentale Illusionen. Ein politisches Denken, dass sich von diesen Illusionen verabschiedet und das unlösbare Problem des Anders- und Nicht-Denkens zumindest zu handhaben, vielleicht zu moderieren ermöglicht, steht nach wie vor aus.
Donnerstag, 25. April 2019
455
Wie hat Kohelet, der Prediger, Ruhe gefunden? Wie wird aus einem Suchenden ein Anwesender? Zumal dann, wenn der Fund des Suchenden nicht das ist, was dieser zu finden gehofft hatte? Die Eitelkeit der Weltwirklichkeit kann man als Suchender nicht finden wollen. Nihilismus ist keine Interpretation, die man haben und in der man sich von seiner Suche ausruhen kann.
Donnerstag, 18. April 2019
454
Die religiös begriffene Forderung des "Sorget nicht" hat seine Tücken. Nicht eine wesentliche Sorge der vergangenen Jahre war unbegründet, nicht eine dieser Sorgen war überflüssig.
Freitag, 12. April 2019
453
Zu Nr. 451: Es muss gelegentlich daran erinnert werden, dass die moderne „Gottesfinsternis“ auch nichts anderes ist, als eine Interpretation – wenngleich eine Interpretation, hinter die wir auf intellektuell redlichem Wege nicht mehr zurück können, nicht mehr zurück dürfen.
Donnerstag, 11. April 2019
452
Manchmal ist Verantwortung nichts anderes als Übereifer. Besondere Vorsicht ist dann geboten, wenn Verantwortung gesagt wird, tatsächlich aber Pflicht gemeint ist.
451
Ein folgenschwerer Fehler der Offenbarungsreligionen: Sie gründen ihre Theologie im Augenblick der (so interpretierten) Gottessichtbarkeit und -gegenwart. Also im flüchtigen Ereignis, in Moment und Substanz der Ausnahme.
Montag, 8. April 2019
450
Es gibt Menschen, deren Einsichten über sich selbst nicht bis zu eben diesem Selbst vorzudringen vermögen.
Dienstag, 19. März 2019
449
Vor einigen Jahren, im Vorfeld meiner Habilitation (2013), habe ich meine Denkweise und meine bis dahin vollzogene Denkbewegung grob zu rekonstruieren versucht – zur vorläufigen Selbstaufklärung. Der kleine Text erscheint mir nach wie vor recht treffend, auch wenn ich heute an einigen Stellen wohl anders formulieren würde. Ein Ausschnitt.
Donnerstag, 14. März 2019
448
Nachtrag zu Nr. 447: Es ist eine auffällige Eigentümlichkeit des Menschlichen, sich in das wirklich Unvermeidliche hineinzuerzählen. Jene, die diese Fähigkeit nicht haben, denen sie abhanden gekommen ist oder die sich ihr verweigern, werden sich selbst und menschlichen Gemeinschaften zur Last. Wir bezeichnen sie gerne auch als krank. Ist das nicht höchst fragwürdig? Als gesund gelten jene, die Anpassungsleistungen erbringen. Es gilt der Primat der Wirklichkeitsakkomodation. Wer dazu einen Beitrag leistet, der erfährt Anerkennung. Das gilt auch für Wissenschaftler, nicht zuletzt für Theologen und Philosophen.
Donnerstag, 7. März 2019
447
Mein Weg ins Denken: angetrieben von der Verzweiflung an sinnloser Funktionalität und der Sehnsucht nach Substanz. Denkend habe ich dann Sinnlosigkeit und Substanzlosigkeit des Wirklichen anerkennen lernen müssen. Nun könnte sich der absehbare Rückweg in die Funktionalität durchaus als glücklich erweisen. Funktionierend lassen sich immer auch Räume eröffnen, für andere da zu sein. Funktion kann durchaus beglückendes Surrogat sein für Sinn und Substanz.
Mittwoch, 27. Februar 2019
446
Eine dieser entlarvenden Floskeln unserer Tage: „Sorry“. Gerne lächelnd und winkend dahingesungen, gerne in der unverwechselbar deutschen Zäpfchen-R-Variante. Wer „Sorry“ sagt, hatte noch nicht einmal die Absicht, auf Bedürfnisse und Interessen anderer Rücksicht zu nehmen. Wer „Sorry“ sagt, der wird nach der flüchtigen Wahrnehmung, dass er Bedürfnisse und Interessen anderer missachtet hat, weder seine Haltung noch sein Verhalten überprüfen. Wer „Sorry“ sagt ist wie einer, der sich im Spiegel anschaut, kurz darauf aber wieder vergessen hat, wie er aussieht (Jak 1, 23/24). Wer „Sorry“ sagt, der sagt auch „Ich entschuldige mich“ – obwohl doch nur der Andere, dessen Bedürfnisse und Interessen missachtet werden, entschuldigen, die Schuld erlassen kann.
445
Dass in unseren Tatsachenaussagen hintergründig immer auch unsere Interpretationen, auch unsere stillen Wertungen präsent sind, kann wohl nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Und doch ist die Werturteilsfreiheit empirischer Wissenschaften eine unverzichtbare Fiktion. Sie ist in der empirischen Wissenschaft so unverzichtbar wie die Fiktion des methodischen Atheismus.
444
Kurz vor der Entsorgung Blumenbergs Kant und die Frage nach dem „gnädigen Gott“ (1954) noch einmal gelesen. Großartig. Die These der späteren Legitimität der Neuzeit (1966) in einer Nussschale. Ein Text, der mein Denken vor nun fast zwanzig Jahren gebündelt und nachhaltig orientiert hat.
Donnerstag, 21. Februar 2019
443
Ich entsorge gerade zehntausende Kopien. Zeugnisse einer noch nicht digitalisierten Wissenschaft, vor allem aber Zeugnisse eines sich nun dem Ende entgegen neigenden akademischen Weges. Mit manchen Texten verbinde ich wesentliche innere Entwicklungsschritte. Hatte soeben noch einmal Karl Barths „Nein“ gegen Emil Brunner in der Hand, ein lautstarkes Votum, das mich in ein eigentümliches Nähe-Distanz-Verhältnis zu Barth versetzt hat – ganz ähnlich vielleicht jenem Verhältnis, das Bonhoeffer über die Jahre zu Barth aufgebaut hat. Nun liegt Barths „Nein“ im Altpapier-Container. Und der Abschied fällt angenehm leicht. Barth hat, wie mein akademischer Weg überhaupt, sein Werk an mir verrichtet. Requiescat in pace.
Dienstag, 12. Februar 2019
442
Satz eines lieben und klugen Mit-Menschen: Auch Scheitern gelingt nicht immer. Das meint auch: Das Scheitern des Scheiterns ist das Ende der Bequemlichkeit.
Donnerstag, 31. Januar 2019
441
Warum verwenden eigentlich so viele Eltern, wenn sie sich in der Ansprache ihrer Säuglinge und Kleinkinder selbst bezeichnen, die dritte Person Singular? Warum sprechen sie ihre eigenen Kinder in der dritten Person an?
Dienstag, 29. Januar 2019
440
Unsere jüngste Tochter bringt aus dem Französischunterricht eine Aufgabe mit nach Hause. Sie soll uns fragen, ob wir auf unser Deutschsein stolz sind. Die Frage führt uns rasch zu der grundsätzlicheren Frage danach, was Stolz überhaupt bedeuten soll, bedeuten kann. Wir unterhalten uns eine Weile, werden uns allerdings nicht einig.
Montag, 28. Januar 2019
439
Böse oder gut. Darüber entscheidet nicht die Moral, auch nicht die Ethik als deskriptive oder normative Reflexionstheorie der Moral.
Mittwoch, 23. Januar 2019
438
Dass Menschen, junge und nicht erwachsen gewordene Menschen, derzeit vermehrt ihre Häuser und Wohnungen mit Beinkleidung verlassen, die man vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal unter der Bettdecke getragen hätte – sicher eine Modeerscheinung. Vielleicht aber auch Symptom dafür, dass Menschen verlernen, zwischen repräsentativen Sphären zu unterscheiden – in diesem Falle zwischen der Sphäre des Privaten und der des Öffentlichen. Und Menschen verlernen, dass repräsentative Sphären der repräsentativen Abgrenzung bedürfen, nicht zuletzt auch durch Kleidung.
Der Verlust der Sphärengrenzen und ihrer Repräsentationen ist irritierend, in reservativer Hinsicht aber durchaus auch verheißungsvoll. Wie jeder gegenwärtig werdende Nihilismus (etwa die Verflachung von Hierarchien in Organisationen, oft auch symbolisiert in einer allzu voreilig distanzlosen Duzerei). Alles kommt nun darauf an, was dem werdenden Nihilismus folgt. Was wir jenseits des Nihilismus wollen.
Der Verlust der Sphärengrenzen und ihrer Repräsentationen ist irritierend, in reservativer Hinsicht aber durchaus auch verheißungsvoll. Wie jeder gegenwärtig werdende Nihilismus (etwa die Verflachung von Hierarchien in Organisationen, oft auch symbolisiert in einer allzu voreilig distanzlosen Duzerei). Alles kommt nun darauf an, was dem werdenden Nihilismus folgt. Was wir jenseits des Nihilismus wollen.
437
In jedem Erbarmen spukt immer auch das Gespenst der Selbstüberhebung.
Freitag, 18. Januar 2019
436
Frei nach Luther: Weltwirklicher Erfolg ist eine Gunst Gottes für jene, die im Weltwirklichen an das Weltwirkliche verloren sind.
Nachgedanke: Im Weltwirklichen an das Weltwirkliche verloren sind nicht selten gerade die Frommen im Lande. Nicht etwa nur die Frommen, die fromm sind aus niederen Beweggründen. Gerade auch die Frommen, die fromm sind aus religiöser Überzeugung. Von Herzen. Mit Hingabe.
Donnerstag, 17. Januar 2019
435
Eine der tiefsten Kränkungen, die das Denken zufügt, ist die unausweichliche Depotenzierung und Relativierung des Selbst.
Mittwoch, 16. Januar 2019
434
Luftballon-Nena, das durchgeknallte Streifenhörnchen meiner Jugendzeit, macht jetzt Werbung für Penny – als (Vorsicht: Marketing-Sprech) Nachhaltigkeits-Testimonial. Früher oder später assimiliert das System Jede und Jeden. Oder richtiger: Früher oder später offenbart sich, dass Jede und Jeder immer schon Funktion des Systems ist. Auch jene, die sich gerne als das Andere verstehen und präsentieren. Sie integriert das System, indem es ihnen den Platz eines vermeintlich Anderen zuweist und sie damit ruhig stellt. Dieses Andere steht aber gar nicht außerhalb des Systems, sondern ist lediglich eine seiner Funktionen. Im Fall Nena ist das vermeintlich Andere die Natürlichkeit, vermeintlich realisierbar durch das vermeintlich Andere der Nachhaltigkeit.
Sonntag, 13. Januar 2019
433
Der nächste Bestimmungsversuch. Eine wesentliche Eigentümlichkeit des jesuanischen, noch mehr des paulinischen, noch viel mehr des reservativen Messianismus: Er hält dazu an und befähigt dazu, auf nichts mehr hinaus zu wollen. Mehr noch: Er hält dazu an und befähigt dazu, mit dem auf nichts mehr hinaus zu wollen auf nichts mehr hinaus zu wollen.
Donnerstag, 10. Januar 2019
432
Heute früh, kurz nach sechs. Knapp 30 Zentimeter Neuschnee. Beim Schneeschaufeln Begegnung mit dem Nachbarn, einem älteren Herrn. Wie es so üblich ist – ich lasse eine erstaunte Bemerkung zur Schneemenge fallen. Der Mann brummt leise. „Das war früher ganz normal“, sagt er und geht zurück ins Haus.
Einen Moment überlege ich, was der Mann wohl denkt, wie alt ich sei, und natürlich – was meint er mit früher? Vor allem aber: Was wollen (ältere) Menschen wie er anderen (jüngeren) Menschen mit solchen Sätzen eigentlich sagen? Dass früher alles besser war? Oder schlechter? Dass man früher mehr zu lachen hatte? Oder mehr zu leiden? Jedenfalls scheint sich in solchen Sätzen eine Art Selbstbefestigung auszudrücken, verbunden mit einem deutlichen Impuls zur Selbstabgrenzung, nicht selten wohl auch zur (romantisierenden) Selbstüberhebung.
Dienstag, 8. Januar 2019
431
Am vergangenen Wochenende Wintereinbruch in Südbayern. Es soll auch in den kommenden Tagen weiter schneien.
Sonntag, 6. Januar 2019
430
Hiobs Theologie: Gott gibt sich selbst dadurch die Ehre, dass er es den Zumutungen der Weltwirklichkeit (und ihrer Götter) nicht gestattet, den Glauben Hiobs zu überwinden. Sein und Existenz sind theatrum gloriae dei. Max Weber bezeichnet diese Theologie als rationale Lösung des Theodizee-Problems. Tatsächlich hat diese Theologie ihre ganz eigene Rationalität. Allerdings eine Rationalität, die zu maximaler Entselbstung herausfordert – begriffen als maximale Unabhängigkeit vom natürlichen Selbst.
Dienstag, 1. Januar 2019
429
Angenehm an Festtagen und -zeiten ist mir vor allem die nachträgliche Beseitigung ihrer Spuren. Die Rückkehr zur Schlichtheit und Selbstverständlichkeit des Alltäglichen.
Unangenehm an Festtagen und -zeiten ist mir vor allem die nachträgliche Unsichtbarkeit ihrer Spuren. Ihre Restlosigkeit angesichts der Banalität und Mechanik des Alltäglichen.