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Donnerstag, 23. Mai 2019

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Eine weitere psychoanalytisch-biografische Aufklärung (zu Nr. 28): Von Natur aus habe ich naiv große Erwartungen an die Wirklichkeit. Ich erwarte, wirklich Einfluss nehmen zu können auf die Wirklichkeit, und ich erwarte, dass die Wirklichkeit mir meine Bedürfnisse wirklich stillen wird. Meine natürlichen Erwartungen sind im Kontext und Umfeld meines Herkunftsmilieus aufgeladen worden durch religiöse Verheißungen, durch ein religiöses Bild von Wirklichkeit, das mir vorgegaukelt hat, unter bestimmten Voraussetzungen (Rechtgläubigkeit und Moralität), für die ich selbst verantwortlich bin und die ich selbst schaffen kann, sei das Erwartete wirklich möglich und wirklich im Kommen.

Nun bin ich nicht nur ein erwartungsvoller Mensch, sondern ich neige auch zur Hochsensibilität. In meinem Falle ist die Wirkung der damit natürlicherweise gegebenen Dialektik fatal: Ich erlebe die Wirklichkeit als ausgesprochen widerständig, und jede, auch jede belanglose Verzögerung meiner Erwartungen trifft mich unmittelbar und heftig. Unter diesen Bedingungen haben sich das religiöse Bild von Wirklichkeit und der religiöse Glaube an die Wirksamkeit bestimmter (dogmatischer und moralischer) Voraussetzungen schon früh deutlich eingetrübt. Dennoch bin ich beiden über viele Jahre hinweg treu geblieben, habe sie immer wieder anzupassen versucht, nicht zuletzt, weil meine natürlichen Erwartungen in mir keine Ruhe gegeben haben.

Rückblickend konnte das nicht gut gehen: Das religiöse Bild und der religiöse Glaube sind bloß gefährliche Illusionen, meine natürlichen oder eingeprägten Erwartungen an die Wirklichkeit sind schlechtweg nicht wirklichkeitsgemäß. Ab etwa 2004 bin ich interpretatorisch und praktisch in eine geradezu Kierkegaardsche Verzweiflung gerutscht, ab etwa 2008 habe ich für mich einige grundlegende Entscheidungen treffen und so wieder halbwegs Boden unter den Füßen finden können, seit etwa 2013 bin ich in meinem veränderten Interpretieren und in meiner veränderten Praxis halbwegs stabil.

Für Interpretation und Praxis nach der vollzogenen Wende sind wohl folgende Einsichten und Entscheidungen wesentlich: Wir stellen uns der Wirklichkeit nicht, wenn wir uns von Erwartungen (sie seien natürlich da, durch Kontext eingeprägt oder durch Interpretation erzeugt) bestimmen lassen, von Bildern, Fiktionen, Symbolen einer kommenden Wirklichkeit. Wir stellen uns der Wirklichkeit nur dann, wenn wir die wirkliche Wirklichkeit im Hier und Jetzt annehmen und handhaben. Wir müssen uns also zunächst entscheiden für die Annahme und Handhabung des Hier und Jetzt – mit all seinen gegebenen, wirklichen Bedingungen.

Dieser Entscheidung muss eine zweite Entscheidung folgen – als Antwort auf eine sich unmittelbar stellende Frage: Was für ein Mensch will ich im Hier und Jetzt sein, wie will ich mich im Hier und Jetzt halten und verhalten, wie will ich die Wirklichkeit handhaben? Die zweite Frage lässt sich nicht mehr unter Verweis auf ein Kommendes beantworten. Ich muss mich selbst im Hier und Jetzt anschauen, muss möglichst nüchtern anschauen, wie und was ich wirklich bin, wie und was ich sein kann, wie und was ich unter diesen gegebenen, wirklichen Bedingungen sein will.

Ich selbst habe für mich entschieden, zunächst ein Mensch zu sein, der im Hier und Jetzt tatsächlich anwesend ist, der sich nicht mehr von den unzähligen Verheißungen des Wirklichen bestimmen und durchs Leben treiben lässt (was übrigens eine wichtige Voraussetzung dafür ist, ein wirklich dankbarer Mensch sein zu können). Und ich habe für mich entschieden, ein Mensch zu sein, der für diejenigen, die ihm unmittelbar anvertraut sind, wirklich da ist. Ich will ein verlässlicher Mensch sein – gerade auch im Kontext zunehmender Kontingenz.

Nun bleibe ich allerdings ungeachtet aller Einsichten und Entscheidungen der erwartungsvolle Mensch, der ich von Natur aus bin. Auch sind die religiösen Bilder und der religiöse Glaube, mit denen ich aufgewachsen und von denen ich geprägt bin, in mir nach wie vor und unauslöschlich präsent. Was kann ich also tun?

Ich kann im Rahmen des wirklich Möglichen versuchen, die äußeren Bedingungen meines Lebens so einzurichten, dass sie mir helfen, das zu sein und zu bleiben, was ich sein will. Und: Ich kann denkend und schreibend versuchen, meine Einsichten und Entscheidungen zu stabilisieren. In meinem Falle meint stabilisieren zunächst Enttäuschungsverarbeitung. Indem ich mir beständig und in verschiedenen Anläufen immer wieder vor Augen halte, wie die Wirklichkeit wirklich ist, erinnere ich mich zugleich daran, dass sie nicht meinen natürlichen und eingeprägten Erwartungen entspricht – und dass sie dies auch niemals tun wird. Stabilisieren meint aber auch Selbstbindung. Ich verschaffe mir durch eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit möglichst stabile Voraussetzungen dafür, dass ich mich selbst mit meinen Einsichten und Entscheidungen im Wirklichen halten kann.

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