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Montag, 6. Mai 2019

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In seinem Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance versucht Cassirer sich auch an einer geeigneten Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. Um nichts anderes als um dieses Verhältnis geht es zuletzt in allem praktischen Denken. Die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit ist das nervöse Zentrum jedes auf Praxis sich richtenden Interpretierens. An dieser Frage entscheidet sich alles.

Cassirer, dem an einer Erneuerung der Renaissancephilosophie in seiner eigenen Gegenwart gelegen ist, plädiert für einen moderaten, vermittelnden Freiheitsbegriff. Mit der Beobachtung und Benennung natürlicher Gesetze und der mit ihnen gegebenen Notwendigkeiten erschließen sich dem Menschen zugleich Räume des Gebrauchs dieser Gesetze. Räume der Freiheit, wobei Freiheit begriffen wird als die informierte und geschickte Nutzung von Notwendigkeiten, als das versierte Ausspielen der einen Notwendigkeit gegen eine andere. Der von Cassirer entwickelte Freiheitsbegriff der Renaissance bleibt demütig, bescheiden, in seiner Dynamik begrenzt – und steht übrigens dem reformatorischen Freiheitsbegriff recht nahe. So kann etwa Calvin göttliche Vorsehung und praktische Freiheit zusammen denken. Gottes Vorsehung, die in den Notwendigkeiten der Natur in Erscheinung tritt, stimmt mit der Aufforderung durchaus zusammen, bei Krankheit nicht etwa auf göttliche Heilung zu warten, sondern gefälligst den Arzt aufzusuchen – und diesen als Mittel, das die Vorsehung anbietet, praktisch in Anspruch zu nehmen. Dabei wird selbstverständlich die sichtbar freie Inanspruchnahme des Arztes als eingeschlossen begriffen in die unsichtbare göttliche Vorsehung – eine Interpretation, die sich der Absolutsetzung menschlicher Freiheit und einer damit einhergehenden Selbstüberhebung in den Weg stellt (ganz ähnlich ließe sich ja auch über Cassirers Freiheit sagen, dass diese selbst wiederum verborgenen, unbewussten Notwendigkeiten folgt, und dass von ihr daher umso bedachter, zurückhaltender Gebrauch gemacht werden muss – wovon die Renaissancephilosophie noch ein Bewusstsein hatte).

Der demütige Freiheitsbegriff von Renaissance und Reformation geht in der werdenden Moderne gerade auch im Gefolge des cartesianischen Dualismus von Bewusstsein und Natur bei gleichzeitiger Absolutsetzung des Bewusstseins verloren. Der Mensch verfällt der Illusion, sich von den Notwendigkeiten der Natur emanzipieren und diese den eigenen Zwecksetzungen unterwerfen zu können. Der Mensch erscheint nun als ein von den Notwendigkeiten der Natur zwar noch affiziertes, nicht aber mehr nezessitiertes Wesen (Kant) – in meiner eigenen Interpretation übrigens ein säkular-religiöser Rückfall in vorreformatorisch-christliche Illusionen möglicher Welttransformation. Der moderne Dualismus übersieht jedoch (zunächst), dass er sich gerade durch den Verlust des Bewusstseins für die verborgenen Notwendigkeiten praktischer Freiheit den Notwendigkeiten, die er vermeintlich frei ergreift und gebraucht, ungeschützt ausliefert. Jede Praxis, die von sich annimmt, in ihr äußere sich absolute Freiheit, ist letztlich nichts anderes als eine Erscheinungsform absoluter Notwendigkeit.

Heute können wir uns den modernen Dualismus nicht mehr leisten. Dafür wissen wir inzwischen allzu viel über die natürlichen Notwendigkeiten, die unsere vermeintliche Freiheit bedingen. Und wir wissen allzu viel über die durchaus dramatischen Folgen dieser Freiheit, dieser tatsächlichen Unfreiheit. Dessen ungeachtet haben wir den cartesianischen Dualismus kulturell noch lange nicht überwunden. Ein unverzichtbarer Beitrag wäre die Entwicklung eines neuen Freiheitsbegriffs. Nicht eines Begriffs freier Unfreiheit, sondern eines Begriffs unfreier Freiheit. Daran mit Nachdruck zu arbeiten, wäre wohl eine der dringlichsten Aufgabe gegenwärtigen Denkens.

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