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Montag, 29. April 2019

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Lese gerade das Buch Zeit der Zauberer. Wolfram Eilenberger versucht hier in einer schönen Komposition die Existenzen Walter Benjamins, Ernst Cassirers, Martin Heideggers und Ludwig Wittgensteins in ihrem Neben-, Zu- und Gegeneinander zu begreifen. Erste Eindrücke in aller Kürze.

Es ist auffällig und erstaunlich, wie stark im Denken der vier Zauberer die alten religiösen und metaphysischen Wirklichkeitsinterpretationen nachhallen – während die vier doch gleichzeitig (mehr oder weniger bewusst) hartnäckig daran arbeiten, diesen Interpretationen endgültig den Grund zu entziehen. Verändertes Denken kann sich dem Schema seiner Gegner wohl nie ganz entziehen.

Erschreckend ist die Selbst-Zentriertheit, ja, die In-Sich-Selbst-Verkrümmtheit, die sich insbesondere im Denken Benjamins, Heideggers und Wittgensteins Ausdruck verschafft. Wenn Denken nichts anderes ist als Äußerung des Selbst, wenn es nicht zugleich auch einen Beitrag leistet zur Emanzipation vom Selbst, dann kann dieses Denken durchaus aufklären. Befreien kann es nicht. Es wird vielmehr zur Gefahr für die Freiheit.

Für Wittgenstein empfinde ich ein besonderes Erbarmen. Seine Lebenspraxis demonstriert in radikaler Weise einen der möglichen Auswege, auf den die unvermeidliche und unhintergehbare Grenzziehung des Tractatus logico-philosophicus zutreiben kann: religiöse Mystik, weltflüchtige Askese, verbissene Moralität. Ein trauriges Beispiel für das Ende der Freiheit durch Aufklärung.

Bei Cassirer sehe ich mich in meiner Selbstentlastung bestätigt (zu Nr. 419): Ein verändertes Denken (und damit eine veränderte kulturelle Praxis) braucht keine neue Sprache, kein neues Symbolsystem. Letztlich ist es gleichgültig, welche Begriffe wir verwenden und in welcher Weise wir Begriffe verbinden. Entscheidend ist die Interpretation von Wirklichkeit, die sich in Sprache Ausdruck verschafft. Gleiche oder zumindest ähnliche Interpretationen können in ganz unterschiedlichen Sprachen in Erscheinung treten. Und hinter einer vermeintlich gleichen Sprache können sich ganz unterschiedliche Interpretationen von Wirklichkeit verbergen. Die Frage eines veränderten Denkens und einer veränderten Praxis lautet also nicht: Wie neu sprechen? Sondern: Wie neu interpretieren? Damit müssen wir uns aber zugleich von jedem sprachumkonstruktivistischen Idealismus verabschieden. Zweifellos haben Interpretationen auch etwas mit Sprache zu tun. Sie werden auch durch Sprache gebildet und sie lassen sich in Sprache fassen. Zum großen, wohl zum überwiegenden Teil sind sie jedoch dem Zugriff und dem Ausdruck durch Sprache entzogen. Interpretationen sind, so seltsam dies erscheinen mag, vor allem vor- und außersprachlicher Natur – und damit weitgehend unverfügbar. Nicht zuletzt politisch.

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