Es sind zwei wesentliche Selbsterinnerungen, die Calvin damit ermöglichen will: Einerseits die Erinnerung daran, dass uns nichts Wirkliches verfügbar ist. Nicht die Notwendigkeiten (Gesetze) der Natur, nicht unsere vordergründig freie Praxis, noch nicht einmal unsere vordergründig freien Interpretationen. Andererseits die Erinnerung daran, dass uns die Unverfügbarkeit des Wirklichen im Wirklichen nicht zu fatalistischer Passivität verurteilt. Es ist möglich (im besten Sinne sogar not-wendig), auf das Angesicht der Wirklichkeit, auf das äußere Erscheinungsbild der Welt, auch auf den Wirklichkeitszustand und die Wirklichkeitsbefindlichkeit des Menschen Einfluss zu nehmen. Eben durch den vordergründig freien Gebrauch von Interpretation und Praxis. Negativ richten sich diese beiden Erinnerungen gegen Selbstüberschätzung und Selbstentschuldung, positiv fordern sie Demut und Verantwortung. Jeweils beides zugleich und gleichermaßen.
Nachbemerkung: Ein Freund hat mich kürzlich an die Abschlussrede erinnert, die Admiral William H. McRaven 2014 vor Graduierten der University of Texas in Austin gehalten hat. Als Video ist die Rede hier zugänglich, als Transcript ist sie hier hinterlegt.
Das ist traditioneller US-amerikanischer Calvinismus in seiner reinsten und strengsten Form – der angesichts gegenwärtiger Entwicklungen geradezu nostalgisch anmutet, nach dem man sich gelegentlich durchaus zurücksehnen könnte. Die Einsichten und Empfehlungen, die McRaven den Absolventen für deren je eigene Wirklichkeitsschlacht mit auf den Weg gibt, haben durchaus etwas für sich, haben durchaus etwas calvinisches an sich. Und doch leben sie als moderne Säkularisate calvinisch imprägnierten Denkens und Lebens von einer entscheidenden, ganz uncalvinischen Voraussetzung: Sie setzen darauf, dass wir nicht bloß Einfluss nehmen können auf das Angesicht einer an sich unverfügbaren Wirklichkeit. Sie setzen darauf, dass wir die Wirklichkeit tatsächlich verändern, transformieren können. Hin zu einem Besseren.
Calvinisch gewendet, dürften die zehn Einsichten McRavens gerade nicht unter den Leitspruch der University of Texas gestellt werden: „What starts here changes the world“. McRaven hätte die Absolventen vielmehr auffordern müssen, täglich in der Früh das Bett zu machen – in dem Wissen, dass sich die Wirklichkeit dadurch nicht wesentlich ändert, dass sie das Wesen der Wirklichkeit nicht ändern können. Dann wäre seine Rede aber wohl kaum viral gegangen.
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