Seiten

Montag, 6. Mai 2019

464


Jede Erzählung kann auch anders erzählt werden. Jede Erzählung zeitigt auch Folgen, die dem Erzähler, hätte er sie gekannt oder zumindest geahnt, wohl frühzeitig den Mund verschlossen hätten.

Neulich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine erschütternde Beobachtung: Pippi Langstrumpf ist schuld! Pippi – nicht leuchtendes Symbol der guten Möglichkeiten freiheitlicher Existenz. Sondern: Pippi – eine vielfach privilegierte egozentrische Göre, die mit der ihr eigenen Ignoranz und mit den ihr eigentümlichen Machtmitteln aus der etablierten bürgerlichen Mechanik und Moralität ausbricht, um sich die Weltwirklichkeit nach ihren eigenen Vorstellungen und zu ihrem eigenen Vorteil zurechtzubasteln. Pippi – der Archetypus also ausgerechnet für Erscheinungen wie Donald Trump. Pippi – mitverantwortlich für bürgerliche Gesellschaften, die sich im Getriebe rechtsstaatlich-demokratischer Verfahren nach personaler affektiver Machtpolitik sehnen und so allererst den Boden bereiten für Erscheinungen wie Trump. Hätte Astrid Lindgren das vorhergesehen! Das Vorbild ihrer Erzählung wäre wohl eher Annika geworden. Und eben nicht Pippi.

Man mag von der humorvollen Umerzählung und Diagnostik der Frankfurter Allgemeinen halten was man will. Richtig ist: Man muss sich gut überlegen, welche Erzählung man in die Welt setzt und ob man sie überhaupt in die Welt setzt. Über mancher Erzählung muss Arkandisziplin (Bonhoeffer) gewahrt werden. Jesus hat der Öffentlichkeit das Messiasgeheimnis wohl nicht ohne Grund bis zuletzt vorenthalten. Vielleicht hat er geahnt, dass das Messiasgeheimnis auch so etwas wie das Christentum als Möglichkeit in sich birgt – als ungewollte aber auch merkwürdig unvermeidliche Neben- oder Langzeitwirkung.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen