Mit Dietrich Bonhoeffer teile ich die Überzeugung, dass „eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“. Das meint auch, dass wir im Prozess des Erkennens in gewissem Sinne immer nur das werden können, was wir sind. Unsere Existenz ist Chance und Schranke des Erkennens zugleich. Mein eigenes Erkennen ist das eines Grenzgängers, dem es unmöglich ist, in einer bestimmten Fakultät oder Disziplin heimisch zu werden. Ich denke übergreifenden Gedanken hinterher, kein Gedanke bleibt prinzipiell ausgeschlossen, aber jeder Gedanke wird auch nur soweit verfolgt, als er für meine eigene Denkbewegung etwas auszutragen verspricht. Den Ansprüchen der jeweiligen Fakultäten werde ich damit kaum gerecht. Doch in dem so praktizierten Verfahren äußert sich die Absicht, das Ganze im mageren Stückwerk zunehmend komplexer Multidisziplinarität auffinden und aneinanderlegen zu lernen.
Ich strebe durchweg nach Abstraktion, suche und ziehe große Linien. Die sich dabei bildenden Aussagen hängen einerseits davon ab, dass andere genau hingeschaut und aufgedeckt haben, andererseits laufen sie in ihrer distanzierenden Zuspitzung stets Gefahr, den Anhalt in der Wirklichkeit aufzugeben. Das muss ich mir kritisch bewusst halten. In meinen Texten äußert sich ein eher unfreiwilliger Selbstaufklärungsprozess. Was sich aufklärt, wird pointiert festgehalten und dennoch weiter befragt. Vieles bleibt im Prozess geahnt, behauptet, unreif oder gar schief. Doch nachträglich rückwärts schreitend lässt sich ebenso vieles zurechtrücken und ausrichten. Die Aussagen meiner Texte sind nicht selten wertgeladen, bisweilen geradezu paränetisch. Wichtig ist daher, hinter jeder steilen Wendung immer auch das Wagnis einer vorläufigen emanzipatorischen These zu sehen. Ich selbst halte meine Denkbewegung nach wie vor für gewagt. Unter meinen eigenen Erkenntnisbedingungen erscheint sie mir aber ohne Alternative.
Leitend sind für mich jene drei Fragen, um die üblicherweise der Wettstreit der Fakultäten ausgetragen wird: Was ist die angemessene, vielleicht sogar die wahre Interpretation der Wirklichkeit? Was ist die rechte, vielleicht sogar die gerechte Gestaltung der Wirklichkeit? Und was sind die Aussichten, die sich mit wahrer Interpretation und gerechter Gestaltung der Wirklichkeit verbinden? In diese Fragen sind immer auch die unentbehrlichen Gründungsversuche des Politischen einverwoben: die Suche nach Legitimation, also nach Stütze und Vollmacht, und die Suche nach Ideen, also nach Macht und Verheißung des Politischen. Ausgangspunkt meines eigenen (biographisch bedingten) Gründungsversuchs ist die Selbstvergewisserung über die bei Johannes Calvin vorgefundene (theologische) Ordnung der Wirklichkeit und über ihre Relevanz im Raum des Politischen. Die Offenbarungsabhängigkeit der calvinischen Setzungen provoziert bei mir die Erweiterung des Blickwinkels auf die Weltdeutungen in reformatorischer Tradition überhaupt und die Prüfung ihrer Positionierung gegenüber neuzeitlich-säkularen Wirklichkeitskonzeptionen. Vorerst rücken hier Erkenntnistheorie und politische Philosophie der Aufklärung in den Mittelpunkt. Insbesondere habe ich die Konfrontation mit der Kantischen Kritik gesucht.
Mein erster Zugang zu Kant ist noch durchdrungen von offenbarungstheologischem Dogmatismus einerseits und transzendentalphilosophischem Idealismus andererseits. Ausschlaggebend ist daher an diesem Punkt meiner Denkbewegung nicht so sehr die hier vorläufig unternommene, nachträglich nur in ihrer Argumentationsrichtung haltbare Verhältnisbestimmung, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Bestimmung unmittelbar in die Säkularisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts hineintreibt. Rasch drängt sich mir die deutlich größere und gewichtigere Frage nach der Verbindungslinie zwischen christlicher Religion und okzidentaler Moderne auf. Zunächst unauffällig, ist damit die allmählich verstörende Frage nach dem Wesen des Christentums gestellt. Meine eigene Antwort auf diese Frage wird mich schließlich dazu nötigen, sowohl den traditionellen Dogmatismus des religiösen als auch den neuzeitlichen Idealismus des säkularisierten Christentums abzulegen.
Den Zugang zum Begriff der Säkularisierung eröffnen mir vor allem Max Weber und Hans Blumenberg. Dies wirkt insofern prägend, als dass Weber und Blumenberg die Sensibilität zeugen zum einen für das Selbstsäkularisierungsgefälle der christlichen Religion gerade in ihrer protestantischen Gestalt, zum anderen aber auch dafür, dass die moderne Säkularität alles andere ist als der Triumph einer wirklichkeitsmächtigen Vernunft, sondern der Notakt eines allmählich vergottlosten Subjekts, das sich angesichts einer theologischen Bewegung des Gottesentzuges auf sich selbst zurückgeworfen sieht – zurückgeworfen auch auf die dunkle Hoffnung, die allein noch zur Verfügung stehende säkularisierte Vernunft möge ausreichen, die Welt angemessen zu deuten und recht zu gestalten. Die okzidentale Säkularisierung wird also nicht nur als theologisch heraufbeschworen begriffen, sondern auch in ihrer Fragwürdigkeit und Zerbrechlichkeit ernst genommen. Diese Grundstimmung durchdringt alle folgenden Überlegungen.
Weber und Blumenberg machen misstrauisch. Sie machen misstrauisch nicht nur gegenüber der herkömmlichen religiös-christlichen, sondern auch gegenüber der modernen säkular-christlichen Erzählung. Beide Weltkonstruktionen erscheinen plötzlich als instabile Gerüste einer mehr oder weniger verzweifelten Selbstermächtigung angesichts einer totalitären Wirklichkeit. Dieser Eindruck wird für mich Antrieb für eingehende Neuerkundungen des Christlichen und seiner spezifischen Folgeerscheinungen: Vom calvinischen Offenbarungsdenken ist der Weg nicht weit zur frühen Theologie der Krisis. Karl Barth, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann werden mir zwischen den Zeiten zu wichtigen Wegweisern. Ihre Umorientierung führt mich immer auch zurück zu Søren Kierkegaards Anfrage an Theologie und Praxis des Kulturchristentums. Ergänzt wird die theologische Besinnung durch eine dogmenhistorische Neuerkundung, vornehmlich angeleitet durch die Befragung und Ausdeutung des dogmatisierten Christentums bei Adolf von Harnack. Hinter Harnack steht immer auch Marcion, eine marcionitische Denkfigur als Protest gegen Theologie und Praxis der christlichen Orthodoxie. Und schließlich folgt einer konsequent verlängerten Kantischen Kritik unausweichlich die Auseinandersetzung mit der postmodernen Philosophie, auch und vor allem mit der Dekonstruktion Jacques Derridas. Hinter dieser Philosophie verbirgt sich immer auch der massiv gegen das abendländische Christentum gerichtete Nihilismus Friedrich Nietzsches, zumeist vermittelt durch die Ontologie Martin Heideggers.
Die vorläufige Frucht dieser Neuerkundungen ist somit nicht allein ein „Apfel vom Baume Kierkegaards“ (Ernst Troeltsch), sondern überdies ein Apfel vom Baume Marcions und Nietzsches. Es wächst und fällt als Frucht (zunächst) nicht weit vom Stamm eine abgründige Ent-Täuschung. Allen religiösen und säkularen, allen physischen und metaphysischen Gültigkeiten der christlich-abendländischen Tradition, ihren vermeintlichen Sicherheiten und Geltungsansprüchen wird die Gründung entzogen. Jede religiöse und säkulare Wirklichkeitsdogmatik wird mir zweifelhaft – einschließlich ihrer überkommenen Begriffe. Jede religiöse und säkulare Wirklichkeitspraxis wird bedenklich – einschließlich ihrer (politischen) Instrumente. Zugleich wächst meine Sorge vor den Folgen, die eine so radikale Entsicherung – wenn sie kulturelle und politische Wirkungen zeitigt – für die Existenz des Abendlandes haben muss. Nahrung findet diese Sorge anfangs in der Diagnose einer entsicherten Kultur und Politik bei Carl Schmitt, namentlich in seiner politischen Theologie und den daran anschließenden Diskursen, dann aber auch im beeindruckenden Krisenbewusstsein der im weitesten Sinne poststrukturalistischen politischen Philosophie.
In dieser Lage bricht mir die akzidentelle Begegnung mit der Theologie Dietrich Bonhoeffers eine hilfreiche Bahn – insbesondere die durchaus existenzielle Entdeckung seiner Reflexion eines religionslosen Christentums in den Briefen aus dem Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht in Tegel. Auch Bonhoeffers Theologie ist Frucht Kierkegaards, Marcions und Nietzsches. Sie hält das kritische Anliegen der frühen Dialektischen Theologie und das liberale Anliegen Adolf von Harnacks gleichermaßen präsent, nimmt aber auch in ersten Ansätzen die dekonstruktive Geste postmoderner Philosophie vorweg. Bonhoeffers Theologie unterbricht mir nicht gerade den dogmatischen Schlummer, aber sie wirkt doch als Katalysator in der dogmatischen (und ethischen) Krise. Die Anverwandlung dieser Theologie verschafft meiner Suche die gerade jetzt so dringend notwendige Unabhängigkeit. Rasch deuten sich bislang ungeahnte Aussichten an, die mir dabei helfen, die erfahrene Beschleunigung im Denken weiter zu verschärfen und mich dabei letztlich auch über Bonhoeffer hinauszubewegen.
Der entscheidende Impuls Bonhoeffers ist die Erlaubnis, mich tatsächlich als „wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen“ begreifen zu dürfen. Gemeinsam mit der durch Kierkegaard, Marcion und Nietzsche vollzogenen Christentumskritik, aber auch mit dem alarmierenden katholischen salto mortale Carl Schmitts sind nun Möglichkeit und Notwendigkeit gegeben, zu den Anfängen des okzidentalen Denkens zurückzukehren und das christliche Abendland noch einmal neu nach seiner Gründung zu befragen. Im Anschluss an Bonhoeffer, überraschenderweise aber auch im Anschluss an die postmoderne Gegenwartsphilosophie kann damit nichts anderes gemeint sein als eine Neuvergewisserung, womöglich sogar eine Neuinterpretation des messianischen Ereignisses. Auch und besonders angeregt durch Jacob Taubes, Giorgio Agamben, Alain Badiou, Slavoj Žižek und Gianni Vattimo führt mich meine eigene Neuinterpretation des Christusereignisses hinein in eine Neuaneignung paulinischer Theologie, auch in eine vergegenwärtigende Wiederentdeckung ihrer politischen Implikationen.
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