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Dienstag, 6. August 2019

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Als Einzelne sind wir immer auch Phänomene, sind wir immer auch Symptome (des Allgemeinen) unserer Zeit. Ich selbst begreife mich mittlerweile auch als (vorauseilendes) postsäkulares Phänomen, als Symptom einer im gegenwärtigen Übergang der Epochen zumindest möglichen, vielleicht kommenden, vielleicht einzufordernden Postsäkularität.

Der Gedanke einer postsäkularen Zeit oder einer postsäkularen Gesellschaft ist fragwürdig, ich habe ihn zunächst misstrauisch hin und her bewegt, dann aber auch einige Versuche unternommen, mir diesen Gedanken anzueignen, ihn mir zueigen zu machen (siehe etwa Nr. 121, 126, 136, 137, 139). Der Gedanke ist nicht erst von Jürgen Habermas (2001) in die Welt gesetzt worden – wie man es in Deutschland hier und da anzunehmen scheint. Der Begriff der Postsäkularität taucht schon – soweit ich sehe – Anfang der 1990er Jahre im philosophischen und theologischen Diskurs auf. Hier bezeichnet er einerseits die Sorge vor einer schwindenden Redlichkeit des Denkens, vor der Aussicht, das Projekt der Säkularität könne unvollendet bleiben, andererseits aber durchaus auch die Hoffnung auf eine neue Emergenz des Religiösen.

In den 2000er Jahren lässt sich ein gewisser Hype des Begriffs beobachten, vor allem in seiner diagnostischen Dimension. Hintergrund ist die nicht zuletzt in der Konfrontation mit globalen Phänomenen gemachte Erfahrung der Permanenz des Religiösen, der Notwendigkeit einer auf Dauer gestellten, gerade auch politischen Handhabung der Religion. Besonders auffällig spiegelt sich diese Erfahrung in der politikwissenschaftlichen Theorie internationaler Beziehungen wieder, hier wird der Begriff der Postsäkularität regelrecht gängig.

Für mich ist der Gedanke einer postsäkularen Zeit vor allem in seiner normativen Dimension relevant und prägend. Hier lassen sich in den vergangen beiden Jahrzehnten drei Interpretationsbewegungen ausmachen (auch wenn sich diese Bewegungen selbst nicht durchweg und nicht immer des Begriffs der Postsäkularität bedienen): Zunächst ist da die Forderung nach einer Wiedererweiterung und Neuvervollständigung der Vernunft. Die Vernunft soll sich nach den zahlreichen substanziellen Selbstamputationen der vergangenen Jahrhunderte das Andere, das Größere der Wirklichkeit wieder neu zugänglich machen und erschließen. Diese Forderung ist verbunden mit der Hoffnung auf ein neues, religiöses und damit religiös-repräsentatives Zeitalter.

Dieser Forderung korrespondiert in gewissem Sinne die (Habermas’sche) Vorstellung einer Leerstelle in der säkularen Wirklichkeitsinterpretation. Offenbar gelingt es der säkularen Rationalität nicht auf Dauer und nicht in ausreichendem Maße, die Moralität und Sozialität moderner Gesellschaften zu unterfüttern und zu stabilisieren. Sie bedarf daher der kommunikativen Ergänzung auch durch die religiöse Rationalität. Postsäkularität meint damit also auch so etwas wie eine neue Vervollständigung, allerdings nicht im substanziellen, sondern im funktionalen Sinne. In postsäkularer Zeit wird der religiösen Rationalität wieder neu eine (gesellschaftliche und politische) Funktion zugestanden. Die säkulare Rationalität muss sich dafür neu öffnen, die religiöse Rationalität darf sich neu kommunikativ einbringen – allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich als säkular sprachfähig erweist und notfalls die erforderliche Übersetzungsleistung erbringt.

Die dritte normative Interpretationsbewegung des Postsäkularen nimmt das Säkulare selbst ins Visier. Diese Bewegung weiß um das metaphysische und religiöse Erbe, das die Säkularität nach wie vor in sich trägt, von dem diese geradezu lebt – und sie will dieses Erbe mit all seinen repräsentativen und hierarchischen Restbeständen endgültig hinter sich lassen, will es überwinden. Postsäkularität in diesem Sinne will auf eine reine, auf eine nackte profane Existenz hinaus, auf eine (gesellschaftliche und politische) Existenz, die kein Anderes der Weltwirklichkeit mehr kennt, sondern der die Weltwirklichkeit selbst das Andere geworden ist.

Dieser historisch-materialistischen Interpretation steht mein eigener Begriff von Postsäkularität – zu dem ich in philosophischen und theologischen Diskursen bislang kein Entsprechendes gefunden habe – insofern nahe, als dass auch ich in postsäkularer Zeit auf eine radikale Verweltlichung der Welt jenseits religiöser und metaphysischer Erzählungen und Aufladungen hoffe. Jenseits der historisch-materialistischen Interpretation gehe ich aber überdies davon aus, dass uns selbst das Andere als Gültiges im Wirklichen ein Nichts werden muss. Was wir jenseits dieses Nichts ausfindig machen und praktisch werden lassen müssen (und dies vorauseilend bereits in postsäkularer Zeit), ist ein neues Absurdes. Ein Absurdes, das die Gültigkeitsabsurditäten der Religion, der Metaphysik, der Säkularität, des Materialismus und des Nihilismus hinter sich lässt, das sie aufhebt und überwindet. Das Absurde der Ungültigkeit.


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