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Mittwoch, 3. Juli 2019

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Erste ganz vorläufige Formulierung einer Intuition. Über eine kulturelle Prägungsdifferenz, die mir nicht wenig zu erklären scheint.

Okzidentale, christlich imprägnierte, eschatologisch, also von einem möglichen strahlenden Letzten her orientierte Interpretation und Praxis sind bestimmt von der Sehnsucht und dem Streben nach einem auf Dauer gestellten weltwirklichen Zustand, nach pax et securitas als Ziel- und Endzustand der Geschichte. Herausragendes Merkmal dieses Endzustandes ist die Ordnung. Alles ist hier recht, dem idealen Recht gemäß befriedet. Alles ist hier gesetzt, durch ideale Gesetze gesichert.

Anmerkung: Wohl nirgendwo sonst sind Sehnsucht und Streben nach diesem Zustand untergründig so ausgeprägt wirksam wie in Deutschland – dem bis heute wesentlichen Träger römisch-christlicher Kultur.

Orientalische, islamisch imprägnierte, am Gedanken der Vorläufigkeit, der Nichtletztlichkeit alles Wirklichen orientierte Interpretation und Praxis sind bestimmt von der Sehnsucht und dem Streben nach einer auf Dauer gestellten Bewegung, nach unsteter Pilgerschaft durch eine bewegliche und nicht zu beruhigende Geschichte hindurch. Herausragendes Merkmal dieser Pilgerschaft ist die Offenheit. Nichts darf als definitiv erscheinen und auftreten, nichts darf endgültig gelten und auf Dauer verbinden. Auch keine Ordnung, auch kein Recht, auch kein Gesetz.

Die so markierte okzidental-christlich imprägnierte Kultur einerseits und die orientalisch-islamisch imprägnierte Kultur andererseits haben eine spezifische Ähnlichkeit: Beide Kulturen sind unausgesetzt unterwegs. Beide transformieren die Wirklichkeit unentwegt und unermüdlich. Das Motiv der Transformation könnte jedoch unterschiedlicher kaum sein: Die eine Kultur transformiert die Wirklichkeit in ihrer Sucht nach Endgültigkeit im Wirklichen, die andere Kultur transformiert die Wirklichkeit auf der Flucht vor Endgültigkeit im Wirklichen.

Von diesem Gedanken ausgehend, lassen sich wohl zahlreiche Differenzen in den Kulturäußerungen bezeichnen und begreiflich machen.

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