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Dienstag, 29. Januar 2019

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Unsere jüngste Tochter bringt aus dem Französischunterricht eine Aufgabe mit nach Hause. Sie soll uns fragen, ob wir auf unser Deutschsein stolz sind. Die Frage führt uns rasch zu der grundsätzlicheren Frage danach, was Stolz überhaupt bedeuten soll, bedeuten kann. Wir unterhalten uns eine Weile, werden uns allerdings nicht einig.

Für mich ist Stolz natürlich ein überladen repräsentativer Begriff und schon als solcher fragwürdig. Abgesehen davon ist dieser Begriff aber überhaupt kein irgendwie haltbarer Zugang zur Wirklichkeit, keine tragfähige Beschreibung von Wirklichkeit. Wer stolz ist, der beruft und stützt sich auf höchst flüchtige Gültigkeiten, die zudem vor allem dies sind: zugefallen. Das gilt für Gültigkeiten wie unsere Nationalität, aber auch für unsere vermeintlichen Leistungen. Denn das, was wir als unsere Leistung präsentieren, was wir anerkannt oder gar bewundert wissen wollen, lebt zum weit überwiegenden Teil von Voraussetzungen, zu denen wir selbst rein gar nichts beigetragen haben.

Meine Tochter ist hier weniger grüblerisch, deutlich entspannter. Wenn ein Begriff wie Stolz zu einer inneren oder äußeren Erfahrung zu passen scheint, dann wird er intuitiv und ganz unbedarft gebraucht, ohne ihn zu problematisieren. Warum auch nicht? Unsere Kinder gehören zu einer Generation, für die sich die Welt der Begriffe bereits weitgehend entsubstanzialisiert hat. Begriffe geben Wirklichkeit nicht mehr wieder, sie versuchen auch nicht mehr, Wirklichkeit zu begreifen. Die Generation unserer Kinder fliegt mit Begriffen gewissermaßen durch die Wirklichkeit hindurch, huscht mit ihren Begriffen über die Wirklichkeit hinweg. Nichts hat mehr wirklich Bedeutung. Begriffe sind bedeutungslos. So what?

Die jugendliche Entsubstanzialisierung der Begriffswelt hat durchaus etwas Begrüßenswertes. Mit ihr gehen die großen (religiösen und metaphysischen) Illusionen unserer westlichen hermeneutischen Tradition unwiederbringlich verloren. Die Entsubstanzialisierung der Begriffswelt leistet einem radikalen und in seinen Folgen noch nicht absehbaren Kulturabbruch Vorschub. Gerade darin liegt aber zugleich auch ihr bedrohliches Potenzial. Mit ihr gibt die Generation unserer Kinder – jenseits der Hermeneutik – zugleich auch die Macht der Begriffe auf. Sie gibt eine Macht auf, deren wir zur Selbst- und Wirklichkeitshandhabung dringend bedürfen.

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