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Donnerstag, 30. Dezember 2021

814

Die Auseinandersetzung mit 2 Thess 2 und der daran sich anschließenden Politischen Theologie hatte überraschende Nebenwirkungen. Nach Ereignis und Wendung des vergangenen Jahres bin ich innerlich erstaunlich sortiert. Der Blick ist noch einmal zurecht gerückt, oder treffender: neu geklärt und ausgerichtet.
Es ist ausgerechnet die therapeutische Wendung meines Denkens, die mich nicht etwa zu mir selbst, sondern zurück zur Sache führt. Nicht für mich selber denke ich, sondern für die Sache, für die alles entscheidende Sache, an der wir stehen, an die wir gestellt sind. Und es führt fatal in die Irre, wenn wir uns selbst mit der Sache verwechseln.
An der alles entscheidenden Sache zu stehen, um im Streit für diese Sache (für andere) das sein zu können, was um der Sache willen vonnöten ist, heißt immer, nicht mehr das sein zu können, was man ist. Es ist immer so etwas wie eine umgekehrte κένωσις gefordert (Phil 2), eine Selbstverleugnung, eine Selbstentsagung, eine Selbstentäußerung, ein Leerwerden um der Sache willen, im Dienst der Sache.
Es ist für mich also höchste Zeit, den entscheidenden letzten, bislang nie konsequent gewagten, nie endgültig vollzogenen Schritt zu gehen: mein ganz eigentümliches eigenes Kreuz auf mich zu nehmen (Mt 16,24) und endlich die Erwartung abzulegen, irgendwer würde mir irgendwann den Pfahl aus meinem Fleisch ziehen (2 Kor 12). Dieser Schritt möge das Kommende im kommenden Jahr sein.

Dienstag, 28. Dezember 2021

813

Einer dieser unverfügbaren Momente, in denen uns die Wahrheit findet: Das Geheimnis der ἀνομία (2 Thess 2,7), dem ich nun schon seit so langer Zeit auf der Spur bin, hat sich mir in einem unerwarteten Augenblick entschlüsselt. Viele Jahre der bisweilen verzweifelten Arbeit an Begriffen und Interpretationen erweisen sich plötzlich als unverzichtbar, als not-wendig.
Die nun anstehende öffentliche Entschlüsselung des Geheimnisses der Anomie wird zweifellos wirkungslos bleiben. Und in gewissem Sinne ist das auch gut so. Für mich selbst bleibt jedoch ein kostbarer Moment, der mich unmittelbar an Luthers Formulierungen in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften (1545) erinnert, mit deren Hilfe er seinen inneren Zustand nach der Entschlüsselung des Geheimnisses der Gerechtigkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen versucht: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief dann die Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln […]. Wie ich vorher die Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.“

Sonntag, 26. Dezember 2021

812

In unserem Leiden in und an Systemen leiden wir tatsächlich am Wirklichen. Wenn und indem wir Systeme zu verändern versuchen, wollen wir eigentlich das Wirkliche verändern. Das aber ist nicht möglich.
Systemveränderungen ändern also nichts an unserem Leiden. Wenn und indem wir uns Systemveränderung zur Aufgabe machen, geben wir uns lediglich übergangsweise einen virtuellen und immer flüchtigen Sinn. Jenseits dieses Sinns wartet ein anderes System, an dem wir früher oder später erneut leiden werden. Anders aber unverändert.

811

Das Einzelne ist nicht das Individuelle. Das Individuelle, das unteilbare Ganze, das Wesentliche ist eine idealistische Fiktion. Das Einzelne dagegen ist das Wirkliche: das unendlich fragmentierte Fragment (siehe Nr. 512, 699, 744).

Freitag, 24. Dezember 2021

810

Gestern Kinostart von Matrix Resurrections. Selbstverständlich war ich dabei, und wieder einmal habe ich gut daran getan, den Film zunächst einmal alleine anzuschauen (siehe Nr. 422).

Mittwoch, 22. Dezember 2021

809

Eine besonders trügerische Illusion, von der sich vor allem Theologen und Philosophen gerne blenden lassen, ist die, dass Wirklichkeit so arrangiert sei oder dass sie sich so arrangieren ließe, wie ein schlüssig komponierter Text.

Dienstag, 21. Dezember 2021

808

Endlich sitze ich noch einmal denkend am Schreibtisch. Meine mir selbst gestellte Aufgabe: Annäherung an einen eigenständigen, vor allem an Schmitt und Agamben anknüpfenden und sich zugleich von ihnen absetzenden Begriff des Katechon. Wenn irgendein Begriff der Tradition zuhanden ist, in den ich nahezu alles hineinlegen kann, was ich in therapeutischer und politischer Hinsicht zu sagen habe, dann ist es wohl dieser.

807

Entscheidend ist nicht, welche Bedeutung Begriffe haben. Entscheidend ist, welchen Gebrauch wir von ihnen machen.

Samstag, 18. Dezember 2021

806

Das Eigentümliche unseres Bewusstseins, insofern es Vernunft ist, liegt darin, dass es sich unausgesetzt etwas vornimmt, was unmöglich ist und unvermeidlich scheitern muss. Als Bewusstseinswesen können wir jedoch nicht hinter unsere Vernunft zurück, vielmehr sind wir auf sie geradezu angewiesen.
Das Klügste, was wir daher tun können, ist dies: die Vernunft unausgesetzt mit ihren eigenen Mitteln schlagen, sie unausgesetzt auch gegen sich selbst wenden. Kurz: nicht vernünftig sein, sondern Vernunft vernünftig handhaben.

Dienstag, 14. Dezember 2021

805

Ein lieber Mensch überreicht mir heute überraschend ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk: Groot aus dem 3D-Drucker. Da hat wohl jemand im Verlauf des Jahres irgendwann einmal aufmerksam zugehört.
Der kleine Kerl hat bereits seinen Platz auf meinem Schreibtisch eingenommen. Gleich neben der schwarzen Luther-Figur von Playmobil (siehe Nr. 193). Groot soll mich hier künftig an zweierlei erinnern (siehe Nr. 803). Zum einen: Jeder Begriff, den wir uns aneignen oder verschaffen, kann im Grunde genommen alles und nichts repräsentieren. Unseren Begriffen wohnt nichts Wesentliches inne. Zum anderen: Kommunizierend erzählen und interpretieren wir uns unablässig aneinander vorbei. Es gibt jedoch einige wenige Menschen, deren Gewordensein und Sosein die Voraussetzungen dafür mitbringen, dass wir uns ungeachtet aller unüberwindlichen Differenz kommunizierend nicht nur verständigen, sondern sogar annähern können. Diese Menschen gilt es zu hüten wie ein Kleinod.

Samstag, 11. Dezember 2021

804

In den vergangenen Wochen bin ich immer wieder durch Momente der Verärgerung hindurchgegangen. Verärgert war ich vor allem über mich selbst. Wer seiner Natur Raum lässt im Wirklichen, der wird nicht verhindern können, dass sich diese Natur hier und da verselbständigt, dass sie sich den Zügeln der Interpretation entzieht, dass sie ihren je eigenen Kausalitäten Folge leistet. Mit entsprechenden Folgen.
Was ich mir nun noch einmal dringend aneignen muss, ist Luthers robuste Gelassenheit. Pecca fortiter, sed fortius fide! Unter diesem Diktum lebend, müsste auch jeder Ärger über das sich Ereignende und über das daraus Werdende überwunden sein (siehe auch Nr. 140).

803

Kommunikation ist wichtig, unverzichtbar geradezu. Wir dürfen uns jedoch nicht täuschen: Auch kommunizierend nähern wir uns nicht dem an, was insbesondere nach Kant als Ding an sich bezeichnet wird. Wir können auch kommunizierend nicht das Wesen und damit die wesensmäßige Einheit der Dinge freilegen. Nicht, weil wir nicht dazu in der Lage sind, nicht, weil wir eine (göttliche) Grenze nicht zu überschreiten vermögen. Vielmehr deshalb, weil es so etwas wie das Ding an sich schlechtweg nicht gibt. Es gibt kein Wesen des Dings oder der Dinge, es gibt keine Einheit des Dings oder der Dinge. Das Wesen der Dinge, so müsste man uneigentlich sagen, ist nicht die Einheit, sondern die unendliche Differenz.
Was uns also kommunizierend gelingen kann, ist nicht etwa die Herstellung von Annäherung und Einheit, sondern allen- und bestenfalls die Moderation und Kanalisierung von Differenzen. Schon die Einsicht, dass niemand von uns mit seinen Interpretationen einem Ding an sich näher stehen kann als andere, dass wir uns in kommunikativer Begegnung lediglich interpretierend durch die Wirklichkeit bewegen können, im Wirklichen aber nie bei irgendeinem einigenden Ding oder Wesen ankommen werden – schon diese Einsicht müsste uns, so sollte man meinen, in ausreichendem Maße demütigen.

Freitag, 26. November 2021

802

In der vergangenen Woche wurde ich unfreiwilligerweise in eine dieser für mich so befremdlichen Gender-Debatten hineingezogen. Und weil sich meine (!) Gegenüber bislang noch nicht einmal im Ansatz mit meinem Denken beschäftigt hat, wurde mir meine Distanz zum populären Gender-Diskurs rasch als Selbstimmunisierung eines alten weißen Mannes ausgelegt, der seine abstrakten Anfragen nur deshalb formulieren kann, weil er aus einem privilegierten Status heraus argumentiert, den ihm vor allem sein Geschlecht ermöglicht hat. Aus guten Gründen habe ich das Gespräch möglichst rasch leer laufen lassen. Ich hätte meiner Gegenüber wohl sagen können: Tolle, lege! Aber das hätte ihr zu viel zugemutet. Noch.

In mir hinterlässt der kleine Disput vor allem zwei Wahrnehmungen: Zunächst ist mir der Kampfmodus völlig fremd, in dem derartige Debatten geführt werden. Ich streite nicht mehr über Gültigkeiten. Wie und warum auch? Und: In meiner Interpretation bleibt die durch Gleich-Gültigkeit hergestellte Gleichheit der Geschlechter weit hinter der Gleichheit zurück, die durch den Zugang der Gleich-Ungültigkeit möglich würde. Der Gleich-Gültigkeits-Gleichstellungsdiskurs verharrt im Schema der konfrontativen Anspruchsbehauptung. Der Gleich-Ungültigkeits-Gleichheitsdiskurs dagegen würde das eröffnen, was der aktuelle Gender-Krieg keinesfalls und niemals ermöglichen wird: eine veränderte Form der willentlichen Zuwendung und Gemeinschaft ganz unabhängig auch vom Geschlecht.

801

Zu Nr. 779: So unangenehm wie Wertschätzung und Dankbarkeit, so unangenehm sind mir Geschenke. Sowohl in der Rolle des Gebenden, noch viel mehr aber in der Rolle des Empfangenden.
In meiner Interpretation repräsentiert ein Geschenk eine willentliche personale Beziehung. Ohne willentliche personale Beziehung ist ein Geschenk überflüssig oder gar unpassend, irreführend oder heuchlerisch ausgehändigter Repräsentant des Nichts.
Soll sich dagegen im Geschenk willentliche personale Beziehung ausdrücken, dann kann das Geschenk, wenn ich Gebender bin, nur völlig unzureichend darstellen, was ich geben will. Bin ich Empfangender, dann ist mir das Geschenk immer bloß kümmerliches Symbol für das, was ich an willentlicher personaler Beziehung erwarte. Erinnerung daran, dass ich nicht empfangen werde, was ich zu empfangen erhoffe.
Geschenke sind mir also unangenehm, weil sie für mich vor allem Repräsentanten des Schmerzes sind, den mir die unvermeidliche und unüberbrückbare personale Differenz zwischen Menschen bereitet. Geschenke bereiten mir Schmerzen, nicht Freude. Ausnahmen sind sehr selten.

800

Die Denkimpulse eines lieben muslimischen Freundes zu Nr. 798 veranlassen mich zu einigen kurzen ergänzenden Sätzen.

Samstag, 20. November 2021

799

Zu Nr. 729: Die in den vergangenen Monaten vollzogene Abkehr meines Denkens und Lebens vom Motiv der Postsäkularität, die gleichzeitige Hinwendung zum Motiv der Präkulturalität, lasst sich auch beschreiben als Abkehr vom Politischen bei gleichzeitiger Hinwendung zum Therapeutischen.
Nicht, dass damit das Politische irrelevant würde. Es bleibt relevant und zentral, jedoch bloß noch mittelbar.

Freitag, 19. November 2021

798

Am Ende eines langen Denkweges werden die Sätze kurz und schlicht. Ich kann mein Wirklichkeitsproblem und die damit sich mir stellende Aufgabe nun knapp fassen.

Sonntag, 14. November 2021

797

Zu Nr. 785: Was uns auch immer ängstigt – es ist streng genommen nicht die Angst selbst, der wir zu entkommen versuchen. Unsere je spezifischen Ängste bereiten uns unspezifische Schmerzen. Und es sind unsere unspezifischen Schmerzen, die wir lindern, die wir, wenn möglich, meiden wollen.
Es ist, so meine Annahme, der unspezifische Schmerz des In-Der-Welt-Seins, der uns bis heute den Weg Kains anempfiehlt: den Weg der Sesshaftigkeit und Kulturbildung, den Weg der religiösen oder metaphysischen Befestigung, den Weg der technisch optimierten Bequemlichkeit, insgesamt den Weg der Schmerzeinhegung durch Schließung.

Anmerkung: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Schmerzempfindlichkeit und Schließungsneigung. Und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Maß der Fähigkeit zur Interpretation und der jeweils gewählten oder schlicht vollzogenen Weise des Schließens.

796

Bei der traurig-resignierten Beobachtung eines an Gott, letztlich an sich selbst leidenden Menschen noch einmal zwei (reformatorische) Erinnerungen.
Zum einen: (Repräsentative) Disziplin und (reservative) Freiheit – sie sind analog in dem, was wir uns von ihnen versprechen, durchaus hier und da auch in dem, wie sie sich praktisch auswirken. In ihrer Begründung und in ihrer inneren Wirkung könnten sie jedoch nicht ferner auseinander stehen. Hier Gültigkeit, dort Ungültigkeit. Hier Kampf, dort Frieden. Hier Qual, dort Aufatmen.
Zum anderen: Wer an Gott, wer letztlich an sich selbst leidet, der wird, wenn er sich wirksame Linderung verschaffen und vielleicht sogar so etwas wie Befreiung erfahren will, bereit werden müssen, aus jenem inneren Schema auszubrechen, das ihn im Leiden an Gott und an sich selbst gefangen gesetzt hat. Wer zu dieser Bereitschaft nicht durchringt, dem ist sein Leiden letztlich lieber als die Freiheit.

795

Beim Blick auf den Ort, an dem ich lebensgeschichtlich derzeit stehe, drängt sich mir eine Analogie auf: Ich bewege mich durch jene Spanne, durch die sich das werdende Christentum zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert bewegt hat. Jenseits des messianischen Ereignisses gilt es, sich dem andauernden In-Der-Welt-Sein zu stellen, ein auf Dauer gestelltes messianisches Weltverhältnis zu leben.
Die Herausforderung liegt dabei darin, ganz in der Welt, sogar ganz Welt zu sein, dem Schema der Welt jedoch nicht zu folgen, sich vom Schema der Welt nicht assimilieren zu lassen. An dieser Herausforderung ist das Christentum grandios gescheitert. Gerade in seiner Grandiosität äußert sich sein Scheitern.

Freitag, 12. November 2021

794

Mitten in seiner Enttäuschung an Gott und Welt, an der Wirklichkeit des Göttlichen in der realen Welt, bleiben dem existenziell Gottsuchenden letztlich nur drei Auswege: der Kompromiss, die Mystik oder die Entzauberung.

Samstag, 6. November 2021

793

Was heißt es, prä-religiös, prä-metaphysisch, prä-moralisch, prä-kulturell zu leben? Es heißt, diesseits aller entlastenden Erklärungs- und Bindungserzählungen anzuschauen, auszuwählen und zu entscheiden. Als Einzelner, ohne Allgemeines.
Allerdings: Heute ist dies allein unter den Bedingungen der je vorgefundenen Kultur möglich. Das ist das Gefängnis des Allgemeinen, in dem und mit dem wir als Einzelne unvermeidlich leben müssen.

792

Denke Dein Leben. Und dann lebe, was Du denkst. Nimm Dir für beide Schritte ausreichend Zeit. Gehe den zweiten Schritt nicht vor dem ersten. Bedenke aber auch, dass Du das unentdeckte Land Deines Denkens nicht denkend, sondern nur lebend entdecken kannst.

791

Von verschiedenen Seiten wird mir gespiegelt, meine jüngsten Blog-Einträge seien allzu düster. Ich selbst nehme das nicht wahr. Sicher: Dass ich nun, nach vielen Jahren des Denkens, damit beginne, so zu leben, wie ich denke, erfordert ein hohes Maß an Nüchternheit und Wachsamkeit. Und doch ist dieser Beginn ein Grund zur Freude.

790

Ich muss fragmentarisch leben, um das sein zu können, was ich bin. Dabei gilt es, aufmerksam und behutsam zu bleiben. In der Zahl, der Qualität und dem Maß der Widersprüchlichkeit der Fragmente des Lebens liegt eine stets bedrohliche Überlastung und Sprengkraft.

789

Im als ob nicht leben heißt, sich an die Wirklichkeit wirklich zu binden, ohne von ihr wirklich gebunden zu sein.

Samstag, 30. Oktober 2021

Samstag, 23. Oktober 2021

787

Wessen Weg mein eigener Weg auch immer kreuzt: Der andere Weg, der Weg des anderen ist immer zu anders und zu lang, um ihn mitgehen zu können. Es bleibt der Hauch flüchtiger, zumeist wirkungsloser Begegnung. Und der im Hauch immer mitwirksame Abschiedsschmerz. Der Schwerz angesichts unmöglicher Begleitung und unmöglicher Wirkung.

Sonntag, 17. Oktober 2021

786

Notiz im Anschluss an Röm 7. Wir können uns darüber, was Ursache, was Wirkung ist, nie sicher sein. Ohne Zweifel ist es meine reservative Erzählung, die mich zum unbedingten Dasein, zum bedingungslosen Geben im Wirklichen bewegt. In der kritischen psychoanalytischen Außenansicht lässt sich aber auch anderes behaupten. In meinem Dasein, in meiner Haltung des Gebens könnte sich auch etwas anderes äußern: Kompensation und Vermeidung.

Mittwoch, 13. Oktober 2021

785

Zu Nr. 719 und 734: In den vergangenen Monaten habe ich mich meiner Angst gestellt. Mittlerweile kann ich sie benennen, kann sie bezeichnen, kann darauf zeigen:

Nicht haben dürfen.

Das ist meine existenzielle Angst.
Und vielleicht ist das eine der wesentlichen existenziellen Ängste, eine Angst des Existierenden schlechthin.
Alles Denken, alles Tun ist der Versuch, auch dieser Angst zu entkommen.


Sonntag, 10. Oktober 2021

784

Als was auch immer sich meine gegenwärtige Lebensstation erwiesen haben wird: Es wird auch die Zeit gewesen sein, in der ich begonnen habe, so zu leben wie ich denke. In der ich, tätig wartend, mein Leben meinem Denken anzunähern begonnen habe. Diese Zeit wird als eine gefährliche und schmerzhafte in Erinnerung bleiben. Aber auch als eine unverzichtbare.

Freitag, 1. Oktober 2021

783

Gebunden im Sein müssen wir der Freiheit Raum verschaffen.
Der Freiheit verbunden müssen wir der Bindung im Sein Raum geben.
Im Handgemenge zwischen Sein und Freiheit schreiten wir als Existierende durch die Wirklichkeit.

Die gefährlichsten Irrtümer, denen wir verfallen und erliegen können:
Sein als einzige Wirklichkeit behaupten.
Freiheit als mögliche Wirklichkeit vorstellen.
Sein und Freiheit verwechseln oder vermischen.

Freitag, 17. September 2021

782

Wer trägt, wer hält mich? Niemand.
Was trägt, was hält mich? Nichts.
Lediglich meine Interpretation, meine Fiktion, mein Glaube.
Der Augenblick dieser Entdeckung ist der Augenblick zwischen Verzweiflung und Mündigkeit.

781

Wir sind Produkte und halten uns für Konstrukteure.
Wir können nicht anders als anzunehmen, wir seien Konstrukteure.
Beides gilt zugleich.

Sonntag, 12. September 2021

780

Wer bin ich? Der, der ich jeweils für den anderen sein muss. Oder will.

779

Es befremdet mich, es stößt mich ab, wenn ich von Menschen als Reaktion auf meine Praxis, die ihnen zugute kommt, Wertschätzung oder Dankbarkeit erfahre. Zumindest dann, wenn Wertschätzung oder Dankbarkeit von jenen geäußert wird, die mir unmittelbar nahe sind, denen ich mich unmittelbar verbunden habe. Zum einen fühle ich mich damit fälschlicherweise in die übliche Gültigkeitsmechanik von Geben und Nehmen einsortiert. Zum anderen haben Wertschätzung oder Dankbarkeit immer etwas funktional Steriles an sich. Und diese Sterilität wird der willentlichen Personalität meiner Praxis in keiner Weise gerecht. Sie liegt mit ihr geradezu im Streit.

778

Eine weitere Beobachtung zum Böckenförde-Diktum (siehe Nr. 21 und 595). Zunächst: Nie zuvor in der Geschichte des modernen Staates war die Präsenz des Öffentlichen unmittelbarer, nie zuvor war die einflussnehmende Macht des Öffentlichen größer als heute. Dann: Nie zuvor war das Öffentliche unabhängiger vom Staat, nie zuvor war es der Kontrolle und Steuerung durch den Staat so deutlich entzogen. Und schließlich: Nie zuvor war das Öffentliche flüchtiger, nie zuvor war seine Bewegung so unberechenbar wie heute.
Im Angesicht dessen meine Frage: Wo um alles in der Welt sollen die Kinder dieser Öffentlichkeit das noch hernehmen, worüber sie um der Existenz des modernen Staates Willen verfügen müssen? Die Kraft des Nicht-Öffentlichen vermag hier zweifellos kaum noch etwas auszurichten. Zumal das Nicht-Öffentliche immer auch ein Produkt des Öffentlichen ist und zunehmend sein wird.

Mittwoch, 8. September 2021

777

An sich ist alles Wirkliche bedeutungslos. Das heißt aber nicht, dass es uns nichts mehr zu sagen hätte. Vor Jahren habe ich in der Auseinandersetzung mit der Matrix-Trilogie formuliert, der Glaubende müsse ein Meister des Gesetzes werden. Es gilt, das Wirkliche in seiner Verfügbarkeit, vor allem aber auch in seiner Unverfügbarkeit gebrauchen zu lernen. In diesem Sinne, zu diesem Zweck muss uns das Wirkliche unausgesetzt Aufklärung und Belehrung sein.

Donnerstag, 19. August 2021

776

Alles Denken, zumindest das religiöse und metaphysische, lässt sich als Versuch interpretieren, Enttäuschung zu vermeiden oder Enttäuschung zu verarbeiten. Denkend entwerfen wir Erzählungen, mit deren Hilfe wir die künftige Wirklichkeit unserer Hoffnungen sicherzustellen oder unseren erfahrenen Hoffnungsverlust zu handhaben versuchen. Alles Denken ist damit immer eine Form der Distanzierung vom Wirklichen. Denkend sind wir unausgesetzt darum bemüht, der unmittelbaren, schmerzhaften Wahrheit des Wirklichen auszuweichen, zu entkommen.

Nachgedanke: Manchmal frage ich mich, ob Menschen wie Kant auch bereit gewesen wären, ihre im Laufe ihres Lebens und Denkens entwickelte Wirklichkeitserzählung über Bord zu werfen – gesetzt den Fall, die Wirklichkeit wäre ihnen gnädig gewesen und ihre Hoffnungen wären ohne ihr Zutun tatsächlich wirklich geworden. Ich jedenfalls trage diese Bereitschaft nach wie vor in mir. Weil mir das, was ich zu denken genötigt bin, nach wie vor nicht gefällt. Und es gelingt mir schlechtweg nicht, meine Wirklichkeitshoffnungen, die ich natürlicherweise in mir trage, denkend abzutöten.

Mittwoch, 18. August 2021

775

Eine kurze Vorbeobachtung zu einem übergroßen Vorhaben (siehe Nr. 737 und 740): Die Aufgabe, sich einer prä-religiösen, prä-metaphysischen Interpretation des Wirklichen neu anzunähern, ist besonders eindringlich vorweggenommen in der symbolisch so aufgeladenen und schwer zu entschlüsselnden Verhältnisbestimmung von Verheißung und Gesetz, die Paulus in Gal 3 andeutet und in Gal 4 und 5 gerade auch für die Lebenspraxis zu entfalten versucht.
Erste, ganz vorläufige Fragen, die sich hier stellen: Was ist die abrahamitische Verheißungserzählung? Was meint es, prä-gesetzlich (prä-religiös, prä-metaphysisch) aus Verheißung zu leben? Ist prä-gesetzliche Existenz auch jenseits des Gesetzes denkbar, möglich? Wie lässt sich diese Existenz vorstellen – wo wir doch als Existierende in Interpretation und Praxis vollgesogen sind mit Gesetz, mit den Prägungen des Gesetzes, wo wir zugleich von Existierenden eingehüllt, eingeschlossen sind, die nichts anderes kennen und exekutieren als das Gesetz, und dies selbst in post-gesetzlichen Gewändern? Ist, wie ist es möglich, in Interpretation und Praxis dem Schema des Gesetzes, das seine Aufgabe an uns erfüllt hat, endgültig zu entrinnen?
Im Grunde genommen präzisiert also die Frage nach prä-religiöser, prä-metaphysischer Existenz noch einmal die Frage nach dem richtigen Leben im falschen.

Donnerstag, 12. August 2021

774

Eine weitere Urlaubslektüre – ich blättere mich noch einmal durch Agambens Herrschaft und Herrlichkeit. Einer dieser analytischen und diagnostischen Kraftakte, deren wir derzeit so dringend bedürfen.

Dienstag, 10. August 2021

773

Noch einige Sätze zu Hararis Kurzer Geschichte der Menschheit.

Freitag, 6. August 2021

772

Einige Zwischeneindrücke zu Hararis Kurzer Geschichte der Menschheit – vorläufig und verkürzt formuliert.

Donnerstag, 5. August 2021

771

Wir werden nicht los, was wir durch unsere Interpretationen zu bekämpfen versuchen. Mir selbst ist es bislang nicht gelungen, den tief in meiner Natur angelegten und durch meine religiöse Prägung nachdrücklich beförderten präparativen Messianismus abzulegen, ihn hinter mir zu lassen (siehe auch Nr. 45).
Alles, was ich mir in meinem Leben als Aufgabe gestellt habe und stelle, war und ist – mal mehr, mal weniger offensichtlich – auf Ankunft ausgelegt. Auch wenn ich nie der konstruktivistischen Utopie verfallen bin, mir das, worauf ich warte, selbst verschaffen zu können, so war in mir doch immer etwas darauf aus, zumindest die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass irgendwann irgendwie kommen, dass ankommen kann, worauf ich warte.
Und nun schreite ich mit großen Schritten hinein in mein letztes Lebensdrittel – und ertappe mich nach wie vor und immer wieder bei irgendeinem präparativen Akt. Entgegen jeder mir mittlerweile zur Verfügung stehenden Interpretation. Und obwohl die Zeit schön längst über meine Erwartungen hinweggeschritten ist, obwohl mein gewordenes Leben das, worauf ich warte, gar nicht mehr zulassen kann. Wie oft muss man eigentlich über sich selbst den Kopf geschüttelt haben, bevor man seinen interpretatorisch gewonnenen Einsichten in Haltung und Praxis endlich zu folgen vermag?

Mittwoch, 4. August 2021

770

Die beste Antwort auf Differenz ist Schweigen. Zugleich die unmittelbar auffangende, ableitende Tat.

Montag, 2. August 2021

769

Ein lieber Freund hat mir die Kurze Geschichte der Menschheit von Harari empfohlen – und rechtzeitig vor dem Urlaub zugeschickt. Die ersten Seiten sind durchaus kurzweilig und vielversprechend – vielversprechend vor allem wegen des aufgeklärten, nominalistischen Zugangs zur Wirklichkeit. Und wegen der nüchternen Einsicht in den fiktionalen Charakter der kulturbildenden, selbstermächtigenden Erzählungen jenes Wesens, das wir Mensch nennen.
Was sich jedoch bereits auf den ersten Seiten erahnen lässt: Harari kennt offenbar keine nominalistische Trauer. Er weiß nichts von der erschütternden Verlusterfahrung, mit der sich der zuletzt zum Nominalismus gezwungene Suchende in der Begegnung mit der Substanzlosigkeit menschlicher Wirklichkeitserzählungen konfrontiert sieht. Wer jedoch als Nominalist nicht das Leid der Trauer in sich trägt, wer also letztlich nie wirklich hat suchen müssen, der wird nicht selten konstruktivistisch übermütig – gerade auch im Umgang mit den beiden großen Lücken, die es zu schließen gilt, ohne dass dafür noch Substanzen zur Verfügung stünden: mit der Lücke des Sinns und mit der Lücke der Moral. Was ich hier abseits meiner aktuellen Urlaubslektüre von Harari weiß, ist nicht wirklich verheißungsvoll. Aber ich werde es ja sehen. Keine Schließungen vor der Zeit.

Sonntag, 1. August 2021

768

Das, was wir Urlaub nennen. Erlaubnis zu entkommen, auf Distanz zu gehen. Erzwungene Stilllegung. Ende der Möglichkeit, sich selbst durch die Gaukeleien der alltäglichen Betriebsamkeit zu blenden. Für mich in den ersten Tagen immer tiefer Sturz und harter Aufschlag. Aufschlag in der Realität der Realität. In der totalen Sinnlosigkeit von Sein und Existenz, vor der wir heute nicht mehr in Erzählungen, sondern bloß noch in Funktionen fliehen können. Und in den ersten Momenten dessen, was wir Urlaub nennen, will mir seine Funktionalisierung immer nur schwer gelingen. In den ersten Momenten des Urlaubs sehe ich mich also immer unmittelbar und unvermeidlich mit der Wahrheit meiner Wahrheit konfrontiert.

Freitag, 16. Juli 2021

767

Wir betrügen uns selbst, wenn wir annehmen, wir hätten die Welt irgendwann unter den Füßen.

766

Marcus Aurelius – gelegentlich blättere ich gerne in seinen Selbstbetrachtungen. Wo mein Denken dem stoischen analog ist: in der Hinwendung zum zumindest oberflächlich Verfügbaren, in der Handhabung der Innerlichkeit, im Streben nach innerer Unabhängigkeit in äußerer, praktischer Absicht.
Nun hängt die innere Unabhängigkeit des Stoikers an zwei eigentümlichen Annahmen: an der Annahme eines unbewegten und unbeweglichen inneren Rückzugsortes, gleichzeitig an der zum Fatalismus hinneigenden Annahme einer harmonischen, unendlichen, gewissermaßen revolvierenden Bewegung aller Dinge.
Beide Annahmen sind Teil einer Erzählung, die heute kaum noch erzählbar ist. Weder die Annahme eines stabilen (göttlichen) Wesenskerns des Menschen, noch die Annahme der Ewigkeit eines wohlgeordneten Kosmos erscheint noch haltbar. Die Handhabung unserer Innerlichkeit kann also nicht mehr auf stoischen Voraussetzungen ruhen.

765

Wer Völker führen soll, der muss Schafe hüten können, der muss es aushalten, Schafe hüten zu müssen.

764

Unsere Bedürfnisse machen uns vergesslich.

Donnerstag, 15. Juli 2021

763

Die wohl gefährlichste, zugleich aber auch die letzte mögliche Angst ist die Angst davor, keine Angst mehr haben zu müssen.

Sonntag, 11. Juli 2021

762

Die zur Totalität hin neigende Offenheit der gegenwärtig heranwachsenden Generation, ihre normative Offenheit für die Gleich-Gültigkeit alles Gültigen, hat auch etwas zu tun mit der Entscheidungsunfähigkeit dieser Generation. Ihr sind die nicht-funktionalen, die (religiös oder metaphysisch) substantiellen Kriterien des Entscheidens abhanden gekommen. Sie hat aber auch den Mut zur Entscheidung verloren. Den Mut zur Absonderung und zum Verlust.

761

Jeder Aufgabe, die uns zuteil wird, wohnt eine Versuchung inne: die Versuchung des Rufs und des Sinns.

760

Es gibt Augenblicke, in denen sich Mut und Zuversicht hier, Übermut und Ignoranz dort kaum unterscheiden lassen. Gefährlich ist in diesen Augenblicken der Trotz, das innere Aufbegehren gegen die Möglichkeit des Scheiterns.

Samstag, 3. Juli 2021

759

Woran ich mich gelegentlich selbst erinnern muss: Die Rollen, die ich im Wirklichen spiele, die unzähligen Varianten des als ob der Repräsentation, die ich darstelle – auch das bin ich. Nicht in dem Sinne, dass ich bin, was ich darstelle. Sondern in dem Sinne, dass ich überhaupt darstellen kann und die Darstellung als solche begreife.

Freitag, 2. Juli 2021

758

Liebe, wie ich sie durch die Interpretation der Ungültigkeit alles Gültigen hindurch begreife, kennt keine Gründe. Darin gleicht Sie der Entscheidung. Jedoch: Unsere Gültigkeitsnatur verlangt danach, mit Gründen geliebt (oder gehasst) zu werden. Wir wünschen, dass der Andere sich mit Gründen für (oder gegen) uns entscheidet. Und als Gültigkeitsnaturen sind wir – bewusst oder unbewusst – ununterbrochen damit beschäftigt, diese Gründe zu liefern.
Für das, was ich Liebe nenne, bedeutet dies: So, also grundlos, will niemand geliebt werden. So will sich niemand lieben lassen. Und: Dass und wie ich liebe, dass und wie und für wen ich mich entscheide, kann immer nur irritieren, kann immer nur auf Unverständnis stoßen (siehe auch Nr. 252).

Donnerstag, 1. Juli 2021

Samstag, 26. Juni 2021

756

Meine Angst in dürren Sätzen – sofern und soweit hier der Ort ist, sie überhaupt zu formulieren.

755

Warum ich mit dem gegenwärtigen Wissenschaftsbegriff und der gewordenen Wissenschaftspraxis so wenig gemein habe: Wissenschaft, wie sie heute verstanden und betrieben wird, vermag noch nicht einmal im Ansatz etwas anzubieten, was uns dabei helfen könnte, eine Welthaltung auszubilden und uns in der Welt zu halten. Alles Forschen, selbst das oft bloß vermeintliche Denken in Theologie und Philosophie, ist zuletzt allein noch ausgerichtet auf funktionale Mitläuferschaft im Getriebensein der Zeit. Wissenschaft überantwortet uns heute restlos dem Gebrauch durch das Wirkliche - und dies gerade auch dadurch, dass sie uns Werkzeuge bereitzustellen versucht zur Steuerung von Kausalität.

Freitag, 25. Juni 2021

754

Die Überwindung der Zuverlässigkeit aufgrund des gegebenen Wortes durch die Zuverlässigkeit aufgrund des gesetzten Rechts mag als kultureller Fortschritt gewertet werden. Mit diesem Fortschritt verlieren wir jedoch zugleich die personale Unmittelbarkeit, die sachliche Schlichtheit und die wirklichkeitsgemäße Beweglichkeit unserer Bindungen.

Mittwoch, 23. Juni 2021

753

Niemand will tatsächlich gerettet werden. Selbst in unserem Leiden an uns selbst neigen wir zur Selbstbehauptung.

Sonntag, 20. Juni 2021

752

Reservative Selbsterinnerung: Die Neuanschauung unmittelbarer Wirklichkeitsbegegnung kann und darf nur einer einzigen Absicht dienen – der vorreligiösen, der vormetaphysischen Selbststabilisierung und Ermutigung im Wirklichen. Absicht kann nur die Wiedergewinnung schwacher, abrahamitischer Unerschütterlichkeit sein – diesseits aller religiösen und metaphysischen Selbstermächtigungsversuche, deren vermeintliche Stärke sich zuletzt als Schwäche erweisen muss.

Freitag, 18. Juni 2021

751

In jeder Entscheidung ist mehr aus- als eingeschlossen. In jeder Entscheidung ist mehr losgelassen als ergriffen.

Freitag, 11. Juni 2021

750

Wir sind Wahrnehmungswesen, die sich ihrer selbst auf je einzelne Weise bewusst werden. Und natürlicherweise erwarten wir, dass wir anderen Wahrnehmungswesen auf die gleiche, eben auf unsere je einzelne Weise bewusst sind. Das ist jedoch unmöglich. Und so durchläuft jeder in der Begegnung mit anderen seinen je einzelnen Prozess der Verhärtung. Zuletzt vibrieren wir alle in der Begegnung mit anderen auf unsere je einzelne Weise zwischen Wahrnehmungssehnsucht und Begegnungsangst.

Mittwoch, 2. Juni 2021

749

Agambens Römerbriefkommentar. Eine beeindruckend gelehrte, unverzichtbar lehrreiche Sammlung begrifflicher Aufklärungen und Differenzierungen. Und doch bleibt Agambens Neuannäherung an Paulus hinter Paulus selbst zurück. Agamben verharrt auf der Schwelle, er verharrt in dem Bemühen, insbesondere den Begriff der Zeit umzuinterpretieren, einen veränderten, messianischen Zeitbegriff anzubieten. Absicht ist es, mit einem veränderten Zeitbegriff zugleich einen veränderten Wirklichkeitsbegriff zu entwickeln, einen Begriff, der zuletzt eine wirkliche (politische) Transformation von Wirklichkeit eröffnet. Das ist geradezu anti-paulinisch. Agamben fehlt die paulinische Bereitschaft, das Weltwirkliche tatsächlich loszulassen. Ihm fehlt die dies allererst ermöglichende paulinische Fiktion, ihm fehlt der paulinische Glaube einer ganz anderen, nicht und niemals wirklichen Wirklichkeit, in der die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden durch- und angeschaut werden darf. Agamben fehlt also der Ermöglichungsgrund für ein paulinisches Verständnis des als ob nicht im eigentlichen Sinne. Agambens als ob nicht tendiert unausgesetzt dazu, ein wirklich nicht zu verlangen, in ein wirklich nicht abzukippen. Und so wundert es nicht, dass auch Agambens grundsätzlich so erhellende begriffliche Aufklärungen und Differenzierungen zuletzt nicht das bereit halten, was Paulus selbst bereit hält: Freiheit. Entängstigende Freiheit.

Dienstag, 1. Juni 2021

748

Die Falle, in die mich meine Natur bis heute bei nahezu jeder Begegnung hineintappen lässt: Sie hält mich in der naiven Annahme, die Begegnung sei unmittelbar, es begegneten sich hier zwei Einzelne abseits und unabhängig vom Allgemeinen. Diese Annahme ist jedoch immer und überall falsch. Jede Begegnung ist immer und überall ins Allgemeine eingehüllt, vom Allgemeinen durchdrungen, vom Allgemeinen aufgeladen. Nie begegnen wir uns noch unmittelbar, sondern immer in unseren vom Allgemeinen zugewiesenen Rollen und Funktionen, verbunden mit den entsprechenden Rollen- und Funktionserwartungen.
Mittlerweile gelingt es mir zumeist recht spontan, meine Begegnungen zu kontextualisieren, sie im Kontext des Allgemeinen wahrzunehmen und selbst entsprechend zu funktionieren. Es gibt jedoch auch Begegnungen, da verweigert sich meine Natur standhaft jeder Kontextualisierung – gegen alle Erfahrung, gegen alle Interpretation. Die unvermeidliche Einsicht ist dann besonders schmerzhaft: auch hier keine Unmittelbarkeit, bloß Rolle, bloß Funktion.



Montag, 31. Mai 2021

747

Bei einer selektiven Relektüre Kierkegaards steht mir noch einmal unmittelbar vor Augen, was mich seinem Denken so nahe bringt: das existenzielle Ringen um das Allgemeine und das Einzelne, um das Einzelne im Gegenüber zum Allgemeinen. Wobei ich feststelle, dass diese Begriffe bei mir anders gefüllt sind als bei Kierkegaard selbst. Was aber durchaus auch in Kierkegaards Sinne ist. Nichts liegt dem Einzelnen ferner, als Epigone zu sein.

Samstag, 29. Mai 2021

746

Noch einmal Welt in Stücken (siehe Nr. 744). Der Einzelne soll als unendlich fragmentiertes Fragment begriffen werden. Was ereignet sich dann im Einzelnen in der unvermittelten Begegnung mit sich selbst als Wirklichkeit, mit anderen Einzelnen als Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit außerhalb seiner selbst?

Donnerstag, 27. Mai 2021

745

Mit Nr. 458 ist alles gesagt. Alles Folgende ist, da darf man sich wohl nichts vormachen: Sublimierung.

744

Welt in Stücken. Verstehen wir die von Clifford Geertz formulierte Beobachtung für einen Augenblick als Diagnose der prä-kulturellen Situation und spitzen diese zugleich anthropologisch zu (siehe auch Nr. 123).

743

Unmittelbare, unvermittelte Begegnung des Bewusstseinswesens Mensch mit sich selbst, mit der Wirklichkeit außerhalb seiner selbst und mit anderen Menschen. Das gilt es noch einmal grundsätzlich und vorgängig in den Blick zu nehmen.

742

Wenn wir uns als Menschen außerhalb unserer Funktionen, abseits der Maskerade unserer Rollen möglichst unmittelbar zu begegnen wagen, dann erhoffen, dann erwarten wir voneinander nie dasselbe, noch nicht einmal das gleiche. Es begegnen sich immer Existenzen, die in dem, was sie geben können und in dem, was sie nehmen wollen, nicht zueinander, schon gar nicht ineinander passen. Und je näher wir das mögliche und erwartetet Geben und Nehmen anschauen, desto größer erscheint uns die Differenz. Das Wagnis der Unmittelbarkeit der Begegnung läuft also, sofern Geben und Nehmen als Gültigkeiten, als Ansprüche behauptet werden, immer auf Gegnerschaft hinaus – zumal die Begegnung von Bewusstseinswesen immer auch durch das brüchige und flüchtige Symbolsystem Sprache vermittelt ist. Bleibt also allein die vermittelte, funktionalisierte Begegnung? Bleibt als negatives Surrogat unmittelbarer Begegnung allein die Begegnung in jenen Rollen(grenzen), die uns durch Religion und Metaphysik zugewiesen werden? Bleibt allein die kulturell vermittelte Begegnung, in der uns das mögliche und erwartbare Geben und Nehmen schon vor aller Begegnung zugewiesen ist?

Dienstag, 25. Mai 2021

741

Je älter wir werden, desto heftiger sind wir von wachsender innerer Abschließung, Verhärtung, Verbitterung bedroht – insbesondere dann, wenn der tatsächliche Wirklichkeitsverlauf von unserem erhofften Wirklichkeitsverlauf gnadenlos und zunehmend quälend abweicht. Dagegen ein Satz des Predigers, der mich schon als Kind hat schaudern lassen: „Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe denn die bösen Tage kommen und die Jahre herzutreten, da du wirst sagen: Sie gefallen mir nicht“ (Koh 12,1). Heute würde ich übertragen: Strebe möglichst früh nach Unabhängigkeit von dem, was die Wirklichkeit dir nimmt und gibt, vor allem aber auch von dem, was sie dir verheißt und dann doch vorenthält. Das ist die beste Vorsorge für jene gegenwärtigen und noch kommenden Tage und Jahre, die uns nicht gefallen, an denen wir keinen Gefallen haben werden.

740

In den vergangenen Tagen wird mir immer deutlicher, dass sich hinter meiner Hinwendung zur Angst, auch zum Begriff der Angst Grundsätzlicheres verbirgt. Angst ist eine Chiffre für die Unmittelbarkeit der Wirklichkeitswahrnehmung an sich, wobei Angst wohl ein ausgesprochen ursprünglicher, unmittelbarer und mächtiger Affekt ist, der sich im Bewusstseinswesen Mensch in der Begegnung mit der Wirklichkeit als Wirklichkeit manifestiert.

739

Wie werde ich Ereignisse los? Indem ich sie als mögliche Wirklichkeit überlaste, überfordere. Wie ermögliche ich Ereignissen Permanenz? Indem ich mich vom Geist, vom Hauch dessen, was in ihnen als mögliche Wirklichkeit entzogen ist, treiben lasse.

738

Unaufhörlich und unvermeidlich existieren wir aneinander vorbei. Koinzidenz, Gleichzeitigkeit von Existenzen ist eine Illusion, ein Wahn.

Sonntag, 23. Mai 2021

737

Bereits in den ersten Tagen meiner Hinwendung zur Angst, zu meiner Angst, stelle ich fest, wie sehr mich diese Wendung als große fundamentale Bewegung fordern wird – die Absicht einer vor-religiösen, vor-metaphysischen Anschauung, Bezeichnung und Handhabung der Angst, meiner Angst. Es ist mir durchaus bewusst: Dieses Vorhaben ist in gewissem Sinne zum Scheitern verurteilt. Wir können weder unserer Religion noch unserer Metaphysik entrinnen, genauso wenig, wie wir unserer Kultur entrinnen können. Und doch ist dieses Vorhaben unabdingbar, notwendig. Es ist jede noch so vergebliche Anstrengung wert.

Viel zu lange hat mich unterbewusst der eigentlich längst durchschaute, heilsgeschichtlich-fortschrittsoptimistische Gedanke einer Überwindung von Religion und Metaphysik, der Gedanke einer nach-religiösen und nach-metaphysischen Zeit in seinem Bann gehalten. Es geht – noch radikaler, als ich es bislang bereits wahrgenommen habe (siehe etwa Nr. 15, 40, 63, 265) – um ein Sichzurückwerfenlassen auf die Anfänge des Verstehens (Bonhoeffer). Abrahamitischer, paulinischer, reservativer Glaube ist vor-religiös, vor-metaphysisch. Wenn wir die Eigenart dieses Glaubens tatsächlich neu verstehen lernen, wenn wir die entängstigende Kraft dieses Glaubens tatsächlich neu wahrnehmen wollen, dann müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine Bewegung hinter Religion und Metaphysik zurück vollziehen. Denn in jedem Danach werden wir das Davor nicht los. In jedem Danach bleiben wir im Schema unseres Gegners gefangen.

736

Im Vergehen von Religion und Metaphysik insbesondere jenseits des deutschen Idealismus war der Denkweg hinein in Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie, aber auch hinein etwa in die Psychoanalyse rückblickend geradezu erwartbar: der Weg hinein in die möglichst unverstellte Unmittelbarkeit der Anschauung des menschlichen Daseins sowohl in seiner Äußerlichkeit als auch in seiner Innerlichkeit. Was dabei zunächst aber noch nicht überwunden wurde: der Drang, geradezu der Zwang zum System.

Freitag, 21. Mai 2021

735

Suchender zu sein ist keine Qualität. Es ist ein Joch.

Donnerstag, 20. Mai 2021

734

Eine ereignishafte Begegnung, ein Begegnungsereignis treibt mich zu einem nächsten Schritt der Selbstaufklärung, damit zugleich zu einem nächsten Schritt in meiner Suchbewegung. Der ereignishafte Impuls ist für mich insofern eine überraschende und irritierende Wendung, als dass er mich noch einmal vorgängiger zu suchen nötigt, mich daran hindert, im Denken weiter voran zu schreiten. Besinnung statt Entfaltung.

Dienstag, 18. Mai 2021

733

Es gibt Daseiendes, über dessen Dasein ich dankbar werden will. Weil es da ist. Ganz gleich, ob auch für mich.

Sonntag, 16. Mai 2021

732

Nun denn. Existenzielle Radikalisierung. Einen Schritt zurück hinter die Kritik von Religion und Metaphysik, einen Schritt zurück hinter die Kritik der Repräsentationen, hinter die Kritik aller repräsentativen Versuche, sich des Weltwirklichen zu bemächtigen.

Begründung: Da ist etwas in uns, das uns als Bewusstseinswesen eigentümlich ist und das uns allererst in die Repräsentationen, in die Bemühungen um repräsentative Selbst- und Weltstabilisierung hineintreibt. Dieses Etwas ist, so meine Annahme: existenzielle Angst. Wenn es nun gelingen könnte, unserer existenziellen Bewusstseinsangst gewissermaßen den Nährboden zu entziehen, wenn es möglich wäre, uns als Existierende vorrepräsentativ zu entängstigen – dann wäre damit mehr gewonnen, als mit einer bloßen Kritik der Repräsentationen. Dann wäre den Repräsentationen selbst der Nährboden entzogen.

Die Annahme einer vormetaphysischen Angst, einer die Flucht in die Metaphysik allererst provozierenden Angst des Existierenden ist nicht neu. Eindrücklich markiert wird sie in jüngerer Zeit bereits bei Kierkegaard, systematisch fokussiert dann vor allem bei Heidegger. Meine intuitive Distanz zum Denken der Angst bei Heidegger: Hier wird noch zu sehr eine Angst an sich bedacht, weniger die Angst für mich, also die je eigentümliche, überaus brüchige Angst des Existierenden. Und allein diese Angst können wir heute nur noch bedenken – mitten in einer zerstückten Welt, in der wir als Existierende selbst nur noch Fragment sind und in der wir unser Selbst nur noch als fragmentiert wahrnehmen und begreifen können.

Auf meiner Suche nach ersten Anhaltspunkten für mein eigenes Denken der Angst in diesem Sinne, werde ich mich zunächst noch einmal Kierkegaard annähern. In der Auseinandersetzung mit ihm bin ich bereits in der Vergangenheit nicht selten fündig geworden.

731

Drei Intuitionen zur geahnten Notwendigkeit einer Kursklärung, Neuakzentuierung, man könnte wohl auch sagen: existenziellen Radikalisierung meines Denkens (im Sinne einer noch deutlicheren Bewegung hin zur Wurzel des sich mir stellenden Problems).

Erstens: Es erscheint mir fraglich, ob und inwiefern sich diese Radikalisierung, die damit verbundenen Ent-Deckungen und Interpretationen tatsächlich noch hier im Blog wiedergeben, abbilden lassen. Man wird sehen.

Zweitens: Mein Denken wird noch innerlicher, noch introvertierter werden, als es bislang ohnehin schon war und ist. Es steht mir ein neuerlicher Schub des denkenden Rückzuges, des zurückgezogenen Denkens bevor.

Drittens: In der unmittelbaren Begegnung, die mir auf meinem Denkweg schon immer unverzichtbar war und die mir nun unverzichtbarer sein wird denn je, werde ich rücksichtsloser werden müssen, ich werde mutiger werden müssen, noch rascher als bisher den Staub von meinen Füßen zu schütteln. Zum Selbstschutz, aber auch zum Schutz derjenigen, die mir begegnen. Denn die Begegnung kann und darf bloß dies sein: Angebot.

Samstag, 15. Mai 2021

730

Eines jener mysteriösen, nicht unmittelbar brauchbaren Symbole aus The Matrix, das man sich zugänglich und brauchbar machen kann – die dunkle Déjà-vu-Szene im Hotel Lafayette:

729

Zu Nr. 718: Im Grunde genommen zwingt uns unsere gegenwärtige Situation in eine jesuanische Kehre. Alles Denken, das in die Öffentlichkeit, in die öffentliche Vermittlung und (politische) Relevanz strebt, ist irregeleitetes und irreleitendes Denken. Der jesuanische Weg führt nicht in die Öffentlichkeit, sondern in die Unmittelbarkeit der Begegnung. Messianische Existenz lässt sich nicht vermitteln – schon gar nicht durch Sprache, durch Text. Sie bedarf, damit sie als solche (zuletzt vielleicht auch subversiv politisch) relevant und wirksam werden kann, der gewinnenden Unmittelbarkeit (soweit man im Wirklichen überhaupt von so etwas wie Unmittelbarkeit sprechen kann).
Wir verlassen den jesuanischen Weg dann, wenn wir – wie die ersten Jünger Jesu selbst – damit beginnen, jesuanische Geschichten festzuhalten und diese Geschichten theologisch zu abstrahieren. Wir verlassen diesen Weg vollends, wenn wir – wie das Christentum es eindrücklich vorgeführt hat – die messianische Existenz dogmatisch und moralisch auszuformulieren und institutionell einzukerkern versuchen.
Eine zweifache Kurskorrektur, besser: Kursklärung steht für mich an. Die Wendung hin zu einer verschärften Unmittelbarkeit der inneren und äußeren Begegnung.

728

Meine Existenz: irgendwo aufgespannt zwischen Maleachi und Simeon. Nicht mehr Maleachi, noch nicht Simeon (siehe Nr. 74).

727

Bei Nietzsche die tragisch-komische Beobachtung: Erfahrung ist das, was wir machen, während wir es eigentlich brauchen.
Im Als ob nicht existierend, sind wir in gewissem Sinne nicht mehr auf Erfahrung angewiesen. Jede gegenwärtige und jede kommende Wirklichkeit ist veränderte, andere Wirklichkeit. Was sollte uns also Erfahrung helfen?
Reservation ist nicht Rückgriff auf Erfahrung. Reservation ist unausgesetzte, aufmerksame, unermüdliche Rekapitulation. Selbsterinnerung an die wesentliche Fiktion der Ungültigkeit, an das geglaubte Aufgehoben- und Überwundensein alles gegenwärtigen und kommenden Wirklichen. Damit sind Verwirrung und Verirrung in der Handhabung des jeweils Wirklichen nicht ausgeschlossen. Aber selbst Verwirrung und Verirrung dürfen als aufgehoben und überwunden geglaubt werden.
Augenblicklich übe ich mich noch einmal eindringlich in Rekapitulation. Dabei greife ich auch auf jenen Text zurück, der mir Jahre eigenen Suchens und Denkens erspart hat: auf Agambens Römerbriefkommentar. Mir ist kein Text bekannt, der dem paulinischen Messianismus in vergleichbarer Weise nahekommt. Leider verharrt Agamben zuletzt schaudernd (vielleicht auch selbstherrlich) auf der Schwelle, scheut vor Sprung und Konsequenz zurück. Aber wer könnte es ihm verdenken. Er müsste bereit werden, alles loszulassen und nachzufolgen.

Mittwoch, 12. Mai 2021

726

Ereignisentzug. Abschiedsschmerz. Aufbruchstimmung.
Here In The Calm After The Storm.

Ereignisse in meinem Verständnis geben nichts. Sie hinterlassen auch nichts. Sie sind keine zumindest flüchtige Realpräsenz des Göttlichen im Wirklichen, die sich dann irgendwie festhalten oder festmachen ließe. Ereignisse können, recht gebraucht, allenfalls erinnern und ermutigen, das loszulassen, das gelassen losgelassen zu lassen, was schon immer losgelassen sein muss. Und sie können erinnern und ermutigen, loslassend weiter zu existieren im unendlichen Aufschub. Erfüllt von der stillen Trauer, die dem reservativ Existierenden eigentümlich ist, aber doch zugleich unerschütterlich hoffnungsfroh.

725

Alles gut!

Populäre Floskel - wie eine Säge am Ast, auf dem wir sitzen. Wir lassen uns zu Tode ignorieren. Wir ignorieren uns zu Tode.

724

Ein Symbol, eine Repräsentation für das, was ich tätiges Warten nenne: Um Isaak als das Verheißene dereinst überhaupt empfangen zu können, musste Abram seiner Frau Sarai bis ins hohe Alter unermüdlich beiwohnen. In biblisch-symbolischer Diktion: Abram musste Sarai bis ins hohe Alter immer wieder aufs Neue erkennen, er durfte darin nicht nachlassen und nicht müde werden. Nur so konnte er die verheißene kommende Wirklichkeit als Möglichkeit überhaupt offen halten.

Nachbemerkung: Merkwürdig – dieser Gedanke und eine Reflexion möglicher Interpretationen ist mir noch in keiner Exegese, auch in keiner Predigt begegnet.

723

Randbemerkung eines mir in seiner Natur und in seiner Suche ähnlichen Menschen: über die Trauer, sich im Beieinandersein seinem Gegenüber überhaupt erklären zu müssen. Symbiotischer Kommunikationsschmerz, der uns die Anerkennung der Differenz des Anderen abnötigt. Symbiotische Naturen sind im Beieinandersein immer leidende und leidend suchende Naturen.

Sonntag, 9. Mai 2021

722

Tätiges Warten. Eine Veränderung der Perspektive mit Folgen, mit Wirkungen. Noch hänge ich in der Perspektive der Tat, muss nun das Warten allererst erlernen. Tätiges Warten ist nicht mehr Gestaltung. Es eröffnet allenfalls noch Räume für mögliche Wirklichkeitsverläufe, für mögliche kommende Weltwirklichkeiten. Und es hält diese Räume dauerhaft offen.

Samstag, 8. Mai 2021

721

Vorhin am Frühstückstisch ein kleiner Disput über die irreführenden Angaben auf Lebensmittelverpackungen. Dazu, so die Aufforderung in meine Richtung, dazu solle ich in meinem Blog mal etwas schreiben. Mein Ausweichmanöver: Das sei nicht unmittelbar Gegenstand meines Denkens. Liebevoll-spitze Entgegnung unserer jüngsten Tochter: Irgendeine Parallele zum Leben wirst Du da schon herstellen können.
Ohne einen qualitativen Vergleich auch nur andeuten zu wollen: Hätten Kant oder Hegel regelmäßig an meinem Frühstückstisch gesessen – ihre Namen wären erst gar nicht ins Bewusstsein des abendländischen Denkens vorgedrungen.

Sonntag, 2. Mai 2021

720

Was mir in diesen Stunden, auf den Tag genau 16 Jahre nach jenem Ereignis, das mein Denken gewendet hat, noch einmal schmerzlich vor Augen steht: Auf die reservativen Ent-Täuschungen muss man sich tatsächlich existenziell einlassen wollen. Sonst endet die Entängstigungsreise, bevor sie überhaupt begonnen hat.

719

Tätiges Warten – eine dritte Wahrnehmung (zu Nr. 708): Ins Warten hineingeworfen, muss ich mich mehr denn je der Angst, meinen Ängsten stellen. Gefordert ist damit nicht mehr so sehr eine interpretatorische Arbeit am Äußeren, an der Praxis, am Politischen. Gefordert ist vielmehr eine interpretatorische Arbeit am Inneren, am Inwendigen, am Hinter- und Untergründigen.
Reservative Entängstigung – das ist die Aufgabe in der Stunde des Wartens. Ich bin dankbar, dass ich mich dieser Aufgabe reservativ aufgeklärt und stabilisiert annähern kann. Meine Vermutung: Diese Aufgabe bedarf in meinem Falle unmittelbarer, offener Begegnung. Und: Nicht alles, was sich in der Begegnung entdeckt, wird sich vermitteln lassen. Aber das wird sich ergeben. Oder auch nicht.

718

Eines dieser tröstlich-erdenden Selbstvergewisserungsgespräche mit einem lieben mitdenkenden Freund. Hilfreiche Erinnerung, die meine gerade beginnende innere Bewegung weiter ermutigt: Unser Denken und seine Wirkungen sind immer eingebettet in große Kulturbedingungen.
Das Paradox unserer gegenwärtigen Bedingungen ist dieses: Die Wirkung unseres Denkens wird umso kraftvoller und größer, je begrenzter, unmittelbarer, intimer es sich äußern kann. Unser Denken muss nahe sein, nicht öffentlich. Dann kann es über uns selbst hinaus Wirkung entfalten.

Samstag, 1. Mai 2021

717

Ein bewegendes Ereignis vor einigen Tagen fordert eine Neuakzentuierung in der Ausformulierung meines Denkens. Bislang habe ich hier im Blog, nicht zuletzt der Konzentration auf die (politische) Tat geschuldet, vor allem die Frage der Macht umkreist, die Frage nach einer nicht mehr repräsentativen Entmachtung des Wirklichen, nach einer nicht mehr repräsentativen Vorstellung und Praxis von Macht im Wirklichen. Erschreckend selten habe ich mich jedoch dem gestellt, was dem Denken der Macht eigentlich vorgelagert sein muss: dem Denken der Angst, dem Denken dessen, was uns in die repräsentative Selbstermächtigung in ihren schillernden Erscheinungsformen allererst hineintreibt. Das reservative Bedenken dieser Angst ist hier bislang kaum präsent. Damit zugleich auch das Bedenken einer nicht mehr repräsentativen Entängstigung. Und dies, wo doch der reservative Zugang zur Wirklichkeit nicht weniger und vor allem dies ist: das Ende der Angst im Wirklichen. Beschämend.

716

Dass wir unseren Weg gewählt haben und ihn gehen, bedeutet nicht zugleich, dass wir Frieden gefunden hätten oder jemals finden könnten über den in unserer Wahl ausgeschlossenen Alternativen – den vergangenen, gegenwärtigen und noch kommenden. Das unterscheidet unsere Wahl von der Zuflucht unter ein Prinzip.

715

Vorsicht Verwechslungsgefahr: Permanenz des Ereignisses hier, Universalisierung des Ereignisses dort. Hier die Bewegung, dort die Gerinnung. Hier das Leben, dort der Tod.

Freitag, 30. April 2021

714

An diesem Ort habe ich schon allzu häufig den Begriff des Ereignisses bemüht. Den Versuch einer eingehenden Bestimmung dessen, was damit gemeint sein könnte, habe ich bislang nicht unternommen. Das ist wohl auch gut so. Was ich Ereignis nenne, lässt sich letztlich nicht greifen, nicht begreifen.

713

Was wir sein wollen: Menschen, in deren Gegenwart und Begleitung der Gang durchs Wirkliche hindurch ein wenig leichter fällt.

Mittwoch, 28. April 2021

712

Was uns bleibt: glücklich werden oder selbstbestimmt leben.
Tertium non datur.
Lediglich ein kleiner interpretatorischer Trick.
Die Bestimmung der Selbstbestimmung als Glück.
Selig, wem dieser Kunstgriff gelingt.

Samstag, 24. April 2021

711

Einige deutsche Künstler haben in einer konzertierten Social-Media-Aktion gegen die in Teilen undifferenzierte deutsche Corona-Politik protestiert. Zu den öffentlichen Reaktionen zwei Beobachtungen.

Freitag, 23. April 2021

710

Was von Kant bleibt – was Kant selbst jedoch nicht zu ertragen vermocht hat: Nichts mehr bietet uns Halt und Zuflucht in dieser Welt, weder im Leben noch im Sterben, als die unbedingte Selbstbindung unseres Willens, die Selbstbindung des Willens unter allen nur möglichen Wirklichkeitsbedingungen.

709

Was, wenn der Fels in der Brandung eigentlich viel lieber ein Fähnchen im Wind wäre?

Mittwoch, 21. April 2021

708

Tätiges Warten – eine zweite Wahrnehmung (zu Nr. 702): Mehr denn je ist nun praktisch gefordert, was sich (zugegeben: nicht wirklich treffend) als richtiges Leben im falschen bezeichnen lässt (siehe Nr. 462, 624). Ganz alltäglich handelnd Dabeisein – und doch nicht dabeisein. Mitmachen – und doch nicht mitmachen. Sich nicht unterscheiden – und doch ganz anders sein (siehe Nr. 392). Mit dem Begriffs- und Handlungsapparat des Falschen auf das Richtige aus sein, auf das Richtige hinwirken. Kurz: Im Ruf verharren, ausharren (siehe Nr. 308, 538). Die inneren Folgen: Eine unausgesetzte Übelkeit angesichts des eigenen Redens und Tuns. Und die unausgesetzte (Bonhoeffersche) Frage nach der Brauchbarkeit.

Sonntag, 18. April 2021

707

Man darf sich nichts vormachen: Hinter der Forderung nach Anerkennung von Vielfalt steckt zuletzt immer auch eine subtile Selbstbehauptung, eine subtile Selbstrechtfertigung. Indem ich fordere, alle Gültigkeiten in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit anzuerkennen, stelle ich ja zugleich sicher, dass meine eigenen Gültigkeiten nicht mehr kritisch befragt werden können. Ich selbst kann mich immer auch hinter meiner eigenen Vielfältigkeitsforderung verstecken, niemand darf mich in meinem eigenen Sosein mehr stören.

Samstag, 17. April 2021

706

Jede sich äußernde Selbstbehauptung, die nicht zugleich von der Einsicht in die Nichtigkeit der je eigenen Gültigkeit durchdrungen ist, kann immer nur unangenehm und abstoßend wirken.

705

Es gibt kein zweckloses Interesse am anderen.

704

Es ist nicht unwesentlich, daran zu erinnern, dass es erst mit dem Bewusstseins- und Interpretationswesen Mensch so etwas wie Zeit und Raum, zugleich auch unvermeidlich so etwas wie Zeitdruck und Raumnot gibt. Der Mensch ist ein Wesen, das allein durch seine pure Existenz beschleunigend und verdrängend wirkt, das gar nicht anders kann, als so zu wirken. Aufhaltend zu existieren, ist dem Menschen als solchem gar nicht möglich.

Anmerkung: Kürzlich im Radio eine dieser letztlich so nutzlosen Klimadebatten. Dabei eine arglose junge Dame, Neurowissenschaftlerin und Journalistin. Ihr naiv-konstruktivistisches Credo: Change by Design – not by Disaster. Nun ja. Laufen und schöpfen, schöpfen und laufen.

Dienstag, 13. April 2021

703

Neulich einen Tag mit einem Menschentypus verbracht, dem ich sonst gerne aus dem Weg gehe: in seiner spezifischen Gültigkeitsrationalität sesshaft geworden, abgeschlossen, nicht mehr fundamental irritierbar, nicht mehr lernoffen für ganz Anderes, zugleich aber in seiner spezifischen Rationalität geläufig, langweilig, ganz und gar nicht irritierend, auf nichts Anderes verweisend. In Gegenwart dieses Typus neige ich dazu, innerlich unausgesetzt die Konfrontation zu proben, zugleich aber äußerlich jede Konfrontation zu meiden. Das ist unbefriedigend, langfristig wohl auch ungesund.

702

Tätiges Warten – eine erste oberflächliche Wahrnehmung (zu Nr. 686): Meine Interpretation selbst rückt zunehmend in den Hintergrund, sie verliert an Unmittelbarkeit, an unmittelbarer Präsenz und Relevanz. In den Vordergrund rückt dagegen das, was ich interpretierend geworden bin, in den Vordergrund rückt der Mensch aus Interpretation. Die potenzielle Wirkung reservativer Existenz wird damit deutlich überschaubarer, begrenzter, zugleich aber konkreter, greifbarer.

Sonntag, 4. April 2021

701

Die Intuition geht durchaus in die richtige Richtung, die christliche Religion, ihre Ereignisse, ihre Bilder, ihre Erzählungen als bloße Form zu begreifen, in der etwas Wesentliches durch die Zeit getragen wird. Man geht jedoch in die Irre, wenn man das Wesentliche, das Eigentliche der christlichen Religion als etwas Substanzielles begreift. Mit diesem bloß reduktionistischen Begriff ist letztlich nichts gewonnen. Es ist vielmehr alles verloren. Nicht allein die Form, sondern zuletzt auch die vermeintliche Substanz. Das ist die kulturelle Lage, in die wir uns gegenwärtig gestellt sehen.

700

Jenseits der Prophetie gibt es für den Propheten nur noch einen Ort: die Herde (siehe auch Nr. 270, 350).

699

Man darf das Einzelne nicht mit dem Individuellen verwechseln.

Sonntag, 28. März 2021

698

Für die Handhabung des Corona-Ereignisses die Metapher des Krieges aufzubieten, erscheint zumindest fragwürdig. Und doch gibt es eine nicht unwesentliche Parallele: Corona lässt sich, wie auch der Feind im Krieg, nicht mit Verfahren besiegen. Hier stößt die politische Maschine, wie sie sich insbesondere in Deutschland etabliert hat, sichtlich an ihre Grenzen.

697

Die politische Verewigung des Ausnahmezustandes, die Agamben befürchtet und für die sich gegenwärtig tatsächlich nicht wenige Anzeichen finden lassen, entspringt nicht etwa dem (bösen) Willen zu politischer Entbundenheit, dem (bösen) Willen zur Entbindung des Politischen. Im Gegenteil. Zur Verewigung der Ausnahme neigt jede Politik, die sich unbedingt gebunden sieht, die sich in guter, vielleicht in bester Absicht an irgendeine Absolutheit als Gültigkeit hängt. Das politische Problem der Ausnahme ist letztlich nur Folge der Unterwerfung des Politischen unter ein Absolutes – es sei physischer, metaphysischer oder religiöser Natur.

Sonntag, 14. März 2021

696

Neulich ein kleiner Disput mit einer Kollegin über die Notwendigkeit der Anerkennung virtueller Kompetenz. Ich habe das Gespräch rasch versanden lassen. Die Kollegin ist klug, richtet ihre Klugheit aber offenbar vorrangig oder gar ausschließlich auf das Funktionale.

695

Problem des Menschseins: die Bestimmung des Verhältnisses von Bewusstsein und Natur. Unser Bewusstsein scheint durchaus nicht unabhängig zu sein von unserer Natur, ist also in gewissem Sinne selbst Natur. Es scheint jedoch nicht in unserer Natur aufzugehen. Da gibt es offenbar, möglicherweise so etwas wie einen nicht-natürlichen, außer-natürlichen, naturfreien Rest.
Wie auch immer. Fehler des Menschseins: die mehr oder weniger scharfe Identifikation des Gegensatzpaares von Bewusstsein und Natur mit Gegensatzpaaren wie Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Licht und Finsternis, Gut und Böse, Gott und Teufel – wobei, je nach Vorprägung und Absicht, sowohl das Bewusstsein als auch die Natur als das Eigentliche, das Lichte, das Gute oder das Göttliche begriffen werden können.
Wer, wie etwa unsere gesamte religiöse und metaphysische Tradition, dieser intuitiven Identifikation in welcher Ausprägung auch immer Folge leistet, der geht in seinen Wirklichkeitsinterpretationen unvermeidlich in die Irre.

694

Was ich lesen möchte und muss, ist nun nicht mehr ohne größeren Aufwand zuhanden. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen eigenen Bücherbestand zu erweitern und die Leerräume im neuen Regal zu füllen. Vor mir liegt gerade ein Stapel jener Texte von Giorgio Agamben, die mein Denken angezogen und angeschoben haben.

Freitag, 5. März 2021

693

Jugendsprache. Schön und gut. Wenn ich allerdings, um als Teil der Gruppe anerkannt zu werden und dort sogar als kompetent zu gelten, in der Lage sein muss, eine Unzahl substanzloser Füllwörter mehr oder weniger unbeholfen daherzustammeln: ganz ehrlich, weiß nicht, keine Ahnung – da läuft dann doch etwas schief.

Sonntag, 7. Februar 2021

692

Der Versuch, den Leidenden an das zu erinnern, wofür er abgesehen von seinem Leid dankbar sein könne, hat immer etwas Zynisches. Wir erwarten doch auch von einem Ertrinkenden keine Dankbarkeit dafür, dass er immerhin keinen Durst leiden muss. Auch hilft es dem Ertrinkenden wenig zu wissen, dass er immerhin bei strahlendem Sonnenschein ertrinken darf. Wir leiden immer an unserem je eigenen Leid. Und dieses Leid ist und bleibt mächtig. Unter welchen Umständen auch immer.

691

In meinen berufsethischen Seminaren fordere ich die studierenden Soldaten – vor dem Hintergrund der idealistischen Versprechungen der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform – regelmäßig zur Bereitschaft auf, das Richtige und Gute auch unabhängig von äußerer Zustimmung und Anerkennung zu tun.
Die Last dieser Zumutung ist leicht. Schwer wird die Zumutung des Richtigen und Guten erst dann, wenn wir auch jenseits aller Entzauberungen, wenn wir jenseits der Einsicht in die Nichtigkeit des Wirklichen, also auch jenseits der Einsicht in die Nichtigkeit des Richtigen und Guten an unserer Wahl festhalten, das Richtige und Gute dennoch zu tun.

690

Wo Andere über Andere längst ihr Urteil gefällt haben, da bin ich selbst noch lange damit beschäftigt, die Anderen als Phänomene aufmerksam zu beobachten und nach Zugängen zu möglichen Interpretationen zu suchen. Allzu oft muss ich diesen Prozess voreilig unterbrechen, weil mich die Wirklichkeitsforderungen dazu zwingen, ein Urteil zu fällen, zumindest ein Urteil zu formulieren.

Samstag, 23. Januar 2021

689

Kultur ist immer auch geronnene Praxis eines kollektiven naturalistischen Fehlschlusses.

688

Von seiner je eigenen Widerständigkeit soll man sparsam Gebrauch machen. Diesen Rat würde ich – gleichviel, für welche Gültigkeit er eintritt – jedem geben. Nur jeweils zu unterschiedlichen Zwecken.

Sonntag, 10. Januar 2021

687

Meine Frau verschickt gelegentlich WhatsApp-Sprachnachrichten. Das ist für sie ein durchaus nützliches Instrument, aber eigentlich gebraucht sie es nur ungern. Vor allem, weil Sie ihre eigene Stimme so befremdlich findet. „Das bin ich nicht“, stellt sie bei der Kontrolle ihrer eigenen Aufnahmen immer wieder fest.

Dass wir uns in unserer aufgenommenen Stimme nicht wiedererkennen, ist ein bekanntes und erklärbares Phänomen. Anders als unsere Zuhörer, hören wir uns selbst beim Sprechen nicht nur äußerlich, sondern zugleich auch innerlich, vermittelt über die Schädelknochen auch über unser Innen- und Mittelohr. Der Knochenschall verändert für uns selbst die Frequenz unserer Stimme, sie klingt uns tendenziell tiefer als anderen, als bloß äußerlichen Hörern. Wenn wir uns dann, etwa in elektronischen Aufnahmen, so hören, wie andere uns hören, sind wir uns plötzlich selbst merkwürdig fremd.

Ein hilfreiches Bild, eine hilfreiche Analogie. Die Differenz der Stimmwahrnehmung und die daran hängende Irritation lässt sich ausdehnen auf die Differenz der Wahrnehmungen überhaupt. Zum einen: Wir sind anders, als wir uns selbst wahrnehmen, und andere nehmen uns anders wahr, als wir uns selbst wahrnehmen. Zum anderen: Wenn wir andere wahrnehmen, dann sind diese anders, als wir sie wahrnehmen. Und nicht allein das. Sie sind anders anders. Vorsicht also bei der Selbst- und bei der Fremdwahrnehmung. Vorsicht vor allem bei der Feststellung dessen, was Wahrheit sein könnte. Irritierbar und irritierend bleiben - das muss wohl die Devise sein.

686

Vor einigen Jahren habe ich in einem publizierten Text die auf Praxis gerichtete Reservation zugleich als tätiges Warten und als wartende Tat beschrieben (siehe auch Nr. 45, 162). Damals und seitdem habe ich der praktischen Differenz, die in diesen beiden Äußerungen reservativer Interpretation angedeutet ist, keine weitere Beachtung geschenkt. Das muss sich wohl ändern. Diese wie jenes ist abhängig von und bezogen auf Zeit, Kontext und Gegenstand. Reservation war für mich selbst bislang vor allem wartende Tat. Nun aber stehe ich vor der doch neuen Herausforderung tätigen Wartens.

Sonntag, 3. Januar 2021

685

Zu Nr. 680: Der tröstliche und ermutigende Gehalt reservativen Glaubens kann weder substanzieller noch funktionaler Natur sein. Dieser Glaube stellt kein Haben, kein Wiedergewinnen, kein Bewirken, kein Werden, kein Erreichen mehr bereit. So gesehen ist er gehaltlos, leer.

684

In unserem Ringen mit der Welt bleiben wir immer auch Sklaven der Welt – egal, ob wir die Welt zu bekämpfen oder zu optimieren versuchen.

683

Gestern die Netflix-Dokumentation der Becomig-Lesereise Michelle Obamas angeschaut. Herausragendes Beispiel eines charismatischen und daher eindrücklichen, zugleich aber unbelehrbaren und daher besorgniserregenden Idealismus. Ein Idealismus, der sich vom Wirklichen nicht beeindrucken lässt, kann viel bewegen und erreichen. Er ist aber immer auch gefährlich weil destruktiv.

Freitag, 1. Januar 2021

682

Neulich einem dieser üblicherweise allestauglichen Allerweltskalendersprüche begegnet: „Ich kann keinen Spagat. Aber bisher gab es keinen Moment, an dem ich dachte: Jetzt könnte nur noch ein Spagat helfen.“ Mit Hilfe dieses Satzes, dem ein feines Lächeln innewohnt und der mich unmittelbar an Heideggers Markierung des Gottesfehls erinnert, können wir uns tatsächlich etwas Wesentliches vor Augen halten: Wenn wir alles Wirkliche, das wir für uns selbst als Vermögen wünschen, einmal auf das reduzierten, was uns auf unserem Weg durch die Wirklichkeit hindurch tatsächlich notwendig ist, dann würden wir möglicherweise feststellen: Was wir brauchen, haben wir auch.

681

Mir sitzt die evangelikale theologia gloriae meiner Kindheit und Jugend nach wir vor wie ein Dämon unter der Haut. Manche Prägungen wird man schlechterdings nicht los. Man muss unausgesetzt und lebenslang bereit bleiben, sie auf immer wieder frischer Tat zu ertappen.