Trösten und ermutigen kann dieser Glaube allenfalls noch (dies allerdings wirkungsreich) durch seinen Begriff der Gnade. Reservativ meint Gnade ein Lossein, ein Entbundensein, damit auch eine Freiheit zum Lassen und zum Gelassensein – dies alles im ontologischen und existenzialen Sinne.
Konkret wird diese Gnade vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen dürfen wir uns als entbunden begreifen von jedem Ruf. Nichts und niemand muss uns mehr durch die Wirklichkeit hindurch treiben. Zum anderen dürfen wir die Weltwirklichkeit sein lassen. Die Wirklichkeit darf sein, wir dürfen das Sein lassen, wie es nun einmal ist. Zugleich dürfen wir aber das Sein auch loslassen, es muss uns nicht mehr zwingen, darf uns keine Befehle mehr erteilen, hat seine Gewalt über uns verloren.
Bislang habe ich meinen eigenen, reservativen Ansatz eher aktivierend begriffen, und dieser Begriff hat zweifellos auch seine Zeit. Nun sehe ich mich durch zahlreiche Umstände dazu genötigt, den entlastenden, auf ein Empfangen hin ausgerichteten Gehalt meiner Interpretation stark zu machen. Mein Sein darf sein. Ich darf sein. Ich darf mein Sein lassen, darf mein Sein sein lassen.
Erste Nachbemerkung: Vielleicht liegt in dieser Wendung die stille, eigentliche Pointe von Luthers Berufsverständnis. Wir dürfen im Stand bleiben, verharren, in dem uns der Ruf reservativ begriffener Gnade ereilt (siehe auch Nr. 106, 270, 308, 462, 538).
Zweite Nachbemerkung: „Der Puritaner“, so Max Weber treffend, „wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein.“ Der moderne Mensch ist Sklave eines doppelten Absolutismus, eines Absolutismus des Rufes und eines Absolutismus der substanziellen oder funktionalen Wirklichkeitsbearbeitung. Diesem wie jenem Absolutismus gilt es den Nährboden zu entziehen. Zunächst und vor allem in unserer eigenen Person.
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