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Dienstag, 25. Mai 2021

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In den vergangenen Tagen wird mir immer deutlicher, dass sich hinter meiner Hinwendung zur Angst, auch zum Begriff der Angst Grundsätzlicheres verbirgt. Angst ist eine Chiffre für die Unmittelbarkeit der Wirklichkeitswahrnehmung an sich, wobei Angst wohl ein ausgesprochen ursprünglicher, unmittelbarer und mächtiger Affekt ist, der sich im Bewusstseinswesen Mensch in der Begegnung mit der Wirklichkeit als Wirklichkeit manifestiert.

Es muss mir, so meine Einsicht, im Kern noch einmal ganz vorgängig um die Beobachtung und Bezeichnung unmittelbarer Wirklichkeitswahrnehmungen gehen. Dahinter verbirgt sich zunächst die (nicht neue oder gar außergewöhnliche) Annahme, dass es gerade auch unsere unmittelbaren Wirklichkeitswahrnehmungen sind, die uns in Religion und Metaphysik, letztlich in die Kultur hineintreiben, also in jene Wirklichkeitsbewältigungskonstruktionen, die uns zwar Schutz und Sinn stiften, an denen wir aber zugleich leiden und die sich zumindest im Okzident heute zunehmend zu verflüchtigen scheinen – mit dramatischen Konsequenzen, die wir nach wie vor mit den herkömmlichen Konstruktionen oder mit ihren Abkömmlingen einzufangen versuchen.

Die Fragen, die mich zur Beobachtung und Bezeichnung unmittelbarer Wirklichkeitswahrnehmungen hintreiben, sind wohl vor allem diese: Wie lässt sich eine unmittelbare, prä-religiöse, prä-metaphysische, prä-kulturelle Existenz vorstellen? Ist die Zuflucht der Existierenden zu Religion und Metaphysik, ist die Flucht in die Kultur vermeidbar? Was wäre eine alternative, eine andere Zuflucht (denn dass Bewusstseinswesen Zuflucht brauchen, ist ausgemacht)? Wie lässt sich eine Existenz nicht jenseits, sondern diesseits von Religion und Metaphysik, diesseits von Kultur vorstellen – gerade auch das nicht-religiöse, nicht-metaphysische, nicht-kulturelle Beieinandersein von Existierenden? Wie ist prä-religiöse, prä-metaphysische, prä-kulturelle Existenz unter den immer gegebenen und unumgänglichen Bedingungen von Religion und Metaphysik, von Kultur vorstellbar?

Während ich diese Fragen formuliere, steht mir immer wieder Rousseau vor Augen. Es sind ganz ähnliche Fragen, die ihn umtreiben und die ihn zur Ausformulierung und Entfaltung des Contrat Social bewegen. Was meinen Zugang und meine Absicht jedoch von Zugang und Absicht Rousseaus unterscheidet: Es geht mir (immer) weniger um eine kulturhistorische, vielmehr um eine psychoanalytische Diagnostik. Und es geht mir (immer) weniger um eine allgemeine Antwort, um eine Antwort für das Allgemeine. Es geht mir zunehmend um eine mögliche Antwort für das Einzelne.

Das bedeutet in der Konsequenz: Was ich formulieren kann (wenn ich es überhaupt formulieren kann), ist nichts für eine Allgemeinheit. Es kann nur für einen Rest formuliert sein. Und: Ich kann zuletzt nicht bezeichnen, was allgemein richtige Existenz wäre. Ich werde allein das einzelne Richtige im allgemein Falschen, das richtige Einzelne im falschen Allgemeinen bezeichnen können (wenn ich es überhaupt kann). Vor mir sehe ich also kein Rousseausches, sondern noch einmal klarer als bisher ein paulinisches Vorhaben: die Neubezeichnung dessen, was Paulus ekklēsía nennt. Was mich wiederum von Paulus unterscheidet: Mir fehlen die Voraussetzungen, die Begabungen, die Rahmenbedingungen. Vor allem aber fehlt mir der Ruf.


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