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Sonntag, 14. März 2021

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Was ich lesen möchte und muss, ist nun nicht mehr ohne größeren Aufwand zuhanden. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen eigenen Bücherbestand zu erweitern und die Leerräume im neuen Regal zu füllen. Vor mir liegt gerade ein Stapel jener Texte von Giorgio Agamben, die mein Denken angezogen und angeschoben haben.

Zunächst lese ich noch einmal das „Geheimnis des Bösen“, zwei kleine Abhandlungen, in denen Agamben seine Interpretation des (pseudo-)paulinischen Katechon-Begriffs knapp zu fassen versucht (siehe dazu auch Nr. 70).
Vor dem Hintergrund der Ereignisse des vergangenen Jahres, führt gerade die Lektüre dieser Texte in aller Deutlichkeit vor Augen, dass man Agambens harsche Kritik der westlichen Corona-Maßnahmen (siehe dazu Nr. 601, 603, 622) nicht verstehen kann, ohne seine Archäologie und Genealogie abendländischer Politik überhaupt, auch nicht, ohne seine (politische) Idee eines Endes der Zeiten zu kennen.
Agamben ist, wie viele der philosophischen Paulinisten unserer Gegenwart, ein guter Apokalyptiker, zugleich aber ein schlechter Eschatologe. Er ist gut darin, der Politik des Westens den Schleier des Guten zu entreißen und deren hintergründige Struktur des Bösen freizulegen. Ihm fehlt jedoch die paulinische Distanz und Gelassenheit, weil er, ganz im historisch-materialistischen Paradigma gefangen, zuletzt das Letzte ins Vorletzte hineinzuziehen bemüht ist. Letztes und Vorletztes sollen zuletzt zusammenfallen, und dies in dem Sinne, dass das Letzte ganz im Vorletzten aufgeht. Das ist – theologisch-politisch gesehen – reiner Anti-Paulinismus. Unter Bedingungen, wie sie uns das Corona-Ereignis zumutet, kann dieser Anti-Paulinismus zuletzt nicht anders, als aggressiv einzuschnappen.

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