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Donnerstag, 27. Mai 2021

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Welt in Stücken. Verstehen wir die von Clifford Geertz formulierte Beobachtung für einen Augenblick als Diagnose der prä-kulturellen Situation und spitzen diese zugleich anthropologisch zu (siehe auch Nr. 123).

In der unvermittelten Begegnung des Menschen mit sich selbst als Wirklichkeit, mit anderen Menschen als Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit außerhalb seiner selbst überhaupt tritt dem Menschen die Wirklichkeit spontan als eine fragmentierte entgegen. In der unmittelbaren Begegnung ereignet sich im Menschen die Wahrnehmung von Vielheit, nicht von Einheit. Die Vielheit erscheint ihm als kontingent, nicht als notwendig. Was auch immer diese Wahrnehmung im Menschen auslöst – Angst, Unbehagen, Neugierde, Begeisterung: Alles Wirkliche reizt das Bewusstseinswesen Mensch zur Erklärung, zur Verbindung, zur Sinnstiftung. Das ist nicht zuletzt der Reiz zur Kultur.

Was aber, wenn gerade dieser Reiz in die Irre führt? Was, wenn die Wirklichkeit nicht etwa rekonstruierbarer oder konstruierbarer Kosmos ist, sondern ein vielfältiges Dasein unverbundener und nicht zu verbindender Fragmente, die selbst wiederum in sich vielfältig fragmentiert sind? Was, wenn auch das Beieinandersein von Menschen eine nicht zu ordnende Wirklichkeit in zerstückten Stücken ist? Was, wenn selbst der Einzelne in sich unendlich fragmentiert ist und bleibt? Wenn mögliche Identität, wenn mögliche Wesenseinheit lediglich eine sich zuletzt selbst entzaubernde Idee ist? Wenn es so etwas wie Individualität, wie wesentliche Unteilbarkeit des Einzelnen gar nicht als Wirklichkeit gibt? Noch nicht einmal als mögliche Wirklichkeit?

Wenn das so ist, dann laufen wir, dem Reiz zur Kultur folgend, schon immer einem Trugbild hinterher, einem Trugbild, das uns nur scheinbar die Existenz im Wirklichen stabilisiert und sichert. Wir rekonstruieren oder konstruieren unaufhörlich künstliche Einheiten von Wirklichkeit, die der wirklichen Wirklichkeit nie angemessen sind und die früher oder später notwendig zerfallen müssen, weil sich die fragmentierte Wirklichkeit der künstlichen Einheit immer wieder entzieht, diese immer wieder untergräbt und destruiert. Die Frage ist: Wie sich unter gegebenen Kulturbedingungen vom Reiz zur Kultur emanzipieren? Und wie dann als fragmentierte Wesen in einer fragmentierten Wirklichkeit unter Bedingungen künstlicher Einheit von Wirklichkeit angemessen existieren?



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