Sonntag, 23. Dezember 2018
428
Kaum zu glauben, aber ich habe durchaus auch einen Zugang zum Traditionellen, sogar zum Ästhetischen. Baum und Krippe, beides schmückt auch in unserer Familie alljährlich zu Weihnachten das Wohnzimmer. Weniger aus symbolischen, eher aus traditionellen und ästhetischen Gründen. Allerdings stehe ich auch dafür, die Brüchigkeit dieser Gründe bewusst zu halten, Brüche in diese Gründe bewusst einzufügen.
Samstag, 22. Dezember 2018
427
Aldi-Einkauf. Während ich meinen Einkaufswagen auf den Eingang zuschiebe, verlässt ein Mann mittleren Alters den Discounter. Phänotypisch erinnert er stark an Slavoj Žižek. Seine äußere Erscheinung lässt intuitiv vermuten, dass er die vergangene Nacht im Schlafsack unter irgendeiner Brücke verbracht hat und dass er nach seinem Einkauf dorthin zurückkehren wird. Er trägt ein hellblaues T-Shirt mit weißer Aufschrift: „Denken ist wie saufen. Nur krasser.“ Der Mann ist mir spontan sympathisch und vertraut. Er trägt sein Shirt wohl kaum aus modischen oder humoristischen Gründen. Eher ist der weiße Satz auf blauem Grund ein geradezu existenzielles Bekenntnis. Wahrheit und Hilferuf zugleich. Mit der Flut möglicher Analogien, die sich darin verbergen, ließen sich viele Seiten füllen. Denken – mehr noch als saufen ein aus Verzweiflung geborener Sturz in den Ab-Grund. Und manchmal hilft allein der kalte Entzug.
Dienstag, 18. Dezember 2018
426
Ein kurzer Gedanke zur (möglichen) reservativen Kritik hetero-, homo- oder anderssexueller Bestimmtheit und Praxis.
425
Von jeder ideologischen oder moralischen, auch von jeder politischen und sozialen Gültigkeit, die sich kulturell durchgesetzt hat oder durchzusetzen beginnt, gilt es kritisch Abstand zu nehmen und zu wahren. Weil sich hinter allem, was kulturelle Gültigkeit wird, immer auch zur Absolutheit strebende Mächte verbergen, denen kulturelle Gültigkeiten auf irgendeine Weise nützlich sind. Die sich verabsolutierenden Mächte können personaler oder systemischer Natur sein. Kulturelle Gültigkeiten dienen der Ermächtigung und Machtsicherung von Einzelnen, Gruppen oder Systemen.
Dienstag, 11. Dezember 2018
424
Entdeckung des Tages – heute von meiner Frau, mitgebracht aus der Münchener U-Bahn: Inzwischen gehören wir zu einer Generation, die in öffentlichen Verkehrsmitteln nur noch für einen sehr kleinen Kreis möglicher Kandidaten aus Gründen der Höflichkeit den Platz räumen muss. Manche kulturellen, sozialen, moralischen Ansprüche lassen mit zunehmendem Alter nach. Cool.
Mittwoch, 5. Dezember 2018
423
Hatte kürzlich die Druckfahnen des Jahrbuchs Innere Führung 2018 auf dem Tisch – es erscheint in den nächsten Tagen. Darin meine Kritik an Uwe Hartmanns gutem Soldaten, zugleich auch eine pointierte Antikritik des von mir sehr geschätzten Historikers Klaus Naumann.
Montag, 26. November 2018
422
Bohemian Rhapsody angeschaut. Mit gutem Grund hatte ich angenommen, mich diesem Film alleine stellen und ohne Begleitung ins Kino gehen zu müssen. Ich war davon ausgegangen, dass der Film manches aufwühlen würde. Und so war es dann auch.
Donnerstag, 22. November 2018
421
Ein Freund schickt mir eines dieser viralen WhatsApp-Videos: Zehn Teilnehmer eines Seminars stehen in einem kleinen Raum im Halbkreis, im Hintergrund an der Wand hängt ein großes Kreuz. Der Leiter der Gruppe fordert einen jungen Mann dazu auf, sich in die Mitte auf einen Stuhl zu stellen und die Augen zu schließen. Mit sonorer Stimme und beruhigenden Worten erklärt er, es gehe bei der folgenden Übung um Vertrauen. Er werde gleich bis drei zählen, und dann solle sich der Mann einfach fallen lassen. Die Gruppe werde ihn auffangen.
Die Gruppe tritt hinter dem Mann zusammen, streckt die Arme aus, um eine sichere und weiche Landung vorzubereiten. Der Gruppenleiter zählt bis drei, der junge Mann lässt sich fallen. Nach vorne. Panik in den Augen des Leiters. Sein Aufschrei und sein hektischer Sprung können nichts mehr retten. Der junge Mann schlägt ungebremst mit dem Gesicht voran auf den Boden.
Ein tragisch-komisches Video. Für mich spontan ein treffendes Symbol für das Vertrauen in die Verheißungen des religiösen, des sichtbaren Gottes. Wortreich verspricht dir dieser Gott, er werde da sein, wenn du ihn brauchst. Er werde dich auffangen, wenn du fällst. Du lässt dich blindlings fallen. Die Folge: Eine gebrochene Nase und zertrümmerte Zähne. Dein Fehler: Der religiöse, sichtbare Gott bindet seine Verheißung an die Erwartung, dass Du mit geschlossenen Augen in die richtige Richtung fällst. Und dabei verrät er Dir natürlich nicht, wo er gerade steht.
Mittwoch, 21. November 2018
420
Bildung ist Erschließung einer möglichst großen Vielfalt von Interpretationen, dann aber auch Aufklärung über die Ungültigkeit dieser Interpretationen. Unbildung verleitet manche dazu, lediglich die eigene Interpretation und diese auch noch als (einzig) gültige wahrzunehmen. Andere lässt Unbildung glauben, irgendwo da draußen unter den vielen unbekannten Interpretationen gebe es noch eine gültige. Dummheit und Hochmut gehen gut zusammen, Dummheit und Wankelmut aber auch. Reservativer Bildung dagegen entwachsen Demut und innere Stabilität.
Freitag, 16. November 2018
419
Eine Selbstentlastung (zu Nr. 154, 199, 365): Es muss keine neue Sprache erfunden werden, um reservativ denken und leben zu können.
Donnerstag, 15. November 2018
418
Es ist wahr, dass das Alter gelegentlich seine Müdigkeit und Schwäche mit Weisheit verwechselt. Es ist aber auch wahr, dass sich in Müdigkeit und Schwäche des Alters durchaus Weisheit verbirgt.
Dienstag, 6. November 2018
417
Vor dem Winter kleinere Reparaturen am Fahrrad. Und es kommt, wie es immer kommt: Ein Augenblick der Unachtsamkeit, der Schraubenschlüssel rutscht ab, die Fingerrücken streifen kurz über den rauen Teer, die kalte gespannte Haut reißt auf. Kleine Verletzungen, die merkwürdig stark bluten und deren Heilung eine Weile dauern wird.
Montag, 5. November 2018
416
Die normative Erzählung von der Würde des Menschen verlangt von uns, Menschenleben nicht zu verrechnen. Die Zahl der Menschenleben darf unter den Vorgaben der Menschenwürde in normativen Entscheidungssituationen keine Rolle spielen. Warum aber erscheinen uns dann (ganz im Sinne eines zentralen christlichen Motivs) einzelne Menschen, die sich für viele Menschen (sagen wir: 100) opfern würden, als vorbildlich? Und warum würde es uns merkwürdig unangenehm aufstoßen, wenn ein einzelner Mensch, der viele Menschen (sagen wir: 100) durch sein Selbstopfer hätte retten können, die Unterlassung der rettenden Tat unter Berufung auf die Menschenwürde in seiner eigenen Person und auf die Unverrechenbarkeit dieser Würde rechtfertigen würde?
415
Jeder Sinn ist Rechtfertigung der Welt. Rechtfertigung aber nicht im Sinne einer Verungültigung, sondern im Sinne einer Behauptung des Daseins und Soseins der Welt. Insofern ist Sinn immer auch eine Erscheinungsform von Sünde. Das Christentum macht sich gemein mit dieser Erscheinungsform durch seine wirklichkeitslegitimierende Schöpfungstheologie und durch seine transformative Soteriologie.
Sonntag, 28. Oktober 2018
414
Nach vielen Jahren der Suche habe ich meine Interpretation gefunden. Oder in der Sprache der Matrix-Mystik: Meine Interpretation hat mich gefunden. Offener denn je stellt sich mir aber die Frage nach dem Sinn. Was bedeutet das alles, worauf soll es hinaus? Und meine Interpretation lacht. Sie lacht mich aus.
413
Den anderen anerkennen, wie er ist, fordert immer auch Verzicht auf das, was man von ihm erwartet und benötigt. Beziehungen, soziale Systeme, die im Primat der Anerkennung gründen, befördern unvermeidlich Differenz, Einsamkeit und Kompensation. Diese Bewegung lässt sich dann irgendwann nicht mehr ohne weiteres einfangen.
412
Zeiten, in denen man sich selbst Glauben schenkt (die Religiösen verwechseln diesen Zustand gerne mit Gottvertrauen), mögen angenehm sein. Es sind allerdings Zeiten höchster Naivität.
Sonntag, 30. September 2018
411
Wer schützt uns vor den Wissenden der Kompetenzgesellschaft, die annehmen, mit ihren zusammengegoogelten Informationen seien sie tatsächlich in der Lage, etwas Treffendes über die Wirklichkeit und ihren Lauf auszusagen?
410
Das Verlangen ist stark, die Wirklichkeit möge der Interpretation lauthals widersprechen. Doch diesen Gefallen will sie mir nicht erweisen.
Sonntag, 23. September 2018
409
Die Religion beantwortet die Fragen der Weltwirklichkeit. Der Glaube dagegen ist Infragestellung der Weltwirklichkeit. Die religiöse Versuchung des Glaubens: Mit der Weltwirklichkeit zugleich die Gotteswirklichkeit infrage zu stellen. Damit fällt der Glaube allerdings in das Schema der Religion, in das Schema des Antwortens.
Mittwoch, 19. September 2018
408
Katechon und Anomos sind eins. Das ist der Schlüssel (Nr. 70). Das ist nicht zuletzt der Schlüssel zur Kritik der Moral und des Rechts, der Kritik auch jeder Metaphysik von Moral und Recht. Und das ist der Schlüssel zur Kritik des spezifisch christlichen Begriffs der Geschichte als Heilsgeschichte.
Donnerstag, 13. September 2018
407
Interpretationen, die aus Suche, nicht aus Neugierde geboren, die im engen Austausch mit der Existenz gewonnen, die geworden sind, lassen sich nicht wechseln oder ablegen wie Kleidungsstücke. Vor vielen Jahren hat mich ein alter katholischer Kirchenhistoriker vor meiner Weise, denkend zu leben und lebend zu denken, eindringlich gewarnt. Hinter bestimmte Erkenntnisse, so sagte er damals, kann man nicht mehr zurück. Er hat Recht behalten.
Freitag, 10. August 2018
406
Titelgeschichte der aktuellen GEO-Ausgabe: „Denk dich glücklich!“ Die sich selbst als solche bezeichnende Philosophin Rebekka Reinhard schreibt über Philosophie als wieder populär gewordene Lebenshilfe, als Kraftquelle, als Sinnstiftung in einer beschleunigten und sinnentleerten Zeit.
Mittwoch, 8. August 2018
405
Zu Nr. 397: Es ist entschieden. Abgabe, nicht Aufgabe. Nun liegen zwei Intuitionen im Streit, die repräsentative und die reservative. Auf dem Weg, den ich gegangen bin, habe ich mich zumindest dafür offen gehalten, dass der Weg sinnvoll sein, dass er und die mit ihm verbundenen Mühen sich lohnen könnten. Andererseits ist eine wesentliche Wirkung des beschrittenen Weges die radikale Dekonstruktion, zuletzt die Aufhebung und Überwindung von Sinn und Lohn. In gewissem Sinne kann die Konsequenz des Weges allein die Abkehr, die Freiheit von Sinn und Lohn sein. Dieser reservativen Intuition muss nun Raum, vielleicht sogar so etwas wie Lebensraum geschaffen werden.
404
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Versuch, sich selbst, wie man ist, zu handhaben, und dem Bemühen, aus sich selbst etwas zu machen, was man nicht ist.
403
Im Grunde genommen ist mein Denkweg nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit der leitenden Hintergrundannahme des syllogismus practicus: Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Glaube (im Sinne einer Interpretation) und Wirklichkeit (heute würde ich sagen: zwischen Evangelium und Gesetz). Das Geglaubte ist repräsentabel. Dass in einer bestimmten Weise geglaubt wird, hat bestimmte repräsentative Wirklichkeitswirkungen. Diese Annahme ist jedoch ebenso falsch, wie der syllogismus practicus selbst.
Dienstag, 7. August 2018
402
Seit gestern liegt eine Neuerscheinung auf meinem Schreibtisch, ein schmales Büchlein, in dem sich verschiedene Disziplinen auf einen Diskurs mit Otfried Höffe einlassen. Höffes Replik auf meinen eigenen Beitrag, eine (unausgesprochen) reservativ begründete Kritik des repräsentativen Liberalismus, ist respektvoll, zeugt aber deutlich von Unverständnis. Seine Gegenrede erinnert mich an Kuhns Idee des Paradigmenwechsels: Zwei Rationalitäten, die aus zwei sich ausschließenden Paradigmen geboren sind, sind inkommensurabel. Jeder Austausch muss misslingen, läuft unvermeidlich ins Leere, weil man sich in gewissem Sinne gar nichts (mehr) zu sagen hat. Verständigung unmöglich. Umso wichtiger erscheint es mir, sich selbst der Gefahren einer Abschließung der eigenen Rationalität bewusst zu bleiben und den Zugang offen zu halten für die immanenten Logiken alternativer Sprachspiele.
Samstag, 4. August 2018
401
Wer an der Überwindung des Repräsentativen arbeitet, darf nicht erwarten, dass das Repräsentative ihn dafür repräsentativ entlohnt.
Mittwoch, 1. August 2018
400
Ein warmer Sommerabend, ein nettes Sommerfest am Sommerfeuer. Zwei Damen neben mir unterhalten sich über Authentizität. Sie sind sich einig und ganz eifrig darin, sich wechselseitig zu bestätigen: Es ist immer besser, authentisch zu sein, das in Wort und Tat zu äußern, was in einem ist, eben so zu sein, wie man ist. Das ist offen und ehrlich. Man verbiegt sich nicht, frisst nichts in sich hinein. Und die anderen wissen immer, was Sache ist.
Dienstag, 31. Juli 2018
399
Gut und Böse, Freiheit und Bindung, Liebe und Hass sind einander insofern gleich, als dass sie nicht universal bestimmt und bestimmbar sind. In ihren sichtbaren Äußerungen, in ihren Erscheinungen lassen sie sich daher bisweilen kaum voneinander unterscheiden: wenn sie dem Allgemeinen, dem Recht oder der Moral scheinbar Folge leisten, wenn sie Recht und Moral beugen, biegen oder auch brechen.
Und doch ist die Verschiedenheit von Gut und Böse, Freiheit und Bindung, Liebe und Hass eine totale ontologische Andersheit. Das Gute, das Freie, das Liebevolle ist das, was sich aus der Annahme der totalen Ungültigkeit aller Gültigkeiten im Hier und Jetzt als Einzelnes ereignet. Das Böse, das Gebundene, das Hassvolle ist dagegen das, was als Funktion einzelner Gültigkeiten unvermeidlich geschieht.
Falsch ist die Annahme, das Gute, das Freie, das Liebevolle lasse sich im Allgemeinen finden. Das Allgemeine formuliert bloß bestimmte Gültigkeiten als universale Gesetze. Das ist insofern verhängnisvoll, als dass so das Gute, die Freiheit, die Liebe als Ereignis des Einzelnen begrenzt, beengt, bedrängt wird. Und das ist insofern nutzlos, als dass das Böse, die Bindung, der Hass als Funktion einzelner Gültigkeiten nicht überwunden, sondern allenfalls notdürftig und immer bloß vorläufig kanalisiert wird.
Montag, 30. Juli 2018
398
In der Postagentur die übliche Kundenschlange, die Sommerhitze schlägt in dem kleinen Laden doppelt zu. Ich warte schon eine Weile, nun wird der Herr vor mir bedient. Er will Geld abheben, stellt jedoch laut seufzend, sich selbst hörbar beschimpfend fest, er habe versehentlich bloß die Bankkarte seiner Lebensgefährtin dabei. Er beantragt eine Notauszahlung. Formulare, Anrufe, Unterschriften. Es dauert.
Freitag, 27. Juli 2018
397
Aufgabe oder Abgabe. Das ist die Weggabelung des Lebens. Hier muss man sich selbst vielleicht noch einmal an einen wesentlichen Gehalt des reformatorischen sola erinnern: Das Werk, von dem wir hoffen, dass es unseres Beitrages bedarf, ist schon immer vollbracht. Der christlich begriffene Missionsbefehl ist ein fatales Missverständnis.
Mittwoch, 18. Juli 2018
396
Es gibt Zeiten, da kann man nicht anders, als sich über sich selbst zu täuschen. In diesen Zeiten bleibt man besser im Lande und nährt sich redlich.
395
Manche erreichen Ziele, andere kommen an ein Ende.
Mittwoch, 11. Juli 2018
394
Messianische, paulinische, reservative Mündigkeit ist nicht jene Mündigkeit, die uns gegenwärtig als solche vorgeführt wird: Mündigkeit im Sinne von Authentizität, von Identität mit sich selbst. Reservative Mündigkeit meint vielmehr maximale Inauthentizität, maximale Selbstentfremdung, maximale Differenz zu sich selbst, zur eigenen Natur, zur Natur an sich – von Jesus beispielhaft demonstriert an der Überwindung des ius talionis und an der praktischen Feindesliebe (Mt 5,38–48), von Paulus beispielhaft demonstriert an der Rücksichtnahme auf die Schwäche der Schwachen (1 Kor 8 und 10,23–33).
Reservativ mündig ist nicht, wer Selbst ist, wer seiner Natur oder der Natur an sich Folge leistet. Mündig ist auch nicht, wer sich normativen (Kultur-) Systemen der Selbstdifferenzierung unterwirft. Mündig ist, wer weder mit sich selbst noch mit normativen Systemen identisch sein muss, wer sich selbst und normative Systeme vielmehr reservativ zu handhaben vermag.
Anmerkung 1: Es gibt eine Authentizität, die den Anschein der Mündigkeit erwecken kann. Natürliche Feigheit und natürliche Harmoniesucht lassen sich angesichts ihrer sichtbaren Konsequenzen durchaus als Feindesliebe interpretieren.
Anmerkung 2: Mir will die reservative Mündigkeit momentan überhaupt nicht schmecken, ich liege mit ihr im Streit. Wie gerne wäre ich derzeit schlicht unmündig, schlicht kindisch, schlicht authentisch, schlicht ich selbst. Dann würden Feinde und Schwache zumindest nicht unbelästigt den (vermeintlichen) Sieg davon tragen. Das Unbehagen an reservativer Mündigkeit hat viel mit Ohnmachtserfahrung zu tun. Die Macht reservativer Mündigkeit kann in einer Weltwirklichkeit der Gültigkeiten kaum als solche wahrgenommen werden.
Dienstag, 3. Juli 2018
393
In vertrauter Kommunikation unterläuft mir gelegentlich der immer gleiche Fehler: Ich gehe davon aus, dass mein Gegenüber genauso an Selbstaufklärung, an Aufklärung über sich selbst interessiert ist, wie ich es bin. Ich gehe davon aus, dass man nicht allein Teilnehmer seiner selbst, sondern immer zugleich auch Beobachter seiner selbst sein will, sich selbst halbwegs durchschauen will.
Aber das ist tatsächlich eine höchst naive Annahme. Und so kann es leicht vorkommen, dass ein gerade noch vertrautes Gespräch kippt. Dass sich mein Gegenüber plötzlich, durch irgendeine analytische Bemerkung, aufgeklärt fühlt, obwohl es gar nicht aufgeklärt werden will. Die Folge: Abbruch der Vertrautheit. Es gibt nicht viele, denen man die Gleichzeitigkeit von Teilnahme und Beobachtung zumuten kann.
Mittwoch, 6. Juni 2018
392
Im Netz bin ich heute auf eines dieser anregenden Interviews mit Slavoj Žižek gestoßen. Žižek trug dabei wieder einmal ein T-Shirt mit dem ihn und sein Denken repräsentierenden Motto Bartlebys: „I would prefer not to“. Ich habe viel Verständnis für dieses kritische politische Statement, und es kommt meinem eigenen, reservativen Statement durchaus nahe. Und doch gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Žižeks prefer not to und meinem paulinischen als ob nicht. Das als ob nicht meint nicht (selbst)destruktive revolutionäre Verweigerung. Es meint vielmehr ein nicht-teilnehmendes Teilnehmen, ein nicht-mitmachendes Mitmachen, ein nicht-dabeiseiendes Dabeisein. Es meint Annahme und verungültigenden Gebrauch des hier und jetzt Vorfindlichen zugleich. Der Glaube, den diese Annahme und dieser Gebrauch voraussetzen, ist dem prefer not to fremd. Hinter dem Schein der revolutionären Theatralik des prefer not to verbergen sich Hoffnungs- und Hilflosigkeit.
391
Durch die normativen Rationalitäten, denen wir uns im modernen Rechtsstaat unterwerfen, wollen wir nicht zuletzt der dezisionistischen Politik entkommen. Wir wollen, dass Politik rational beschränkt und berechenbar, dass sie nicht despotisch und willkürlich ist.
Nun wird das Netzwerk der zahlreichen normativen Rationalitäten unter den Bedingungen des modernen Rechtsstaates allerdings immer dichter. Alles läuft darauf hinaus, dass alles schon entschieden ist. Alles ist rational entschieden, allerdings nicht angemessen, sondern allgemein. Alles ist rational entschieden, allerdings nicht kongruent, sondern widersprüchlich. Der rechtsstaatliche Dezisionismus will mittlerweile despotischer und willkürlicher erscheinen als jener Dezisionismus, den der Rechtsstaat zu überwinden versucht. Es gibt eine Despotie, es gibt eine Willkür der modernen Rationalisierung von Politik.
Sonntag, 27. Mai 2018
390
Bei Adrian McKinty gefunden: Trauern heißt Wissen. Wer am meisten weiß, muss am tiefsten trauern. Der Baum der Erkenntnis ist kein Baum des Lebens.
Der Mann hat nicht umsonst in Oxford Philosophie studiert. Alte biblische Weisheiten: Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden (Koh 1,18).
Samstag, 26. Mai 2018
389
Überzeugungen sind zumeist bloß Kenntnisdefizite.
Freitag, 25. Mai 2018
388
Überzeugend hat mir noch niemand erklären können, wie eine theologisch begründete Nachhaltigkeitsforderung und ein jesuanischer Verzicht auf die Sorge für den nächsten Tag (Mt 6,34) zusammen gedacht werden können. Nachhaltigkeit scheint mir eher Flucht zu sein. Nachhaltigkeit ist (wie vieles andere auch) ein positives christliches Surrogat für die (reservative) Interpretation und Handhabung der Welt durch die Annahme des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit hindurch (Mt 6,33). Es soll repräsentativ hergestellt werden, was reservativ gewissermaßen als Abfallprodukt zufallen würde.
387
Evangelische Theologie und Kirche (in Deutschland) verstehen ihr Verhältnis zum modernen bürgerlichen System gerne als kritische Solidarität. Kritik meint nun aber nicht, dass eine theologisch begründete existenzielle Distanz gewahrt wird zu diesem System – wie zu jedem anderen gesellschaftlichen und politischen System auch. Kritik meint vielmehr, dem bürgerlichen System in der Dramaturgie seiner Rationalitäten immer einen Schritt voraus zu sein, ihm in seinen Verengungen und Zuspitzungen gewissermaßen vorauseilend zu gehorchen. Theologie und Kirche sind heute also eher gelehrige Schüler des Systems, weniger dessen kritische Wächter.
Samstag, 19. Mai 2018
386
Kürzlich habe ich mich bei einer Einrichtung beworben, die für einen mir besonders fremden und heute wenig hilfreich erscheinenden Typus protestantischen Christentums steht. Und man hat mich tatsächlich eingeladen. Der Grund ist mir unbekannt, aber gewinnen wollte man mich sicher nicht. Das Bewerbungsgespräch war für mich eher unangenehm, was auch an meiner für alle spürbaren Zögerlichkeit und Oberflächlichkeit lag. In der Rückschau sehe ich immer deutlicher den Grund dafür: Ich bin grundsätzlich kein Meister der spontan treffenden Formulierung. Mein Denken benötigt immer Zeit. In diesem Falle aber musste ich mich auf nahezu jede Frage hin spontan innerlich verbiegen. Und so schnell, wie es nötig gewesen wäre, wollten mir die konkreten Halbwahrheiten und Verdrehungen einfach nicht in den Sinn kommen.
Freitag, 18. Mai 2018
385
Es gibt Menschen, die ihre äußere und innere Unansehnlichkeit durch überhebliches Gehabe zu tünchen versuchen. Das kann nicht gelingen. Ihr Dünkel macht sie bloß hässlicher.
Sonntag, 6. Mai 2018
384
Ein Gedanke im Angesicht jugendlich unaufgeklärter Religiosität: Vielleicht ist der religiöse, der repräsentative Glaube etwas für die Jugend der Welt, für die Weltjugend. Reservative Ernüchterung und reservativer Glaube bedürfen dagegen der aufklärenden Welterfahrung, können sich nur einstellen im Angesicht der Weltnichtigkeit, sind also etwas für das Alter der Welt, für das Weltalter. Was ist dann die Moderne? So etwas wie eine zweite Pubertät? So etwas wie eine Midlife Crisis? So etwas wie eine Flucht vor dem, was man unvermeidlich anzuerkennen gezwungen sein wird aber noch nicht anzuerkennen bereit ist?
383
Gehen Repräsentation und Reservation zusammen? Gibt es einen Kompromiss zwischen als ob und als ob nicht, eine Art Gleichzeitigkeit? Die natürliche Sehnsucht nach dieser Gleichzeitigkeit ist groß, und die christliche Religion bedient sie, befriedigt sie, wo sie nur kann. Jedoch: Die Gleichzeitigkeit von als ob und als ob nicht ist eine Gleichzeitigkeit von Gott und Göttern.
382
Bei Jochen Klepper eine vertraute Erfahrungs- und Interpretationsstruktur wiederentdeckt: In der Weltwirklichkeit nicht anders zu können, als gültig zu sein, als etwas zu sein. In der Welt auch etwas sein zu wollen, vor allem etwas für die Welt, für andere da sein zu wollen. In allem aber die Erfahrung der Verungültigung, die unausgesetzte Wahrnehmung dessen, was Klepper den Strich nennt, den verungültigenden Strich durch alles Gültigsein, vor allem durch alles Gültigseinwollen. Dabei unter dem Strich die Demütigung, die wachsende Bereitschaft, alles Gültigsein und Gültigseinwollen aufzugeben, loszulassen, zugleich allerdings das nicht zu beruhigende, zur Rastlosigkeit zwingende Gefühl der Vorbereitung. Zuletzt auch der Strich durch dieses Gefühl.
Freitag, 27. April 2018
381
Das Wesen des reservativen als ob nicht in kurzer Fassung (wobei Wesen ein irreführender repräsentativer Begriff ist, ich jedoch keinen anderen zur Hand habe): Das reservative als ob nicht ist Kritik jeder nur denkbaren immanenten Gültigkeitsabsolutheit, jeder sich zur Gottheit erhebenden und unbedingt befehlenden Gültigkeit. Es ist interpretatorischer und praktischer Schutzraum vor allen weltwirklichen Göttern, auch vor jenen Göttern, die als transzendent weltwirklich vorgestellt werden. Politisch äußerst sich die Abweisung immanenter Absolutheit zunächst in permanenter Ideologiekritik, die sich immer wieder auch gegen sich selbst richtet, zugleich in permanenter Kontextualität, in unausgesetzter Sensibilität für das Hier und Jetzt Notwendige.
Montag, 23. April 2018
380
Wieder einmal musste ich einem (bayerisch) lutherischen Konfirmationsgottesdienst beiwohnen. Die zu konfirmierenden hatten im Unterricht ihren Glauben auf Steine geschrieben und gaben ihn nun als individuelles Bekenntnis zum Besten. Gleich danach wurde das Apostolische Glaubensbekenntnis gesprochen, als Symbol des gemeinsamen Glaubens der Kirche. Das eine wollte allerdings so gar nicht zum anderen passen. Entweder hat hier keine Katechese stattgefunden, oder diese hat kläglich versagt. Oder, was wahrscheinlich ist, in der Katechese hat auch hier die für die Spätmoderne typische Verschiebung stattgefunden: von der reformatorischen Nötigung zum individuellen Glauben hin zur Pluralität des individuellen Glaubens. Unter reformatorischen Voraussetzungen darf (und muss) jedes Individuum selbst das Eine glauben. Heute darf (und muss) jedes Individuum das Eine glauben, was ihm beliebt.
Donnerstag, 12. April 2018
379
Es gibt eine göttliche Fügung, es gibt aber auch eine teuflische Fügung. Die göttliche Fügung reizt, ermutigt zur Freiheit von der Weltwirklichkeit, die teuflische Fügung nötigt hinein in die totale Funktionalität, in den absoluten Gehorsam gegenüber den Befehlen der Weltwirklichkeit. Ob etwas für uns göttliche oder teuflische Fügung ist, hängt ab von unserer Interpretation, von unserem Glauben. Ob wir in unserer Interpretation selbst als Verfügende auftreten, oder ob über unsere Interpretation verfügt wird, lässt sich kaum sagen. Auch das ist Interpretation. Luthers Annahme, wir seien bloß Lasttiere, die nicht darüber verfügen können, wer sie reitet, Gott oder Teufel, drängt sich heute allerdings mehr auf denn je.
Anmerkung 1: Die göttliche Fügung, die uns alles zum Besten dienen lässt (Röm 8,28), zielt gerade nicht auf weltwirkliches Gelingen, Wohlsein, Glück. Das Beste dieser Fügung meint nicht weltwirkliche Bedürfnisbefriedigung. Es meint Freiheit aus Glauben, meint am Ende auch Freiheit von Gelingen, Wohlsein, Glück. Wie kann uns in diesem Sinne alles zum Besten dienen? Indem wir alles in diesem Sinne interpretieren, glauben, indem wir uns in diesem Sinne „alle Dinge zum Besten dienen lassen“ (Bonhoeffer).
Anmerkung 2: Es ist nicht wahr, dass dem Reichen die Freiheitsinterpretation, der Glaube schwerer fällt als dem Armen. Zwar ist der Satz wahr: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ (Mk 10,25). Der gleiche Satz gilt aber auch für den Armen. Nur, weil Jesus diesen Satz nicht gesagt hat, ist er nicht falsch. Die teuflische, bindende, funktionalisierende Fügung setzt beim Armen lediglich an einer anderen Stelle an und führt zu anderen Konsequenzen. Mit gutem Grund betet Agur: „Armut und Reichtum gib mir nicht“ (Spr 30,8). Reichtum und Armut stehen dem Besten göttlicher Fügung gleichermaßen im Wege.
Dienstag, 10. April 2018
378
Wer sich mit Jochen Klepper auseinandersetzt, der wird nicht umhinkönnen, sich auch mit der Frage der Selbsttötung auseinanderzusetzen. Einige kurze Intuitionen.
Montag, 9. April 2018
377
Im öffentlich-rechtlichen Radio, in einer katholisch verantworteten Sendung ein irritierendes und zugleich faszinierendes Beispiel für die fundamentale Problematik repräsentativ begriffener Sprache: „Jesus wurde an Karfreitag ans Kreuz genagelt. Damit ist uns gesagt, dass wir am Karfreitag unseres Lebens Nägel mit Köpfen machen müssen.“ Autsch. Aber: Woher das qualifizierende Kriterium nehmen, das eine schmerzhafte Repräsentationslogik wie diese ausschließt, unmöglich macht?
376
Poppers Satz „Alles Leben ist Problemlösen“ sagt im Grunde: Alles Leben ist die pausenlose Wiederholung eines Fehlers. Pausenlos wenden wir uns wieder und wieder den Problemen des Lebens zu, als ließen sie sich lösen. Aber kein Problem des Lebens lässt sich lösen. Das Leben als Problem ist unlösbar. Alles hängt davon ab, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen.
Freitag, 6. April 2018
375
Eine Ahnung, eine Erinnerung: Öffentliche Wirkungslosigkeit, öffentliche Irrelevanz ist in gewissem Sinne der Preis des reservativen Glaubens. Reservativer Glaube findet sich eher bei den Stillen im Lande (Ps 35,20). Der Glaube Jesu wäre öffentlich irrelevant geblieben, wäre er nicht im Christentum zu einer öffentlich wirkungsvollen Sache transformiert worden. Diese Transformation aber und jede ihr vergleichbare Transformation kann immer nur erkauft werden mit dem Verlust des Glaubens, mit der Substitution des Glaubens durch Religion. Diese Einsicht ist eine Warnung. Sie ist jedoch keine Aufforderung zum Quietismus.
Mittwoch, 28. März 2018
374
Das Alter nötigt zur Emanzipation von den Verheißungen der Natur. Der nüchterne Blick ins Angesicht des Todes offenbart deren nichtiges Wesen. Im emanzipierten Gebrauch der nichtigen Natur und ihrer Verheißungen wird man demütig, mündig, erwachsen.
Sonntag, 25. März 2018
373
Wie man in der nüchternen Konfrontation mit dem Tod, der die Nichtigkeit von Sein und Existenz rücksichtslos ans Licht zerrt und vor Augen stellt, Denken und Leben noch ernsthaft auf die Natur setzen, gar noch an einem Recht der Natur festhalten kann, das entzieht sich meinem Verständnis. Naturrechtler leben schon immer von einer heidnisch-mythologischen Kosmologie. Allen voran die christlichen Naturrechtler.
Mittwoch, 21. März 2018
372
Die paulinische Verortung der Figur des Messias zwischen Leiden und Trost (2 Kor 1,3–7) ist durchaus irritierend. „Denn wie die Leiden des Messias reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch den Messias“ (2 Kor 1,5).
Montag, 19. März 2018
371
Zu Nr. 361: In unserem wertenden Sprachgebrauch zeichnen sich zwei Trends ab: Zum einen der Trend zum Superlativ. Kaum ein Satz, der keine Übertreibung enthält. Zum anderen der Trend zum Superlativ für jeden. Kaum jemand, der noch zum Durchschnitt gehört.
Sonntag, 18. März 2018
370
Jochen Klepper erinnert gelegentlich an ein hartes Lutherwort: „Gott reißt das Übel nicht von der Person, sondern die Person vom Übel.“ Nicht heile Welt für den Glaubenden, sondern Glaube inmitten des Unheils der Welt, Glaube des vom Unheil der Welt Mitbetroffenen, Glaube des ins Weltunheil Hineingerissenen. Das will in diesen Tagen ertragen und geglaubt werden.
Samstag, 17. März 2018
369
Ein Freund schickt mir heute eine Glosse aus der Süddeutschen Zeitung: ein augenzwinkerndes Lob auf das kleinere Übel.
Donnerstag, 15. März 2018
368
Kürzlich hat Wolfram Eilenberger in der Wochenzeitung „Die Zeit“ unter dem Titel „Wattiertes Denken“ auf den desolaten Zustand der deutschsprachigen Philosophie aufmerksam zu machen und ihn zu erklären versucht.
367
Meine Kinder haben mir vor einigen Wochen zum Geburtstag das Buch Nighthawks geschenkt, eine gelungene kleine Sammlung stiller Geschichten nach Gemälden von Edward Hopper, dem Maler der modernen Vereinsamung. In einer der Erzählungen eine kurze Bemerkung zur Qualifikation des Selbstmordes: Für den Katholiken ist der Selbstmord eine Todsünde, für den Protestanten eine Charakterschwäche. Kürzer und treffender lässt sich die Kulturgeschichte des Okzidents kaum fassen.
Donnerstag, 8. März 2018
366
Die deutschen Streitkräfte haben ein turbulentes Jahr hinter sich. Die Politik beantwortet die tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen der Soldaten auch mit neuer weltanschaulicher und moralischer Normierung – etwa mit der Formulierung eines neuen Traditionserlasses. Begleitend bieten die beiden Universitäten der Bundeswehr Ringvorlesungen zu möglichen und unmöglichen Traditionsverständnissen an, gestern hier in München eine Podiumsdiskussion. Dazu zwei kurze Beobachtungen.
Dienstag, 6. März 2018
365
Meine Auseinandersetzung mit Dietrich Bonhoeffer wurde vor Jahren geradezu erzwungen durch die Betreuung einer Diplomarbeit zur Frage der Kontinuität des Verhältnisses von Glaube und Verantwortung in Bonhoeffers Theologie.
Samstag, 3. März 2018
364
In den vergangen Tagen wurde ich nach vielen Jahren an einen Text von Johannes Hansen erinnert, an eine kleine Meditation zu Psalm 6, in die ich mich als Jugendlicher gelegentlich zurückgezogen habe.
Donnerstag, 1. März 2018
363
Zuletzt habe ich wieder einmal einige Bachelor-Arbeiten begutachten müssen. Und wieder einmal sehe ich eine stille Vermutung bestätigt: Die mittlerweile unendlich leichte Verfügbarkeit eines sich exponentiell vervielfältigenden Wissens korrespondiert nicht etwa mit einer tatsächlichen und geschickten Aneignung dieses Wissens. Sie korrespondiert vielmehr mit einer zunehmenden Unfähigkeit und Unwilligkeit der Aneignung, möglicherweise gewachsen aus dem Gefühl der Überforderung.
Der Umstand, dass die Erstellung von Bibliographien zu ausgewählten Wissenschaftsdiskursen heute bloß noch Stunden in Anspruch nimmt, dass man sich also nicht mehr, wie vor der digitalen Revolution, tage- oder gar wochenlang durch die Zettelkästen der Bibliotheken wühlen muss, macht die Bibliographien am Ende nicht länger und treffender, sondern kürzer und allgemeiner. Das wissenschaftliche Produkt wird entsprechend dünner und flacher (siehe auch Nr. 282).
Der Umstand, dass die Erstellung von Bibliographien zu ausgewählten Wissenschaftsdiskursen heute bloß noch Stunden in Anspruch nimmt, dass man sich also nicht mehr, wie vor der digitalen Revolution, tage- oder gar wochenlang durch die Zettelkästen der Bibliotheken wühlen muss, macht die Bibliographien am Ende nicht länger und treffender, sondern kürzer und allgemeiner. Das wissenschaftliche Produkt wird entsprechend dünner und flacher (siehe auch Nr. 282).
362
Zu Nr. 358 und 359 die gestrige Tageslosung (1 Sam 12, 20/21): „Dient dem HERRN von ganzem Herzen. Und weicht nicht ab; folgt nicht denen, die nichts sind, die nichts nützen und nicht retten können, denn sie sind nichts!“
Mittwoch, 28. Februar 2018
361
Im totalitären Kampf gegen Diskriminierungen gehen leider immer häufiger notwendige Differenzierungen verloren.
Sonntag, 25. Februar 2018
360
Kürzlich im Radio eine Werbung für flexible Tarife. Verspottet wurden dagegen alle Produkte mit langfristiger Bindung, mit vertraglichen Verpflichtungen „bis dass der Tod euch scheidet“. Der verächtliche Rückgriff auf die klassische Trauformel zu Werbezwecken ist Symbol für das Nutzendiktat der Stunde: Flexibilität, Beweglichkeit, Offenheit. Stabilität, Standhaftigkeit, Entschlossenheit – wer kann das noch wollen?
Der kurze Radiospot verstärkt noch einmal einen traurigen Eindruck der vergangenen Wochen: Das verlockende und verleitende Diktat unserer Gegenwartskultur der Flüchtigkeit ist so mächtig, dass unsere alternativen familialen Milieus kaum stark genug sein können, um unsere Kinder mit ausreichender Widerstandskraft auszurüsten. Letztlich bleibt uns allein die Hoffnung auf stabile frühkindliche neuronale Vernetzungen, auf Zeit und auf Entzauberung.
Samstag, 24. Februar 2018
359
Ein weiterer Versuch, das reservative Anliegen aufzuklären: Gesetzt sei der Satz, dass wir neben Gott keine anderen Götter haben sollen, dass für uns nichts Gott sein soll, außer Gott allein. Gesetzt sei auch Luthers Satz, dass alles, woran wir unser Herz hängen, woran wir uns binden und wovon wir uns bestimmen lassen, unser Gott ist.
Donnerstag, 22. Februar 2018
358
Ein kurzer Gedanke, der theologisch zu entfalten wäre: Die biblische Erzählung von Schöpfung und Fall lässt sich anti-repräsentativ interpretieren. Gott stellt dem Menschen mit seinem Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht etwa eine fragwürdige religiöse oder moralische Falle. Und der Sündenfall ist auch kein religiöser oder moralischer Abfall. Mit dem Verbot wird der Mensch vielmehr davor gewarnt, in die repräsentative Existenz hineinzufallen, in eine Existenz, in der er sich das Göttliche repräsentativ verfügbar macht (Früchte) und sich selbst in den Status erhebt, Repräsentant des Göttlichen zu sein (wie Gott). Warum diese Warnung? Weil der repräsentativ Existierende unterscheiden muss und damit in absoluter Differenz steht zum Göttlichen. Das ist die eigentliche Lüge der Schlange: sein wie Gott meint unterscheiden zwischen gut und böse. Dieser Lüge folgt, für diese Lüge steht bis heute jede Religion.
Vor dem Hintergrund dieser Interpretation ein Nachtrag zu Billy Graham, der gestern verstorben ist: Das religiöse Leitbild meiner Vatergeneration repräsentiert, auf seine spezifisch evangelikale Weise, letztlich nichts anderes als die repräsentative Verlockung selbst. Und nichts anderes als repräsentative Verlockung hat er gepredigt. Erschreckend. Eigentlich.
Mittwoch, 21. Februar 2018
357
Nebenbei beobachte ich die insgesamt recht dürftige und randständige Politische Theologie in Deutschland. Gerade lese ich das Buch des Dominikaners Ulrich Engel: „Politische Theologie ‚nach‘ der Postmoderne. Geistergespräche mit Derrida & Co“. Engel ist Schüler von Johann Baptist Metz, und er führt noch einmal eindrücklich vor Augen, wie kurz der theologische Weg ist von der Neuen Politischen Theologie hin zu Dekonstruktion und Poststrukturalismus.
Sonntag, 18. Februar 2018
356
Es gibt derzeit kaum einen Kontext, in dem die Natur als Norm, die (vermeintliche) Normativität der Natur so nachdrücklich eingefordert wird, wie im Kontext der LGBT-Ideologie. In der Praxis dieser Ideologie zeigt sich geradezu idealtypisch, dass jeder, auch jeder säkularisierte Schöpfungsglaube zuletzt auf eine normativ gewendete Vergleichgültigung jeder beliebigen Natur hinauslaufen muss. Wir glauben, in den Konzepten von Menschenwürde und Menschenrecht ein Instrument gegen die Launen der Natur in der Hand zu haben. Tatsächlich aber liefern wir uns mit diesen Konzepten den Launen der Natur vollständig aus. In Menschenwürde und Menschenrecht erreicht die abendländische Kulturentwicklung ihren Höhepunkt, kommt aber zugleich an ihr Ende.
Samstag, 17. Februar 2018
355
Die wesentliche Bedrängnis menschlicher Existenz ist diese, dass der Mensch ein zur Zwecksetzung fähiges und zur Zwecksetzung genötigtes Wesen ist. In den vergangenen Tagen habe ich mich noch einmal eingehender mit der Auseinandersetzung zwischen Eric Voegelin und Hans Blumenberg beschäftigt. Beide machen in ihrem Streit auf ihre Weise einen wichtigen und richtigen Punkt: Die säkulare Neuzeit kann insofern als gnostische Epoche begriffen werden (Voegelin), als dass sich der Mensch in ihr Zweck und damit Sinn zu verschaffen versucht. Gnosis ist ja im Kern nichts anderes als eine (quasi-) religiöse Konstruktion von Sinn in der Krise des Sinns (wenngleich der gnostische Sinn, anders, als Voegelin es annimmt, streng genommen bloß ein negativer sein kann). Die säkulare Neuzeit lässt sich aber auch als radikal antignostische Epoche begreifen (Blumenberg), insofern sie jede Zuflucht in transzendent gewährleisteten Sinn unmöglich macht und dazu nötigt, ohne letzte Zwecke und damit letztlich sinnlos zu existieren (wenngleich der moderne Mensch gerade dies nicht zu ertragen vermag). Die Frage, die wir für eine nach-säkulare Zeit zu beantworten haben, ist diese: Wie können wir als zwecksetzungsgenötigte Wesen im Bewusstsein der Zwecklosigkeit existieren, ohne in Apathie, Depression, Zynismus oder Hedonismus zu verfallen? Wenigstens ebenso drängend ist aber auch die Frage, wie es uns gelingen kann, eine Erneuerung gnostischer Sinnkonstruktionen zu verhindern.
Sonntag, 11. Februar 2018
354
Gestern noch einmal die Tagebücher Jochen Kleppers aufgeschlagen, die Aufzeichnungen eines Menschen, dem es nicht gegeben war, in der Weltwirklichkeit Ort und Zeit zu finden, der in der Welt nicht hat ankommen dürfen. Die Texte, die wir von ihm kennen, sind Texte des Glaubens, nicht Wirklichkeitsbeschreibungen.
Mittwoch, 31. Januar 2018
353
Gestern hat Hans Joas vorgetragen. In der Münchner Katholischen Akademie, zu seinem neuen Buch über die Macht des Heiligen. Ein entspannter und durchaus anregender Abend. Joas war sichtlich gelöst, schien sich zu Hause wohl zu fühlen, unter Seinesgleichen, unter Glaubensschwestern und -brüdern. Was mich selbst in der Begegnung mit Menschen wie Joas immer besonders erstaunt: Sie können ganz selbstverständlich reden und schreiben – gerade so, wie andere einen gefüllten Wassereimer ausschütten.
Montag, 29. Januar 2018
352
Angesichts einer sich verschärfenden Zumutung reservativen Ausharrens heute die Erinnerung an Bonhoeffers Formulierung eines Glaubens, der das Walten Gottes in der Geschichte behauptet. Paradox: Tatsächlich behauptet Bonhoeffer in seinem Glaubensbekenntnis einen repräsentativ nicht (mehr) zu verortenden, einen repräsentativ nicht (mehr) dingfest zu machenden Gott. Das Bekenntnis ist eingewoben in einen der stärksten Texte Bonhoeffers: Nach zehn Jahren, geschrieben an der Jahreswende 1942/43, wenige Monate vor seiner Verhaftung. Teile des Bekenntnisses hingen einst über unserem heimischen Küchentisch.
„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“
Sonntag, 28. Januar 2018
351
Im gerade auch medial angeheizten Streben nach Authentizität (Charles Taylor) geht unserer Generation – und durch uns auch den Folgegenerationen – die Fähigkeit verloren, notwendige kulturelle (soziale) Rollen zu bedienen. Darin äußert sich nicht etwa der Verlust von Unaufrichtigkeit, sondern das zunehmende Unvermögen eines geeigneten, angemessenen Gebrauchs kultureller (sozialer) Wirklichkeit.
An diesem Prozess ist erfreulich und notwendig, dass er die kulturelle (soziale) Wirklichkeit, die noch stark von ihrer religiösen und metaphysischen Tradition lebt, aktiv dekonstruiert. An diesem Prozess ist besorgniserregend, dass er nicht von dem Bewusstsein der Substanzlosigkeit kultureller (sozialer) Wirklichkeit vorangetrieben wird, sondern von einer voraufgeklärten, geradezu vornominalistischen Sehnsucht nach substanzieller Eigentlichkeit. Wir versuchen also, der Nichtigkeit der Weltwirklichkeit durch Flucht in die Gaukeleien individueller Substanzen zu entkommen.
Montag, 22. Januar 2018
350
Ich wage die stechende Behauptung: Wen sein repräsentativer Glaube (dieser Glaube sei religiöser oder metaphysischer Natur, das ist einerlei), wen seine Hoffnung auf Repräsentation nicht in die Arme der Reservation treibt, wer also seinen repräsentablen Gott stets zu rechtfertigen und zu entlasten weiß, dessen Glaube kommt noch nicht einmal in die Nähe dessen, was Glaube genannt werden darf, der weiß gar nichts vom Glauben. Der hat sich nicht mit jeder Faser seiner Existenz an seinen Gott, an das Geglaubte gehängt. Dessen Glaube ist kaum mehr als eine mehr oder weniger pragmatische Weise der Kontingenzbewältigung.
Wer dagegen durch einen existenziellen repräsentativen Glauben hindurchgegangen ist, der wird wohl auch unter Bedingungen reservativen Glaubens den Stachel des Alten nicht los. In meinem Falle ist es der Stachel des Amos: Der Löwe brüllt, die Furcht ist groß, doch der Platz ist bei der Herde. Dort, wo man Gottesgebrüll und Gottesfurcht nicht kennt, dort, wo geschwiegen werden muss, wo nicht geredet werden darf (siehe auch Nr. 270).
Mittwoch, 17. Januar 2018
349
Wir können wissen, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften über das Einzelne nichts aussagt, weniger noch als denkend und in heuristischer Absicht gebildete Idealtypen. Wir können wissen, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften auch über das Allgemeine bloß scheinbar Wahres aussagt. Das allgemein Wahre empirischer Sozialwissenschaften lebt immer von unzähligen Abstraktionen und Verkürzungen, vor allem aber auch von der gewagten Annahme, Menschen wüssten tatsächlich und könnten tatsächlich angeben, was sie wirklich treibt.
Obwohl wir nun wissen können, dass Evidenz in den empirischen Sozialwissenschaften weder über das Einzelne noch über das Allgemeine wirklich Wahres aussagt, dass sie also das Einzelne wie das Allgemeine weder aufklären noch beraten kann, so sind wir heute doch überraschend stark geneigt, dieser Evidenz unser Vertrauen zu schenken, uns darauf zu stützen und uns von ihr durch die Wirklichkeit führen zu lassen. Was wir dabei verlieren, ist die Aufmerksamkeit für die wirkliche soziale (einzelne und allgemeine) Wahrheit abseits oder jenseits empirischer sozialer Wahrheiten, und wir verlieren die Fähigkeit, uns über diese Wahrheiten selbständig denkend zu orientieren. Nimm einem empirischen Sozialwissenschaftler sein Datenpaket und seinen beeindruckenden mathematischen Methodenapparat. Er wird unmittelbar blind und hilflos.
Donnerstag, 11. Januar 2018
348
Wie seltsam ist doch unsere Annahme, Gebet könne wie ein Ereignis in den Lauf der Weltwirklichkeit eingreifen, könne den Lauf der Welt zumindest transformierend ändern.
Mittwoch, 10. Januar 2018
347
In seiner Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion kündigt Karl Jaspers in der Mitte des 20. Jahrhunderts an, was unvermeidlich kommen und welche Aufgabe damit dem Denken gestellt sein wird.
Sonntag, 7. Januar 2018
346
Bei Jaspers einen schönen Satz zur Bestimmung der Botschaft jüdischer Prophetie gelesen: „Gott ist es, der die Welt aufrollt wie Teppiche.“ Nach-repräsentativ würde ich noch enger und schärfer formulieren: Gott ist es, der die Weltwirklichkeit, der Sein und Existenz aufrollt wie einen Teppich. Allerdings nicht, um ihn über die Stange zu hängen, auszuschlagen und nach der Reinigung wieder auszurollen. Sondern um ihn end-gültig, sein Ende endlich vergültigend zu entsorgen und zu ersetzen. Das will uns nicht schmecken. Und was uns schon gar nicht schmecken will, weil es so schmerzhaft ist: Dass wir als Existierende mit aufgerollt werden. Dass wir als Existierende mit hineingewirbelt sind in den Prozess des Aufrollens.
Unsere abendländische Gegenwart wird gelegentlich verglichen mit der Dekadenz des römischen Reiches. Jaspers dagegen verweist auf die Zeit der jüdischen Propheten. Das scheint mir tatsächlich treffender und tröstlicher. Die Perspektive im Schmerz des Aufgerolltwerdens ist dann die Wiederkehr des Messias, das verendgültigende messianische Ereignis. Und nicht etwa die Wiederkehr des religiösen Christentums und des römischen Imperiums.
Dienstag, 2. Januar 2018
345
Der moderne Mensch ist ein Meister der Selbstbetäubung, ausgebildet in den Lehranstalten des politischen und ökonomischen Liberalismus, geübt im Gebrauch der liberalen Anästhetika Aufklärung und Mündigkeit.