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Donnerstag, 8. März 2018

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Die deutschen Streitkräfte haben ein turbulentes Jahr hinter sich. Die Politik beantwortet die tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen der Soldaten auch mit neuer weltanschaulicher und moralischer Normierung – etwa mit der Formulierung eines neuen Traditionserlasses. Begleitend bieten die beiden Universitäten der Bundeswehr Ringvorlesungen zu möglichen und unmöglichen Traditionsverständnissen an, gestern hier in München eine Podiumsdiskussion. Dazu zwei kurze Beobachtungen.

Erste Beobachtung: Deutsche Militärhistoriker leben von normativen Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können. Für ihre derzeitige Lage kann ich nur Mitgefühl haben: Es sind vor allem Militärhistoriker, von denen die Antwort auf die Frage nach der Tradition erwartet wird. Und dies im normativen Sinne. Gefragt ist nach der richtigen, der guten militärischen Tradition. Militärhistoriker können militärische Traditionen aber allenfalls ermitteln und beschreiben. Bewerten können sie Tradition nur dann, wenn sie sich selbst auf ein normatives Fundament stellen – etwa auf die sogenannte Wertebasis des deutschen Grundgesetzes. Mit diesem Akt geben sie jedoch ihr eigentliches Handwerk der Historie auf, bleiben also nicht bei ihrem Leisten. Zugleich stützen sie sich auf Fundamente, die selbst wiederum begründungsbedürftig sind, für deren Begründung ihnen als Historikern jedoch das Handwerkszeug fehlt.
Wie gesagt: Mein Mitgefühl gilt allen deutschen Militärhistorikern, die derzeit politisch zu etwas gezwungen werden, was sie gar nicht leisten können. Mein Mitgefühl gilt jedoch nicht jenen, die von sich glauben, die normative Leistung tatsächlich erbringen zu können, die – schlimmer noch – glauben, das Katheder des Militärhistorikers missbrauchen zu dürfen, um Soldaten weltanschaulich und moralisch (neu) auszurichten. Gegen diese militärischen Kathedersozialisten mit und ohne Uniform wäre ein neuer Werturteilsstreit zu führen.

Zweite Beobachtung: Die gesamte Debatte zum Traditionsverständnis des deutschen Soldaten setzt ein Bedürfnis nach Tradition voraus, geht aus von der Annahme eins traditionsbedürftigen Soldaten. Was ist jedoch mit den traditional Unmusikalischen? Was ist mit jenen, die sich weder weltanschaulich noch lebenspraktisch an Traditionen hängen? Und dies vielleicht nicht bloß aus Natur, sondern auch aus Überzeugung? Es lässt sich ja durchaus mit guten Gründen behaupten, dass Traditionen die verantwortliche, dem Hier und Jetzt angemessene Tat geradezu verhindern können. Nebenbei: Ist es nicht so, dass der deutsche militärische Widerstand rund um Stauffenberg, der dem Traditionsbestand der Bundeswehr zugerechnet wird, mit seinen eigenen militärischen Traditionen geradezu brechen musste, um verantwortlich handeln zu können? Müsste ein Denken in der Tradition dieses Widerstandes den möglichen Traditionsbruch, die mögliche Traditionsunabhängigkeit nicht zumindest offen halten?
Mein Eindruck ist, dass die vorausgesetzte Traditionsbedürftigkeit des Soldaten selbst schon normativ motiviert ist. Wessen Absicht es ist, den Soldaten an eine spezifische normierende Tradition zu binden, der würde ja durch Zweifel an der Traditionsbedürftigkeit oder gar durch systematische Kritik der Tradition gerade jenen Ast absägen, auf den er den Soldaten zu stellen wünscht (siehe auch Nr. 314).

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