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Mittwoch, 10. Januar 2018

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In seiner Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion kündigt Karl Jaspers in der Mitte des 20. Jahrhunderts an, was unvermeidlich kommen und welche Aufgabe damit dem Denken gestellt sein wird.

Ein „neues Zeitalter ist im Entstehen, das den Menschen bis zum letzten Individuum einer so radikalen Verwandlung unterwirft, wie sie in historischen Zeiten noch nie geschehen ist. Weil aber die Verwandlung der realen Lebensverhältnisse so tief geht, muß die Wandlung religiöser Gewißheitsformen entsprechend tiefer gehen, um das Neue zu gestalten, daß es tragbar und beseelbar wird. Es ist eine Verwandlung dessen zu erwarten, was wir die Materie, das Kleid, die Erscheinung, die Sprache des Glaubens nannten, und zwar eine Verwandlung, so stark wie alle anderen Verwandlungen unseres Zeitalters“.
Jaspers hängt sichtlich noch am Zauber substanzieller religiöser Wahrheit, glaubt noch an deren mögliche, wenngleich transformierte Repräsentation. Und doch ahnt er recht klar, dass im kommenden Zeitalter, in dem wir heute längst angekommen sind, die alten religiösen Repräsentationen unbrauchbar werden, aufgegeben und verabschiedet werden müssen: „Was kann an Dogmen fallen, weil sie dem modernen Menschen in der Tat fremd geworden und ohne Glaubhaftigkeit sind? Mag man vom Fallenlassen der Dogmen zunächst noch schweigen, so muß doch der Denkende fragen: welche Dogmen sind es, die sogar von den Bekennenden durchweg nicht mehr geglaubt werden?“
Mit seinem Zweifel an der künftigen Glaubwürdigkeit und Haltbarkeit religiöser Dogmen bezweifelt Jaspers unausgesprochen die Glaubwürdigkeit und Haltbarkeit religiöser Substanzen überhaupt. Und dann legt er der kommenden Zeit gerade jene Fragen als Last auf, die mich selbst umtreiben, die mein gesamtes reservatives Denken und Leben bestimmen, die mich in ein nach-repräsentatives Denken und Leben hineingetrieben haben: „Wo ist der feste religiöse Boden, der bleibt? Gibt es ein Absurdes, das als Glaubensinhalt auch heute tragbar oder gar erfordert ist? […] Welche Absurdität kann heute noch unumgängliches Signum eines echten Glaubensinhaltes sein?“ Diese Absurdität kann heute allein noch die Absurdität des messianischen Ereignisses sein, die Absurdität der (fiktiven) Ungültigkeit, der Ungültigkeit aller Wirklichkeitswahrheit und der Ungültigkeit aller Wahrheitsrepräsentationen.

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