Der reservative Glaube kann auch von der letzten Nötigung der Weltwirklichkeit befreien, den Nöten der Weltwirklichkeit durch letzte Flucht in die Selbsttötung zu entkommen. Allerdings: Nicht jeder vermag die letzten Nöte der Weltwirklichkeit glaubend zu ertragen. Repräsentativ gesprochen: Nicht jeder ist ein Held, nicht jeder Glaubende ist ein Glaubensheld. Die Not der Weltwirklichkeit kann so groß werden, dass selbst der Glaube ihren Nötigungen erliegt. Ist dies der Fall, so ist es irreführend, von Freitod zu sprechen. Die Selbsttötung ist der letzte, der ultimative Sieg der Weltwirklichkeitsnötigungen über die Freiheit des Glaubens. Jenseits dieses Sieges wartet jedoch der Sieg über diesen Sieg, die Freiheit selbst. Nicht mehr (bloß) im Sinne eines geglaubten als ob nicht, sondern als Wirklichkeit, als ganz andere Wirklichkeit der Freiheit.
Nachbemerkung 1: Unsere Interpretation der Weltwirklichkeit folgt nach wie vor einem verkehrten Paradigma. Wir nehmen an, die Weltwirklichkeit sei Leben, und dieses Leben setze sich immer und überall durch. Abendländische Religion und Metaphysik machen aus dieser Annahme sogar eine moralische Pflicht, verpflichten bedingungslos auf die Weltwirklichkeit als Leben. Tatsächlich verpflichten sie damit jedoch bedingungslos auf den Tod, auf die Gaukelei des vermeintlichen Lebens, das nichts anderes gebiert als den Tod. Der reservative Glaube befreit dazu, in diesem Tod zu verharren, in ihm auszuharren. Aber selbst wenn die Freiheit dieses Glaubens scheitert, so ist doch auch ihr Scheitern im Sieg des wirklichen, ganz anderen, nicht weltwirklichen Lebens aufgehoben und überwunden.
Nachbemerkung 2: Bei Jochen Klepper verbindet sich die Frage nach der Selbsttötung mit der christlichen Frage nach der sogenannten Sünde wider den Heiligen Geist. Diese als ultimativ begriffene Sünde muss, wie der Sündenbegriff an sich, entmoralisiert und ontologisiert werden. Sie muss zugleich (angelehnt an Bonhoeffer) nicht-religiös, nicht-metaphysisch, weltlich, weltwirklich interpretiert werden. So interpretiert beschreibt die Sünde wider den Heiligen Geist einen weltwirklichen, merkwürdig unaufhaltsamen und unumkehrbaren Gerinnungs- und Erstarrungsprozess: Erst der messianische Glaube, nach dessen Verlust die christliche Religion. Erst die Freiheit vom Tod, der sich als Leben ausgibt, nach dem Verlust dieser Freiheit die totale Versklavung durch ein Leben, das nichts anderes ist als Tod. In gewissem Sinne ist das Christentum insbesondere in seiner säkularen Gestalt eine einzige große Sünde wider den Heiligen Geist. Ausstieg, Umkehr offenbar unmöglich.
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