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Mittwoch, 11. Juli 2018

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Messianische, paulinische, reservative Mündigkeit ist nicht jene Mündigkeit, die uns gegenwärtig als solche vorgeführt wird: Mündigkeit im Sinne von Authentizität, von Identität mit sich selbst. Reservative Mündigkeit meint vielmehr maximale Inauthentizität, maximale Selbstentfremdung, maximale Differenz zu sich selbst, zur eigenen Natur, zur Natur an sich – von Jesus beispielhaft demonstriert an der Überwindung des ius talionis und an der praktischen Feindesliebe (Mt 5,38–48), von Paulus beispielhaft demonstriert an der Rücksichtnahme auf die Schwäche der Schwachen (1 Kor 8 und 10,23–33).
Reservativ mündig ist nicht, wer Selbst ist, wer seiner Natur oder der Natur an sich Folge leistet. Mündig ist auch nicht, wer sich normativen (Kultur-) Systemen der Selbstdifferenzierung unterwirft. Mündig ist, wer weder mit sich selbst noch mit normativen Systemen identisch sein muss, wer sich selbst und normative Systeme vielmehr reservativ zu handhaben vermag.

Anmerkung 1: Es gibt eine Authentizität, die den Anschein der Mündigkeit erwecken kann. Natürliche Feigheit und natürliche Harmoniesucht lassen sich angesichts ihrer sichtbaren Konsequenzen durchaus als Feindesliebe interpretieren.

Anmerkung 2: Mir will die reservative Mündigkeit momentan überhaupt nicht schmecken, ich liege mit ihr im Streit. Wie gerne wäre ich derzeit schlicht unmündig, schlicht kindisch, schlicht authentisch, schlicht ich selbst. Dann würden Feinde und Schwache zumindest nicht unbelästigt den (vermeintlichen) Sieg davon tragen. Das Unbehagen an reservativer Mündigkeit hat viel mit Ohnmachtserfahrung zu tun. Die Macht reservativer Mündigkeit kann in einer Weltwirklichkeit der Gültigkeiten kaum als solche wahrgenommen werden.

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