Seiten

Mittwoch, 30. Dezember 2020

680

Auf der Suche nach tröstlichen und ermutigenden Gehalten reservativen Glaubens steht mir in den vergangenen Tagen noch einmal Paulus vor Augen. Seine spezifische Variante einer messianischen Wirklichkeitsanschauung ist auf dem Boden jüdischer Denktradition entwickelt, lässt diese aber auch nachdrücklich hinter sich. Oder vielleicht besser: Sie geht reformatorisch und aufklärend zugleich hinter sie zurück und über sie hinaus.

Samstag, 26. Dezember 2020

679

WhatsApp-Status einer lieben Freundin: „Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert.“ Letzte Worte Karl Barths.
Für derartige Ermutigungen bin ich durchaus empfänglich. Sie lassen sich ja auch reservativ denken und sprechen. Es muss aber bewusst gehalten werden: Gemeint sind diese Worte als kontrafaktische Wahrheit eines auf eine nicht-wirkliche Wirklichkeit sich abstützenden Glaubens. Ein qualitatives Kriterium, das angeben könnte, was diese Wahrheit von einer bloßen positivistischen Fiktion unterscheidet, ist uns heute nicht mehr zuhanden. Und: Ganz im calvinischen Sinne meint die Glaubenswahrheit Barths ausdrücklich nicht eine existenzielle Schonung, ein existenzielles Herausgenommensein des Glaubenden. Vom nicht-wirklich Regierenden regiert zu werden meint vielmehr totale existenzielle Mitbetroffenheit im Prozess des Aufgerolltwerdens des Wirklichen (siehe Nr. 346). So gesehen neigt die Ermutigung Barths unausgesetzt dazu, in eine Zumutung umzuschlagen. Dem muss der Glaubende sich auszusetzen bereit sein.

Montag, 21. Dezember 2020

678

Was bleibt im Denken nach einem Jahr radikaler äußerer Umbrüche und Zumutungen? Nicht viel mehr als eine unbestimmte Intuition geistiger Betäubung, eine beunruhigende Sorge vor heraufziehender geistiger Lähmung.

Nach wie vor mühe ich mich um fragmentarische Auffrischung und Anregung. Zunächst ein wenig Nietzsche, dann Heidegger, jetzt eine erste Annäherung an Cassirer. Alles zweifellos zuträglich, aber doch bloß im Sinne einer eher passiven Differenzwahrnehmung und Abgrenzung. Was mir vor allem fehlt, ist die aktive Beobachtung und Ausformulierung meines Eigenen. Mein eigenes Denken bleibt mir ein weitgehend unentdecktes und vor allem unbestelltes Land. Die eigene Interpretation als Brache.

Und über allem steht und bleibt das alte Wort des Predigers: Auch das ist eitel. Also iss und trink und sei guten Mutes bei allem Mühen, das du dir machst unter der Sonne dein Leben lang, das Gott dir gibt. Denn das ist dein Teil.

Dienstag, 24. November 2020

677

Der Lackmustest für jedes Denken: Trägt es die Kraft in sich, im uferlosen Strom des Wirklichen sowohl Floß als auch Ruder zu sein? Wenn nicht, dann geh weiter und schüttle den Staub von Deinen Füßen.

Samstag, 21. November 2020

676

Es ist nicht eins: Glück an sich und Glück für mich. Glück für mich kann durch einen existenziellen Riss vom Glück an sich geschieden sein. Mitten im Glück an sich, vom Glück an sich umfangen, kann ich für mich selbst leer ausgehen, kann ich mit meiner Glücklosigkeit hadern. Was man begehrt ist nicht notwendig das, was mein Herz begehrt. Man spricht da gerne von Undankbarkeit. Ich selbst für mich eher von verzweifelter Hoffnung.

Donnerstag, 19. November 2020

675

Von Menschen, die Menschen führen sollen, erwarten wir üblicherweise, dass sie Menschen führen wollen, dass sie dies natürlicherweise können und dass sie diese Kunst durch Erfahrung und Methode verfeinern. Für diesen Ansatz sprechen gute Gründe. Allerdings: So vorgestellte Menschenführung ist kaum mehr als Funktion der jeweils gegebenen Natur, der jeweils gegebenen Interpretation und deren technischer Perfektionierung.

Meine Behauptung, gestützt auch auf eingehende Beobachtung: Niemand kann Menschen gut führen, es sei denn, er kann sich selbst gut führen. Dem Anspruch, andere zu führen, muss der Anspruch der Selbstführung vorausgehen. Streng genommen dürfen wir Menschen nur der Führung jener Menschen anvertrauen, die willens und fähig sind, ihre je eigene Natur und ihre je eigenen Interpretationen durch den wilden Strom der Wirklichkeit hindurch zu leiten. Dies gilt insbesondere im Kontext des Politischen und des Militärischen, im Kontext potenzieller Gewaltsamkeit.

Sonntag, 15. November 2020

674

Selbst ausgewachsene UniversitätsprofessorInnen tappen gerne in die Pubertätsfalle. Sie halten das, was sie wahrnehmen und interpretierend wiedergeben, für neu und einzigartig. Das ist es aber nur für sie. Nicht an sich.

673

Selbstbeobachtung: Dekadenz kann ich besser ertragen als Dummheit.

Mittwoch, 11. November 2020

672

Es ist hilfreich, sich gelegentlich an die Herkunft der modernen Wissenschaft zu erinnern. Sie ist auch und gerade geboren aus dem Bemühen, der schwächelnden (christlichen) Religion aufzuhelfen. Darin ist sie gescheitert. Stattdessen hat sie den Platz der Religion eingenommen. Geblieben ist ihr eine strukturelle Ähnlichkeit: Sie ist bestrebt (wie einstmals die Religion), dem Wirklichen das Wahre zu entnehmen, die Wahrheit aus dem Wirklichen herauszulesen.

671

Wo wir von Fakten oder Tatsachen sprechen, dort fangen die Fragen des Denkens erst an. Aber natürlich auch die Spekulationen der Spinner.

Freitag, 30. Oktober 2020

670

Nichts befördert derzeit die nihilistische Gleich-Gültigkeit alles Gültigen so sehr, wie jedermanns Möglichkeit, sich digital selbst zu behaupten.

669

Jeder Streit um Gültigkeiten, um Wahrheiten, ist nicht mehr als ein Streit der Erzählungen, der unterschiedlichen Weisen, die Wirklichkeit in Begriffe zu fassen und diese Begriffe miteinander zu verbinden. Jede Erzählung lässt sich erklären, hat unendlich viele Ursachen, die unser Bewusstsein auch gerne als Gründe begreift.

668

Noch einmal eine sicherheits- und militärpolitische Randbemerkung: Seit heute online – ein neues Positionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik zu einer möglichen Reform der Bundeswehr (hier). Bei aller Aktualitätsbedingtheit und damit Begrenztheit des Textes – die Autoren verfolgen unausgesprochen aber unübersehbar zwei wesentliche Absichten, die ich (wenngleich anders begründet und zu anderen Zwecken) teile. Zum einen: Raus aus der strukturellen Zivilisierung der Streitkräfte. Zum anderen: Politische Aufwertung der militärischen Führung. Zwar bevorzugen die Autoren in ihrem Papier eine „evolutionäre Semantik“, dahinter verbirgt sich aber nicht weniger als die Forderung nach Einleitung eines Systemwechsels. Gerade dieser Wechsel aber ist weder gesellschaftlich noch politisch gewollt. Deutsche Streitkräfte sollen letztlich nicht können, was sie müssen. Weder politisch noch militärisch.

667

Mehrheiten haben viele Gründe. Die Wahrheit muss nicht immer darunter sein. Auch nicht das Gute.

Donnerstag, 29. Oktober 2020

666

Corona-Update: Inzwischen haben wir uns sozial und politisch in eine Lage hineinbewegt, in der die Warner und Dramatisierer immer und überall Recht behalten müssen. Und dies auf beiden Seiten der Frontlinie. Die Differenzierer können sich nur noch ins Unrecht setzen. Sie haben immer und überall zahllose Fakten gegen sich. Es wird nur sehr schwer möglich sein, sozial und politisch wieder von der Frontlinie zurückzutreten und zu verantwortlichen Wahrnehmungen, Interpretationen, Entscheidungen und Taten zurückzufinden.

665

Wir brauchen Ideale. Wir brauchen Illusionen. Indem wir uns auf sie ausrichten, indem wir ihnen hinterherlaufen, bewegen wir uns unter der Hand in einen Stand, der uns zumindest materiell gegen ihren Verlust absichert. Ohne Illusionen am Beginn des Weges durch die Wirklichkeit können nur Wenige in späteren Jahren ohne sie auskommen. Illusionslosigkeit muss man sich leisten können.

Dienstag, 27. Oktober 2020

664

Wie wenden sich Kulturen? Durch Ideen und Interessen, durch interessengeleitete Ideen und durch ideengeleitete Interessen. Wie lassen sich Kulturen wenden? Durch Gewaltsamkeit, die – mit einer spezifischen Rationalität hinterlegt – ausreichend Rückhalt findet bei der Mehrzahl derjenigen, die der Gewaltsamkeit ausgesetzt sind.
Allerdings: Wie sich die Kultur jeweils wendet, ist nie vorhersehbar. Und die (immer flüchtigen) Ergebnisse jeder Kulturwendung entsprechen nie der Absicht jener, die sie unabsichtlich oder absichtlich angestoßen haben (siehe auch Nr. 127).

Sonntag, 25. Oktober 2020

663

Derzeit wird zunehmend beklagt, man dürfe in Deutschland nicht mehr jede Meinung äußern. Das mag sein, und hier wirken gegenwärtig ohne Zweifel höchst problematische soziale und politische Mechanismen. Allerdings: Es gilt gerade jetzt noch einmal daran zu erinnern, dass nicht jede Meinung geäußert werden muss, auch und wohl noch mehr, dass nicht jede Meinung tatsächlich äußerungswert ist. Freiheit der Meinungsäußerung meint, wenn ich sie richtig verstehe, durchaus auch die Freiheit des Schweigens. Des Schweigens aus Klugheit und des Schweigens aus Einsicht in die eigene Torheit. Gerade diese Einsicht scheint mir jedoch, wenn es sie je gab, zunehmend abhanden zu kommen.

Freitag, 16. Oktober 2020

662

Vor Jahresfrist habe ich mich dem Kommenden mit der Hoffnung anzuschmiegen versucht, es warte auf mich eine zumindest zeitweise gemilderte Spannung zwischen Natur und Interpretation (Nr. 533). Diese Hoffnung hat sich als nichtig erwiesen. Die Spannung hat sich verschärft. Das gilt es nun - vorläufig - zu handhaben.

661

Eine vertiefte, existenziell provozierte Beobachtung: Als Wesen, in denen die Natur die Augen aufschlägt (Schelling), ist es uns unmöglich, den drei Zirkeln der innerwirklich-ewigen Wiederkunft zu entkommen: dem Zirkel der Kausalität, dem Zirkel der Finalität und dem Zirkel des Sinns oder Werts. Wir interpretieren das Wirkliche (mehr oder weniger bewusst hoffend) als eine Abfolge von Ursache und Wirkung, wir interpretieren diese Abfolge als zielgerichtet, und wir interpretieren die jeweiligen Ziele der Kausalitäten als bedeutsam (als gut oder böse). Diese drei Akte der Interpretation setzen uns in einer unausgesetzten Wiederkehr gefangen, die an sich eitel, nichtig ist.

Viele Bewusstseinswesen scheinen diese Nichtigkeit nicht zu bemerken. Sie wiederholen ihre zirkuläre Interpretation alltäglich und schlüpfen so weitgehend unbelastet durch die Wirklichkeit hindurch. Andere suchen entlastende Zuflucht in Religion oder Metaphysik, wieder andere in Verzweiflung oder Selbstüberhebung. Sie alle bleiben auf ihre Weise Sklaven des Zirkels (was nicht zuletzt für Nietzsches Übermenschen gilt).

Wie, im nichtigen Zirkel der Wiederkehr gefangen, den Zirkel selbst auf- und durchbrechend handhaben, ohne ihm zu entfliehen (was nicht möglich ist) und ihm damit letztlich verschärft anheim zu fallen. Das ist die wohl größte Aufgabe des Denkens.

Freitag, 9. Oktober 2020

660

Existenzielle Denker muss man durch ihre Existenz hindurch interpretieren. Das relativiert das jeweilige Denken nicht, es bekräftigt vielmehr die jeweilige existenzielle Wahrheit.

Religiöse und metaphysische Denker muss man auch durch ihre Existenz hindurch interpretieren. Das relativiert das jeweilige Denken und die jeweilige Wahrheit.

Samstag, 3. Oktober 2020

659

Ein lieber Freund in der Heimat (er wird diese Formulierung schmunzelnd zur Kenntnis nehmen) hat mich auf eine sehr schöne Anmerkung Einsteins aus dem Jahr 1918 hingewiesen: „Ich lese unter anderem Kants Prolegomena und fange an, die ungeheure suggestive Wirkung zu begreifen, die von diesem Kerl ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Wenn man ihm nur die Existenz synthetischer Urteile a priori zugibt, ist man schon gefangen."
Das trifft, was mich selbst angeht, den Nagel auf den Kopf. Die Annahme der Existenz synthetischer Urteile a priori hat mich im Interpretieren und Leben lange Zeit eingekerkert. Bis mich vor allem Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ zurecht gebracht hat.

658

Zu Nr. 533, 540, 541: Überraschend, wohl aber erwartbar – meine nomadische Existenz hat gerade erst begonnen. Jeder Versuch, unter Rückgriff auf bürgerliche Bilder und Ideale irgendwo existenziell anzukommen (contradictio in adiecto), muss unvermeidlich scheitern. Noch überraschender jedoch, und dies war nicht offensichtlich erwartbar – meine Natur eilt mir zu Hilfe. Sie treibt mich zu dem, was meine Interpretation von mir fordert (immer die Gefahr mit bedacht, dass ich hier in eine selbst gestellte Falle laufe).

Mittwoch, 30. September 2020

657

Wir sollen Menschen sein, nicht Übermenschen. Der reservative Einspruch richtet sich auch gegen alle religiösen und nach-religiösen, gegen alle metaphysischen und nach-metaphysischen Überformungen unserer Natur. Die reservative Urteilskraft schafft – in lebenspraktischer, nicht in legitimatorischer Absicht – viel Raum auch dafür, natürlich sein und bleiben zu dürfen, das sein und bleiben zu dürfen, was und wie wir sind: Sünder.

Mittwoch, 23. September 2020

656

In jeder Verallgemeinerung äußert sich immer auch Hilflosigkeit. Vor den Überforderungen, die uns die Wirklichkeit zumutet, fliehen wir gerne in Universalismen. Kants kategorischer Imperativ lässt sich auch als resigniertes Schulterzucken lesen.

Donnerstag, 17. September 2020

655

Alles Leben ist vergebliches Warten auf die Pointe.

Donnerstag, 10. September 2020

654

Das Ideal moderner Demokratie: die Vielen zur einen Vernunft bringen. Das Ideal spätmoderner Demokratie: die Vielen zur Anerkennung der vielen Vernünftigkeiten bringen. Dieses wie jenes Ideal nötigt tendenziell zu Radikalität und Gewaltsamkeit.

653

Ich habe allzu lange nicht sehen können, dass es wichtig, bisweilen unverzichtbar ist, anderen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, mich falsch zu verstehen, sich ein unzutreffendes Bild von mir zu machen, mich in eine unangemessene Erzählung hineinzuinterpretieren.

Freitag, 4. September 2020

652

In manchen, in nicht wenigen Beziehungen und Kontexten müssen wir eine gewisse Unaufrichtigkeit wahren. Sonst können wir hier nicht (mit)leben.

Donnerstag, 20. August 2020

651

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (Hermann Hesse). Die Wirklichkeit ist eine andere: Jeder Anfang trägt den Keim der Entzauberung in sich. Wer sich von Anfängen verzaubern lässt, der flieht vor dem Wirklichen in die Behausung des Mythos.

650

Weil er es noch für möglich hielt, hat Kant an Land gedacht, mit festem Boden unter den Füßen. Weil es ihm nicht mehr anders möglich war, hat Nietzsche sich auf ein Denken im Offenen, auf stürmischer abgründiger See einlassen müssen. Reservation ist der Versuch, sich im Offenen zu befestigen, auf hoher See so fest zu werden, als gäbe es weder Sturm noch Abgrund.

Dienstag, 18. August 2020

649

In unsrer Moral verbirgt sich immer auch sehr viel Missgunst. Was wir anderen untersagen, ist nicht selten das, wonach wir uns sehnen, worauf wir jedoch – aus welchen Gründen auch immer – zu verzichten genötigt sind.

Freitag, 7. August 2020

648

Als mit Bewusstsein begabte und belastete Wesen halten wir uns im Wirklichen durch die Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Manchmal passt die Erzählung nicht mehr zum Wirklichen, manchmal passt das Wirkliche nicht mehr zur Erzählung. Ich bin mir noch nicht sicher, was uns mehr fordert. In diesem wie in jenem Falle aber müssen wir unsere Geschichte umerzählen. Etwas anderes bleibt uns nicht. Das Wirkliche geht seinen Gang. Letztlich unabhängig von unserer Erzählung.

Erste Anmerkung: Nicht wenige wissen nicht um ihre eigene Erzählung. Dessen ungeachtet haben sie eine.

Zweite Anmerkung: Nicht wenige unserer Erzählungen sind in unserer Natur verankert. Da helfen auch keine Umerzählungsbemühungen.

Montag, 13. Juli 2020

647

Das Böse verbirgt sich gerade auch dort, wo die Masse das Gute wähnt. Vorsicht also vor jeder (zur Absolutheit neigenden) Moral. Allerdings auch vor jeder Gegenmoral. Denn die heranwachsende Gegenmoral von heute ist bekanntlich nicht selten die Moral von morgen.

Anmerkung: Die jesuanische Bergrede ist keine Moralrede. Sie ist vielmehr Ermutigung zu unausgesetzter Unter- und Durchbrechung jeder Moral. Daher ist das, was diese Rede fordert, massenuntauglich.

Freitag, 10. Juli 2020

646

Wie kann man unter den werdenden, sich aufheizenden politischen und sozialen Bedingungen noch öffentlich ideologiekritisch sein? Zumal dann, wenn man die gegenwärtigen politischen und sozialen Systeme, sofern sie als Ideologien, als sich selbst verabsolutierende Heilslehren auftreten, in seine Kritik einschließt?
Auf ganz unterschiedlichen Interpretationswegen kann man sich in analogen Diagnosen begegnen – und sich dann wieder, in den jeweiligen Folgerungen, weit voneinander entfernen. In Momentaufnahmen kann also Ungleiches gleich erscheinen. Beispiel: die Kritik des Apokalyptikers und die Kritik des Verschwörungsmythologen. Nun kennt aber das fiktive Subjekt, das wir Öffentlichkeit nennen, in Zeiten von Social Media kaum noch etwas anderes als Momentaufnahmen. Es fragt nicht nach Herkunft und Zukunft, nicht nach Gründen und Schlüssen. Es differenziert nicht, es verallgemeinert. Es macht aus Ungleichem Gleiches.

Wie also noch öffentlich kritisieren, ohne durch das Subjekt Öffentlichkeit mit Ungleichen verglichen zu werden? Das „flieht in die Berge“ wird tatsächlich zur verlockenden Option.

Dienstag, 30. Juni 2020

645

Mangelnde Aufklärung über sich selbst ist immer auch ein Schutz, vor allem ein Schutz vor sich selbst. Diesen Schutz zu verlieren – dafür muss die Zeit reif, dafür muss man vorbereitet und bereit sein. Aufklärung über sich selbst kann allzu leicht überfordern, kann hilflos machen. Und diese Hilflosigkeit kann gefährlich sein, gefährlicher noch als Naivität und Unmündigkeit.

Freitag, 19. Juni 2020

644

Traurig – wie viele kluge, zum Denken fähige Menschen wir nach wie vor an Ideale, Idealismen oder gar Ideologien verlieren. Und natürlich auch an die Feinde des Ideals.
Meine eigenen Ideale, durch die ich hindurchgegangen bin, waren eher Experimente als Überzeugungen. Experimente, die stets am Wirklichen gescheitert sind.

Sonntag, 7. Juni 2020

643

Zu Nr. 636: Gott – das Nichts, das das Nichtige nichtet. Mit diesem Satz ist tatsächlich alles gesagt, von diesem Satz ausgehend lässt sich alles sagen. Nicht zuletzt dies: Wenn wir von Gott reden wollen, müssen wir vom Menschen reden (Bultmann). Oder besser: Von Gott reden heißt vom Weltwirklichen reden. Und diese Rede kann nur zwei Absichten haben: Entzauberung des Wirklichen und Entmächtigung des Wirklichen. Damit zugleich: Selbstentzauberung des Menschen und Selbstentmächtigung des Menschen.

642

Auch so lässt sich Weltwirklichkeit interpretieren: Jeder Augenblick, in dem sich das Wirkliche für uns fügt, ist Anlass zu Dankbarkeit und Demut. Seitdem wir an Newton, seitdem wir an eine gesichert funktionierende und dienstbare Wirklichkeit glauben, haben wir Dankbarkeit und Demut verlernt.
Aber auch: Seitdem wir an Newton glauben, sind wir selbst nichts anderes mehr als Funktionäre und Diener des Wirklichen. In der gegenwärtig zu beobachtenden Sehnsucht nach der Ausnahme, gerade auch in der Sehnsucht nach politischer Willkür, könnte sich die tiefer liegende Sehnsucht Ausdruck verschaffen, nicht länger bloß funktionieren und dienstbar sein zu müssen.

641

Der Fehler reformatorischer Gottesverflüchtigung: Neben dem unsichtbar werdenden Gott wird ein wirklicher Gott behauptet, der von sich das zu offenbaren beschlossen hat, was uns fassbar und zu wissen notwendig ist. Dieser Gott ist jedoch eine sich selbst destruierende Gültigkeitsfiktion (ein Schelm wer behauptet, die Selbstdestruktion des offenbarten Bildes sei die verborgene Absicht des Offenbarenden).

640

Vorhersehbarkeit gibt es immer nur im Nachhinein.

Sonntag, 17. Mai 2020

639

Was im Kairos zusammenfallen muss (siehe auch Nr. 500).

Fügung: Die im Fluss des Chronos sich als fragmentiert und widerständig erweisende Wirklichkeit zeigt sich im Kairos plötzlich und überraschend als sich fügend, als fügsam, als gefügig.

Takt des Urteils (Clausewitz): Während sich die Wirklichkeit unerwartet fügt, muss ihr Gang aufmerksam und sensibel beobachtet, vorausgeahnt, durchschaut werden.

Tatkraft: Das Urteil bleibt wirkungslos ohne die Tat. Nun zählt nicht, was zu tun wäre. Es zählt allein, was getan wird. Ruhe- und rastlos. Im Takt der Wirklichkeitsentwicklung.

Ignoranz: Im Fluss des Chronos ist vieles gleichzeitig wichtig, im Kairos darf sich der Blick allein auf das richten, was hier und jetzt Not tut. Lass die Toten ihre Toten begraben.

Durchhaltewillen: Kairos ist selten bloß ein Augenblick, ist nicht selten eine Spanne. Diese Spanne gilt es auszuhalten und auszufüllen. Kein Krieg ist gewonnen, bevor nicht die letzte Schlacht geschlagen ist.


Erste Anmerkung: Fehlt die Fügung, so gibt es gar keinen Kairos, den man beim Schopfe packen könnte. Fehlen Takt des Urteils, Tatkraft, Ignoranz oder Durchhaltewillen, so hascht die Hand ins Leere, die Gelegenheit versinkt im Chronos.

Zweite Anmerkung: Es gibt auch eine Fügung des Bösen. Es gibt einen Kairos, dem man sich entziehen muss wie Josef der Frau des Potiphar.

638

Die deutschen Streitkräfte sind heute das geworden, was man durch die Konstrukte Innere Führung und Staatsbürger in Uniform hat verhindern wollen: ein Staat im Staat. Nicht im Sinne des (durchaus befragungswürdigen) Schreckensbildes, das man in mahnender Erinnerung an Weimar vor Augen hatte, nicht im Sinne eines den demokratischen Rechtsstaat von innen gefährdenden Krebsgeschwürs. Die Bundeswehr ist insofern Staat im Staat, als dass sie sich über die Jahrzehnte zu einem rechtsstaatlich-demokratischen Staatsanalogon inmitten des demokratischen Rechtsstaates aufgebläht hat. Nahezu alle zentralen Funktionen und Prozesse, die im Staat selbst zu beobachten sind, sind innerhalb der Streitkräfte gespiegelt.
Das hat selbstverständlich gute Gründe. Es verhindert jedoch, dass die Streitkräfte sich selbst als bewegliches Werkzeug verantwortlicher Politik begreifen und als bewegliches Werkzeug solcher Politik gebraucht werden können.

Sonntag, 10. Mai 2020

637

Diejenigen, die gerade im Zuge der beginnenden Corona-Verarbeitung als Verschwörungstheoretiker belächelt oder bekämpft werden, haben ja nicht das, was man Theorie nennen könnte. Verschwörungstheoretiker sind eigentlich Verschwörungsmystiker. Sie durchschauen und verstehen nicht mehr und nicht weniger als ihre Feinde: die unmittelbar anschauungsgläubigen Offensichtlichkeitsmystiker. Was Verschwörungsmystiker so gefährlich macht: Ihre krude Mystik bringt auch jene in Misskredit, die wir gerade jetzt so dringend brauchen: die Apokalyptiker und Propheten.

Dienstag, 28. April 2020

636

Gott – das Nichts, das das Nichtige nichtet. Die jüdisch-christliche Tradition hat zwei passende Begriffe, die andeuten können, was damit gesagt sein soll: Heiligkeit und Licht. „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth“ (Jes 6,3). „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (1 Joh 1,5). Die Begriffe Heiligkeit und Licht als Bezeichnungen Gottes, als Bezeichnungen für – wenn man so will – Eigenschaften Gottes, bleiben als solche besser ungefüllt, leer. Sobald sie repräsentativ gefüllt werden, eröffnen sie irreführende Analogien, verlieren sie unmittelbar das, was sie zum Ausdruck bringen können.

Montag, 27. April 2020

635

Not lehrt beten? Wer in der Not betet, hat keine Not. Er hat ja noch oder wieder neu oder erstmalig einen sichtbaren Gott. Wem die Not auch jedes Gebet von den Lippen und aus dem Herzen reißt, wem die Not jede Zuflucht zu einem sichtbaren Gott versperrt, der hat Not. Not lehrt nicht beten, sondern verstummen, schweigen.

Sonntag, 26. April 2020

634

Denken im eigentlichen Sinne ist Nichts-Denken, Denken des Nichts, Denken im Ab-Grund des Nichts (Nr. 544). Es ist das Mutige und Eindrückliche der Roaring Twenties des 20. Jahrhunderts, sich dem Schrecken des Nichts und damit dem Schrecken des eigentlichen Denkens noch einmal gestellt zu haben. An diesem Schrecken entzündet sich etwa die Theologie Karl Barths, vor allem aber auch die Philosophie Martin Heideggers (wobei hier Entzündung durchaus mehrsinnig begriffen werden darf).

Montag, 20. April 2020

633

Die Beobachtung eines lieben Freundes bewegt mich zu einer kleinen Zwischenbemerkung: Dieser Blog ist kein öffentliches Tagebuch, er ist so etwas wie ein fragmentarisches Denk-Notizbuch. Dieser Blog ist nicht der Ort, an dem ich meine Befindlichkeiten vor der Welt ausbreite. Er ist der Ort, an dem ich mich (auch vor dem Hintergrund meiner Befindlichkeiten) im Denken aufzuklären, zu orientieren und zu befestigen versuche. Dieser Blog ist also nicht Ausdruck von Festigkeit, in ihm äußert sich vielmehr ein möglicher Selbstbefestigungsversuch mitten in einer komplexen und kontingenten Wirklichkeit, mitten im ungeheuren chaotischen „Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt“ (Max Weber).

632

In den ersten Wochen des Jahres habe ich noch einmal ein wenig mit Nietzsche zu denken versucht, in den vergangenen Corona-Wochen lese ich vor allem Heidegger. Hier wie dort entdeckt sich mir wenig Neues, schon gar nichts Wegweisendes. Auseinandersetzungen wie diese helfen aber immer und immer neu bei der Konturierung des eigenen Denkens.

Sonntag, 19. April 2020

631

Die Massenbewegungen, die wir gerade in westlichen Gesellschaften beobachten können, haben auch sehr viel zu tun mit dem, was in den einschlägigen sozialwissenschaftlichen Diskursen unter dem Begriff des Postheroismus verhandelt wird. Unter postheroischen Bedingungen (die in aller Regel wohlständige Bedingungen sind) gilt es als irrational, bedingungslos für etwas einzustehen, was nicht unmittelbar materialisierbar ist, was nicht unmittelbar als dem Leben und der Wohlständigkeit des Lebens zweckdienlich begriffen werden kann. Kaum jemand ist noch bereit, sich für eine Idee, für einen Glauben, für eine Interpretation zu opfern, gar zu sterben. Opferbereitschaft an sich, vor allem aber der Gedanke eines stellvertretenden Opfers sind fremd geworden, gelten geradezu als dekadent.

So gesehen, nebenbei bemerkt, ist es erstens nicht verwunderlich, dass die traditionelle christliche Erzählung vom stellvertretenden Opfer Jesu unter postheroischen Bedingungen kaum noch Gehör und Verständnis findet. Und es ist zweitens nicht verwunderlich, dass die postheroischen Kirchenführer unserer Tage gerade in der gegenwärtigen Krise so schweigsam sind. Nicht zuletzt auch in Deutschland. Im Beamtenstatus erscheint es so irrational, für religiöse Fiktionen den Kopf hinzuhalten. Allenfalls für die Behauptung einer wie auch immer gearteten Systemrelevanz will man sich noch erheben – also letztlich für nichts anderes mehr als für die Behauptung und Verteidigung des eigenen Status.

630

In Bedrängnis, in Angst versetzt neigen wir zur Komplexitätsreduzierung. Dann wird die Bedrohung sichtbarer, griffiger. Auch die Rettung scheint uns dann sichtbarer, griffiger. Und die Feinde der Rettung selbstverständlich auch.

Montag, 13. April 2020

629

Was ich im Corona-Phänomen mitgefangen denkend bewege – insbesondere im Blick auf möglicherweise kommende politische Folgekausalitäten, gerade auch im Blick auf mögliche Slippery-Slope-Effekte. Einige zusammenfassende Stichsätze.

Sonntag, 12. April 2020

628

Wie dürftig und gefährlich doch die christlich überlieferte Hoffnung bei näherem Hinsehen ist. Karfreitag – auf die eine oder andere Erzählweise Ereignis und Ermöglichungsgrund einer moralischen Läuterung, eines moralischen Neubeginns. Ostern – auf die eine oder andere Erzählweise Ereignis und Ermöglichungsgrund einer heilenden Wirklichkeitstransformation: Das Gute ist im Werden, das Beste kommt zum Schluss. Diese Hoffnung ist dürftig, weil sie das Gehoffte immer ins Kommende verschiebt. Diese Hoffnung ist aber auch gefährlich, weil sie alles auf Moralisierung setzt und zugleich in einer unendlichen Fortschrittsdynamik gefangen setzt.

Erste Anmerkung: Weil die Verschiebung des Gehofften ins Kommende unerträglich ist, haben die verschiedenen Christentümer zahlreiche Mittel gefunden, ihres Gottes und damit des Gehofften schon jetzt irgendwie habhaft zu werden – je nach religiöser Bedürftigkeit angesiedelt irgendwo im Spektrum zwischen magischer (sakramentaler) Realpräsenz und schlichter (rationaler) Symbolik.

Zweite Anmerkung: Die jesuanische, paulinische, messianische Hoffnung ist im Unterschied zur christlichen paradox reich (ein nicht-repräsentativer Begriff für das, was ich sagen will, steht mir leider nicht zur Verfügung). Indem sie die Weltwirklichkeit schon im Hier und Jetzt als eine (fiktiv – nicht wirklich, glaubend – nicht schauend) aufgehobene und überwundene zu begreifen ermutigt, ist sie eine im Hier und Jetzt immer schon gegenwärtige, von der realen Habhaftigkeit des Gehofften völlig unabhängige Hoffnung. Zugleich befreit sie den Hoffenden zu einer angemessen und behutsamen, nicht moralisch verengten und nicht fortschrittsverpflichteten Handhabung des Weltwirklichen.

627

Die religiöse Frömmigkeit (es ist auch eine nicht-religiöse Frömmigkeit denkbar), die uns gerade in besonderem Maße über unsere Rechner und Smartphones belästigt, erinnert mich noch einmal an Bultmanns kaum zu überbietendes Diktum des Glaubens: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Man kann nicht – intellektuell redlich – via Facebook, Twitter oder Instagram die Botschaft Jesus ist auferstanden verbreiten und gleichzeitig die historische Tatsächlichkeit dieses Ereignisses behaupten (siehe dazu erläuternd etwa Nr. 23 und 30).

Samstag, 11. April 2020

626

In seinem Entwurf Zum ewigen Frieden hält Kant den Zustand abgesonderter Staaten unter der Idee des Völkerrechts für „besser als die Zusammenschmelzung derselben durch eine die andere überwachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht, weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt.“ Zwar streben einzelne Staaten durchaus nach universaler globaler Herrschaft, jedoch, so Kant: Die „Natur will es anders“. Als Eigenmacht bedient sich die Natur „zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen“.

Mindestens ein Mittel der Natur hatte Kant hier noch nicht im Blick: das Virus. Und dieses Mittel ist (als von der Vernunftnatur des Menschen unabhängiges) potenziell so mächtig, dass es sogar jedes einzelne Volk als Staat wieder zersetzen und auseinandertreiben könnte.

625

Im durch Corona auferlegten Stubenarrest können Menschen dem Druck ihres Bedürfnisses nach Mitteilung und Selbstdarstellung offenbar kaum standhalten. Und auf digitalem Wege gelangt nun nahezu alles an die Weltöffentlichkeit, was unter regulären Funktionsbedingungen wenigstens halbwegs eingefangen wird (weil unter diesen Bedingungen schlechtweg kaum Zeit bleibt).
Unter anderem gehen gerade unzählige Challenges viral (wie man heute so sagt), in der Osterzeit nicht zuletzt auch christlich-religiöse Challenges. Die jüngste Herausforderung: #JesusInMir. Menschen sollen, in missionarischer Absicht, in einem kurzen Clip von ihren Gottesbegegnungen, von ihren Gotteserfahrungen berichten. Wenn man sich, halbwegs ideengeschichtlich vorgebildet, durch die verschiedenen Beiträge klickt, wiederholt sich hier eine befremdlich wirkende Beobachtung: die Beobachtung der Permanenz einer naiven schillernden Gnosis, damit zugleich einer schlichten Identifikation von Gott und Selbst, der Interpretation von Selbsterfahrungen als (reinigende) Gotteserfahrungen.

Nun ja. Meine Erfahrung ist: Wenn ein christlicher Gnostiker nicht durch entzaubernde Welterfahrung aus dem Zirkel von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung herausgeschleudert wird, dann ist gegen seine Gnosis kein Kraut der Welt gewachsen (siehe dazu auch Nr. 78).

Freitag, 10. April 2020

624

Zur reservativen Interpretation von Kreuz und Auferstehung habe ich an anderer Stelle schon einige Andeutungen gemacht (etwa Nr. 41, 44, 72, 80, 288). Heute, es ist Corona-Karfreitag, will ich nur einen kurzen erläuternden Hinweis geben im Rückblick auf die vergangenen Tage.

623

Die religiösen Debatten der vergangenen Tage legen noch einmal sehr schön offen, dass sich mit der Erzählung, Gott sei Schöpfer der Weltwirklichkeit, deutlich mehr Fragen stellen, als dass damit Fragen beantwortet werden. Vor allem aber: Mit dieser Erzählung sind immer und unvermeidlich irreführende Analogiebildungen und trügerische Wirklichkeitserwartungen gegeben.

Mittwoch, 8. April 2020

622

Gestern hat Giorgio Agamben in der NZZ nachgelegt (hier der Text). Er skizziert vor allem zwei besorgte Beobachtungen. Zunächst: Das politische und gesellschaftliche Verhalten unter Bedingungen des Coronaereignisses lässt ahnen, wie verseucht die Bedingungen sein müssen, unter denen wir eigentlich leben. Corona als Ausnahmekrankheit deckt unser tatsächlich krankes Leben, die Unerträglichkeit unseres regulären, unseres geregelten Lebens auf.
Dann, im Anschluss an Elias Canetti: Die geradezu panische Bereitschaft der vermeintlich demokratischen Massen, unter der Coronabedrohung widerstandslos auf zentrale Freiheitsrechte zu verzichten und sich unverzüglich in die soziale Distanzierung zu flüchten – in ihr erweisen sich die gegenwärtigen Gesellschaften als (kommende) passive Massen, die, unmittelbar mit dem Tod konfrontiert, ängstlich nach dem einen Kopf Ausschau halten, der ihnen ihr Überleben sichern kann. Auf eine so sich äußernde Massenangst ums Überleben lässt sich jedoch „allein eine Tyrannei errichten, nur der monströse Leviathan mit seinem gezückten Schwert.“

Agambens Rationalität ist hier erneut zu eng. Aber gerade diese Verengung macht überdeutlich: Hobbes ante portas. Ein politisches Denken, das auf Angst gegründet ist: And hereupon it was my Mother Dear | Did bring forth Twins at once, both Me, and Fear. Und ein politisches Denken, das sich auf die bleibende, sozialpsychologische Einsicht des Leviathan stützen kann: Massen, die allein noch von ihrer Angst ums Überleben angetrieben und zusammengehalten werden, neigen dazu, allein noch einer absoluten und totalen Politik zuzutrauen, das Überleben tatsächlich gewährleisten zu können.

621

Nun, wo die Politik notgedrungen über Rückwege in die angestrebte Normalität nachdenken muss, spätestens jetzt wird sie notgedrungen differenzieren, wird sie diskriminieren müssen.
In dieser Lage liegen die Grenzen, ja die Unhaltbarkeiten unserer Lebensideale offen vor Augen. Gerade auch das eine, alles begründende Ideal der Menschenwürde mündet nun unvermeidlich in eine Aporie (und nicht etwa bloß in ein irgendwie noch handhabbares Dilemma), in eine unschließbare Offenheit, in eine Weglosigkeit, in eine Unentscheidbarkeit. Wir werden aber politisch und gesellschaftlich nicht daran vorbeikommen zu entscheiden. Und das bedeutet Fürchterliches: Wir werden Tote und wahrscheinliche Tote zählen und gegeneinander aufwiegen müssen. Schlimmer, schrecklicher noch: Wir werden gezwungen sein, über verzichtbar und unverzichtbar nachzudenken.
Die Frage, die sich uns damit in dramatischer Weise stellt: Was, wenn Wirklichkeit und Wirklichkeitsentwicklung unsere religiös oder säkular hinterlegten Lebensideale destruieren? Damit ist zugleich die fundamentale Frage nach unserem Wirklichkeitsverständnis überhaupt gestellt. Die Konfrontation mit dem Coronaereignis fordert von uns erneut und nun noch einmal unübersehbar eine Revolution, eine Umwälzung, eine Umkehrung unseres Wirklichkeitsverständnisses. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass wir diese Forderung übersehen und überhören werden. Wir werden zur Normalität zurückkehren – wie auch immer diese dann aussehen wird.

620

Ein Gedanke im Kontext und im Geiste unseres gegebenen Lebenssystems: Wenn die Politik derzeit die Grenzen auslotet, die Grenzen möglicherweise überschreitet, die unsere Verfassung ihrer eigenen Einschränkbarkeit oder gar Außerkraftsetzung zieht, dann sind vor allem auch jene zu besonderer Wachsamkeit herausgefordert, die die Ausnahmeentscheidungen der Politik zu exekutieren haben: Polizei, Verwaltungen, Streitkräfte. Alle Teile der Exekutive müssen sich nachdrücklich und dauerhaft daran erinnern (lassen), dass sie in Deutschland mit guten Gründen nicht auf die Politik, nicht auf einzelne politische Entscheidungen, schon gar nicht auf einzelne Politiker verpflichtet sind. Sie sind auf die Verfassung verpflichtet. Streng genommen gibt es in Deutschland kein Primat der Politik, sondern ein Primat der Verfassung. Zwar spricht man – vor allem im militärischen Kontext – vom Primat der Politik, um (ebenfalls mit guten Gründen) den Vorrang des Politischen vor dem Militärischen zu betonen. Dieser Primat der Politik setzt aber immer auch eine Unterordnung des Politischen unter die Verfassung voraus. Wird diese Unterordnung zumindest zweifelhaft, dann ist gerade auch den Gewaltinstrumenten der Politik höchste Wachsamkeit geboten. Dann gilt es, unablässig zu prüfen und im konkreten Vollzug weise, möglicherweise auch anders zu entscheiden. Nicht im Geiste der jeweils aktuellen Politik, sondern im Geiste der Verfassung.

Sonntag, 5. April 2020

619

Corona hat auch eine nervöse juristische, teils rechtsphilosophische Debatte provoziert – in Deutschland auf einem erfreulichen Niveau abgebildet im sogenannten Verfassungsblog. Ausgedeutet wird hier insbesondere das Verhältnis von Ausnahme und Recht, damit mehr oder weniger deutlich noch einmal das Verständnis des Rechts überhaupt.

Samstag, 4. April 2020

618

Um die gestrige Andeutung noch ein wenig zu konkretisieren: Eine der momentan diskutierten Strategien zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist das sogenannte Cocooning, also der gezielte, im Übergang bis zur Bereitstellung eines Impfstoffes praktizierte Rückzug von identifizierten Risikogruppen aus dem öffentlichen Leben (bei gleichzeitiger Sicherstellung ihrer Versorgung und Betreuung). Damit ließen sich vermutlich mehrere Ziele gleichzeitig verwirklichen: eine baldige Rückkehr der Masse (und damit des politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Systems) in die Alltäglichkeit, eine möglichst rasche Herdenimmunisierung, eine Entlastung der Intensivkapazitäten sowie eine Senkung der Todesopferzahlen.
Cocooning wäre im Unterschied zu den bisherigen Maßnahmen eine deutlich differenziertere politische Strategie. Sie ließe sich sogar (etwa im europäischen Rahmen) noch einmal regional differenzieren. Damit wir allerdings gar nicht erst in Versuchung kämen, unter dem freundlichen Deckmantel des Cocoonings spätmoderne Leprosorien (Lager) einzurichten, müsste Cocooning das sein und bleiben, was es eigentlich sein soll: ein politisch empfohlener, aber dessen ungeachtet freiwilliger Akt. Das damit verbundene Risiko für alle müssten wir billigend in Kauf nehmen wollen. Ebenso natürlich den möglichen Tod von Infizierten und Erkrankten, die nicht zu den identifizierten Risikogruppen gehören.

Ob ein so verstandenes Cocooning unter Menschen möglich wäre, die zwischen zwei Unbedingtheiten aufgespannt sind – Repräsentation des Allgemeinen und Repräsentation des Selbst (Nr. 594): ich zweifle.

Nachtrag: Ein Freund beschwert sich zu Recht über die euphemisierende Tendenz des Begriffs Cocooning. Er assoziiere damit spontan das Lebensgefühl des Hygge. Was mit Cocooning gefordert und abverlangt ist, ist jedoch alles andere als hyggelig.

Freitag, 3. April 2020

617

Bei Facebook in einer kleinen Notiz Max Webers Politik als Beruf zur Lektüre empfohlen – ergänzt durch eine kurze Erläuterung:

Donnerstag, 2. April 2020

616

Gestern die Frage, ob es überhaupt wünschenswert ist, dass von der gegenwärtigen Moralisierung etwas bleibt. Grundsätzlich neige ich zu der Annahme, dass Moral (also die mehr oder weniger bewusste Einigung darauf, in raum-zeitlichem Beieinandersein unter bestimmten Bedingungen gemeinsam das Gleiche zu tun) in wenig komplexen, überschaubaren und auf Dauer gestellten, langfristig stabilen Kontexten durchaus eine angebrachte Weise sein kann, mit diesem oder jenem Wirklichkeitsaspekt umzugehen, ihn zu handhaben.
In einer Weltwirklichkeit, wie wir sie heute (global) vorfinden, wie wir sie gerade auch durch unsere eigene moderne Moral mit hervorgebracht haben – also in einer hoch komplexen und hoch kontingenten Weltwirklichkeit –, hilft uns Moral kaum noch weiter. Im Gegenteil. Moral, die Verallgemeinerung und Automatisierung menschlicher Praxis in raum-zeitlichem Beieinandersein, scheint mir zunehmend die unangemessene, zuletzt immer auch dynamisierend und verschärfend wirkende Antwort auf Komplexität und Kontingenz des Wirklichen zu sein.
Wenn wir also derzeit eine natürliche, geradezu archaische Remoralisierung erleben, dann ist diese Bewegung als panischer Verzweiflungsakt in Überlebensabsicht durchaus verständlich. Wir dürfen in der Verzweiflungsmoral des Überlebens allerdings nicht allzu lange verharren. Sie darf schon gar nicht – was leider wahrscheinlich ist – in der einen oder anderen Form gerinnen und permanent werden.
Große Verantwortung lastet hier auf den Schultern der Politik. Allerdings hat nicht zuletzt auch die deutsche Politik auf die Corona-Bedrohung in ihrem ersten Zugriff wenig glücklich gewählt – und dies, obwohl doch gerade die deutsche Politik vor dem Hintergrund des föderalen Aufbaus des deutschen politischen Systems andere, angemessenere Antworten hätte finden können. Statt aber das Einzelne zu ermöglichen, statt dem Einzelnen Raum zu verschaffen, hat man – wie gewohnt, wie eingeübt – das Allgemeine, den universalen Hammer gewählt. Das ist nur zu verständlich, weil der allgemeine Schlag mit dem Hammer leichter zu rechtfertigen und leichter durchzusetzen ist (wer hätte nicht schon den allgemeinen Schrei nach Gerechtigkeit im Ohr). Jedoch: Das Einzelne geht unter diesem Schlag allzu leicht zu Bruch. Und ob wir als politische Kultur nach diesem Schlag – tanzend, wie manche annehmen – aus der nun geschaffenen Lage und Neigung wieder herausfinden, scheint mir wenig wahrscheinlich.

Mittwoch, 1. April 2020

615

Wenn Nietzsches These zur Genealogie der Moral grundsätzlich in die richtige Richtung deutet – und manches spricht dafür –, dann können wir annehmen, dass unsere Moral immer auch Ausdruck unserer Natur ist, dass sich in unserer Moral unsere natürlichen Verfasstheiten, unsere natürlichen Bedürfnisse Ausdruck verschaffen. Zugespitzter: Moral ist immer auch der Versuch, unsere natürlichen Bedürfnisse zu stillen, die Stillung unserer natürlichen Bedürfnisse zu sichern. Und unsre Moral wird umso vehementer und strikter, je deutlicher die Stillung unserer natürlichen Bedürfnisse gefährdet, bedroht ist.
Damit ist auch gesagt: Menschen neigen immer gerade dann zur Moral, wenn sie sich einer Wirklichkeitsmacht gegenüber sehen, die die Stillung ihrer natürlichen Bedürfnisse bedroht und von der sie annehmen, dass man sie auch und nicht zuletzt durch Moral in die Schranken verweisen kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich der coronainduzierte Moralisierungsschub und der virale Solidarisierungsdruck, die derzeit zu beobachten sind, recht leicht erklären: Hier ereignet sich keine Besinnung auf in Vergessenheit geratene (religiöse, metaphysische) Werte und Praktiken. Hier kündigt sich keine lange ersehnte kulturelle Wende an. Es geschieht schlicht dies: Hier zucken und rücken Menschen zusammen, die um die Stillung ihrer Bedürfnisse (Überleben, Wohlstand) besorgt sind und die ihre Hoffnung darauf setzen, dass sie den Feind auch damit zurückdrängen können, dass sie alle gemeinsam das Gleiche tun. Menschen tun also im Angesicht der von Corona ausgehenden Gefährdung ihres Überlebens und ihres Wohlstandes gerade das, was bedrohte Menschen in raum-zeitlichem Beieinandersein schon immer getan haben. Und dabei sind jene besonders eifrig (und dies auch schon immer), die sich als besonders ohnmächtig empfinden und die annehmen, im schlechtesten Falle besonders viel zu verlieren. Also jene, die in besonderer Weise an der Weltwirklichkeit hängen – und natürlich an dem, was sie der Wirklichkeit mühsam abgerungen zu haben glauben.
In gewissem Sinne könnte man im Blick auf die durch Corona ausgelöste Bewegung von einer natürlichen Remoralisierung, einer natürlichen Resolidarisierung sprechen. Dieses Geschehen ist weder gut noch böse. Dieses Geschehen geschieht einfach. Ganz natürlich. Ob von diesem Geschehen etwas bleibt und was von ihm bleiben wird – das ist derzeit kaum absehbar. Und ob es überhaupt wünschenswert ist, dass von diesem Geschehen etwas bleibt – das ist eine Frage, die mit dem Geschehen selbst noch nicht beantwortet ist.

Sonntag, 29. März 2020

614

Jetzt, wo die Wirklichkeit unseren politischen Systemen noch einmal einen mächtigen Keil ins Getriebe geschlagen hat, stellt sich nicht zuletzt die Frage nach dem, was eigentlich Politik ist oder sein muss, was gar gute Politik genannt werden kann.
Offensichtlich ist: Politik kann und darf nicht auf dem Rat der (empirischen) Wissenschaften verzichten. Offensichtlich ist aber auch: Die (empirischen) Wissenschaften können und dürfen der Politik nicht sagen, was sie zu tun oder zu lassen hat.
Vor einiger Zeit habe ich einen (heftig kritisierten) Text zur Frage nach dem guten Soldaten publiziert. Dieser Text skizziert vor allem jenen Soldaten, der sich als politisch mitverantwortlich erweist, damit aber zugleich auch, was unter verantwortlicher Politik überhaupt vorgestellt werden kann.
Diese Skizze scheint mir nach wie vor recht treffend, daher stelle ich sie hier vollständig zur Verfügung.

Freitag, 27. März 2020

613

Im Corona-Ereignis werden, wenn ich die Wirklichkeitsentwicklungen richtig beobachte und abschätze, drei eng ineinander verschlungene Massenbewegungen noch einmal überdeutlich absehbar.

612

Bitte beachten: Alle geplanten Demonstrationen gegen die Beschränkungen äußerer Freiheit durch Ausgangsbeschränkungen fallen wegen der derzeitigen Ausgangsbeschränkungen bis auf Weiteres aus.

Passt auf Euch auf.
#wirbleibenzuhause

Donnerstag, 26. März 2020

611

Ich will nicht ausschließen, will es sogar hoffen, dass das Corona-Ereignis in Einzelnen ein Bewusstsein dafür weckt, dass etwas nicht stimmt mit der Wirklichkeit, dass etwas nicht stimmt mit unserer wirklichen Existenz, mit unserer Existenz im Wirklichen.
Ich will nicht ausschließen, will es sogar hoffen, dass Einzelne sich auf die Suche machen nach einer veränderten Interpretation des Wirklichen, nach einer neuen inneren Unabhängigkeit vom Wirklichen und seinen Verheißungen, nach einer veränderten Handhabung des Wirklichen.

Als Massenerscheinung sehe ich diese Bewegung jedoch nicht. Obwohl das Corona-Ereignis als solches durchaus eine günstige, weil irritierende Atmosphäre geschaffen hat. Unser großes spätmodernes Projekt globaler Vergesellschaftung, globaler Politik und globalen Wirtschaftens ist unübersehbar in Frage gestellt. Vorstellung und Praxis globalen Lebens sind sichtlich infiziert. Alles, wirklich alles hatten wir darauf ausgerichtet, global zusammenzurücken, uns global engmaschig zu vernetzen. Und nun werden wir plötzlich auseinander getrieben wie eine Herde Schafe, die keinen Hirten hat und unter die der Wolf gefahren ist wie der Leibhaftige. Babel lässt grüßen.
Von der momentan durch Medien und Netze grassierenden, oft allzu wichtigtuerisch und selbstverliebt zur Schau gestellten Solidarisierung darf man sich nicht täuschen lassen. Eine bloß virtuelle und bloß flüchtige Erscheinung.

Mittwoch, 25. März 2020

610

Man kann Corona durchaus als Ereignis willkommen heißen. Im Netz kursieren nicht wenige Texte, die die Zeit danach zu antizipieren versuchen und dabei auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel, gar auf eine kulturelle Wende hoffen.

Inzwischen in zahlreichen Portalen hinterlegt und vielfach geteilt wird etwa eine kleine Erzählung des Zukunftsforschers (was auch immer das sein mag) Matthias Horx. Er erprobt den zukünftigen Blick zurück und bezeichnet die gegenwärtige Krise als historischen Moment. Wir werden uns wundern, so nimmt er an, wie viele neue Möglichkeitsräume uns Corona eröffnet haben wird: neue Räume der Wertschätzung, der Nähe, der Höflichkeit, der Kommunikation. An die Stelle des Technikglaubens wird eine neue Menschlichkeit getreten sein. Horx wertet Corona als eine Art Evolutionsbeschleuniger: der Kollaps als Potenzial. Wir werden uns durch die Krise hindurch weiter, höher entwickeln. „Könnte es sein“, so Horx, „dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?“ Das Leben, die Natur, die Wirklichkeit – in hoffnungsfrohen Narrativen, wie sie uns von Horx und anderen Zeichendeutern gerade erzählt werden, treten sie in guter mythischer Tradition wieder als personalisierte Größen auf, die es letztlich gut mit uns meinen, die uns zu neuer Aufmerksamkeit zwingen und uns, einer neuen Harmonie entgegen, zu sich empor führen.

Abgesehen davon, dass ich die Kosmologien, von denen derartige Erzählungen getragen werden, für überkommen und durchaus für gefährlich halte: Alle jetzt, alle im Angesicht des Corona-Ereignisses formulierten Vorstellungen vom möglichen Anbruch einer neuen Zeit hüpfen zu schnell und zu kurz. Die vorausgesetzten Annahmen über den Gang von Menschen und Menschenmassen sind fragwürdig, illusionsgesättigt, ebenso die Vorstellung, Kulturen könnten sich spontan wenden, seien geradezu zu Sprüngen fähig. Und was grundsätzlich allen Hoffnungserzählungen gemeinsam zu sein scheint: Sie bleiben gefangen im modernen Fortschrittsoptimismus (christlicher Herkunft). Eigentlich, so die Grundidee, können wir so weitermachen wie bisher, eben nur ein bisschen anders, ein bisschen reflektierter, bewusster, zurückhaltender, entschleunigter. Das aber ist gerade jener zukunftsfixierte Idealismus, das ist das Existenzschema, das unsere Kultur an den traurigen Ort geführt hat, an dem wir inzwischen angekommen sind.

Dienstag, 24. März 2020

609

Vor einigen Tagen mit einer guten Freundin telefoniert, Theologin in Zürich. Wir waren uns einig: Nicht eine einzige theologische oder philosophische, nicht eine einzige wirklichkeitsinterpretatorische Frage stellt sich derzeit neu oder anders.
Aber: Nicht wenige sehen sich derzeit vor Fragen gestellt, die sie sich bislang noch nicht gestellt haben. Sie haben nicht vorgesorgt für Zeiten wie diese. Und nun fehlen ihnen Antworten, ihnen fehlen sogar alle Mittel, sich halbwegs tragfähigen Antworten anzunähern. Also geht man hektisch Hamstern in den Discountern populärer Meinungen.

608

Ein Votum des Vizegouverneurs von Texas, Dan Patrick, machte heute die Runde. Er fordert von den älteren Bürgern (also von den durch die Corona-Pandemie besonders bedrohten Gruppen) die Bereitschaft, sich notfalls für das eigene Land zu opfern. Sich selbst schließt Patrick dabei ausdrücklich ein. Im deutschen Netzt erntet er für seine Forderung einen Aufschrei der Empörung.
Abgesehen davon, dass derartige Überlegungen unvermeidbar sind, sobald die Metapher des Krieges bemüht wird: Patricks Votum legt den Finger in das nervöse Zentrum der Lage, in die die Politik sich und uns nun hineinmanövriert hat. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann werden wir vor der Wahl stehen: Wollen wir den Zusammenbruch des Systems riskieren, oder sind wir zur Sicherung des Systems bereit, auf eine (unproduktive und kostenträchtige) Minderheit zu verzichten? Der Befehl des absolutistischen Ökonomismus, unter dem wir existieren, ist an dieser Stelle eindeutig. Noch hält ein anderer, moralischer Absolutismus dagegen. Aber dieser Absolutismus hat in Zeiten des Toilettenpapiermangels eine verschwindend kurze Halbwertzeit.

Ich habe kürzlich (Nr. 600) formuliert, das Corona-Virus ließe sich nicht unmittelbar moralisieren. Das bedeutet nicht, dass es gar nicht möglich wäre. In den vergangenen Tagen ist dies sogar in atemberaubender Geschwindigkeit geschehen. Nicht diejenigen stehen nun am moralischen Pranger, die die Pandemie tatsächlich oder vermeintlich verschuldet haben (hier ist eine Identifizierung ja tatsächlich kaum möglich). Am Pranger stehen jene, die sich als politisch widerspenstig erweisen, die die Ausgangsbeschränkungen der Politik missachten: #staythefuckathome.
Von diesem nun ausgemachten Feind ist der Weg nicht weit zu jenem, der sich wider alle Massenvernunft nicht bereit zeigt, zum Zwecke des Überlebens und des Wohlstandes der Vielen die notwendigen Opfer zu bringen.

Montag, 23. März 2020

607

Der neu gewählte Vorsitzende des Sachverständigenrats, Lars Feld, weist gestern in einem Interview darauf hin, dass der gegenwärtige Zustand wirtschaftlich nicht länger als drei Monate durchzuhalten sei. Und dann ein folgenschwerer Satz zur kommenden medizinischen Strategie: „Irgendwann werden wir zu einer personalisierten Isolierung übergehen müssen“. Anders formuliert: Man wird die Infizierten in Lagern absondern müssen (wobei man für Lager sicher einen freundlicheren Begriff erfinden wird). Damit die Gesunden draußen überleben und weiter funktionieren können. Der Absolutismus des Überlebens kann sich nur als gnadenlos erweisen.

606

Kaum ein Text vermag uns deutlicher vor Augen zu führen, was künftig von uns gefordert sein könnte, als der gestern kurz zitierte Rechenschaftsbericht Bonhoeffers Nach zehn Jahren. Deshalb habe ich ihn hier nun in voller Länge hinterlegt.
Bonhoeffer schließt den Text mit der Frage: Sind wir noch brauchbar? Die Frage, die sich uns nun aufdrängt: Werden wir uns als brauchbar erwiesen haben?

Sonntag, 22. März 2020

605

Bonhoeffer in seinem Rechenschaftsbericht Nach zehn Jahren an der Wende zum Jahr 1943: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“

Abgründig sind vor allem jene Bösen, die das Gute zu exekutieren glauben. Wir werden in der nächsten Zeit begabte und mutige Apokalyptiker brauchen. Begabt sind nicht jene, die Katastrophen prophezeien und sich daran ergötzen. Begabt sind jene, die das Böse hinter dem Schleier des Guten zu entdecken und aufzudecken vermögen. Heute, in Zeiten globaler Infektion, verbirgt sich das Böse hinter dem Schleier des Überlebensnotwendigen.

Samstag, 21. März 2020

604

Zwei kurze Beobachtungen zu den öffentlichen Auftritten von Kirchenrepräsentanten in diesen Tagen.

Das stille Gebet dieser Repräsentanten scheint zu sein: Gott, erhalte mir mein Gottesbild! Und sorge bitte dafür, dass niemand merkt, wie dürftig dieses Bild doch im Grunde ist.

Und: Kirche und Kirchenrepräsentation sind tatsächlich nichts anderes mehr als Funktion. Man funktioniert mit. Wie alle anderen auch.

603

In der NZZ mittlerweile online frei verfügbar: der Kommentar Agambens zur Lage in Italien (hier). Der Text formuliert – bei aller Frag- und Kritikwürdigkeit – einige meiner eigenen Anfragen, gerade an das, worauf wir nun politisch und gesellschaftlich zusteuern. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder:

Freitag, 20. März 2020

602

Heute zwei kurze Gedanken – unmittelbar vor den nun doch beschlossenen Ausgangsbeschränkungen in Bayern.

Zunächst: Man mag die übereilte politische Eskalation der vergangenen Tage befragen, man mag sie sogar als totalitären Akt begreifen. Und doch gilt es in diesem Moment, die nun not-wendige Rolle zu spielen und in der not-wendigen Rolle auszuharren. Derzeit verlangt die ins Totalitäre abkippende Politik ja lediglich, vorübergehend in unseren Wohnräumen zu verbleiben.

Dann: Von allen Seiten wird nun Solidarität eingefordert. Repräsentativ aufgeladene Begriffe wie dieser sind mir fremd. Reservatives Füreinanderdasein im Hier und Jetzt meint etwas anderes. Dazu habe ich hier schon Vieles angedeutet. In unserer konkreten Lage meint reservative Praxis vor allem, die eigene Existenz der Existenz des Anderen nicht zur Last werden zu lassen, den anderen Existierenden, soweit unter Wirklichkeitsbedingungen möglich, nicht durch die eigene Existenz zu belästigen. Das gilt für die Begegnung im öffentlichen Raum, noch viel mehr aber wohl für die Begegnung im eigenen Wohnraum – dort, wo wir jetzt alle mehr oder weniger zusammengepfercht sind.

Donnerstag, 19. März 2020

601

Nachtrag zu Nr. 593: In der NZZ kürzlich (hier) eine treffende Replik Slavoj Žižeks auf den Totalitarismus-Vorwurf Giorgio Agambens gegenüber der italienischen Corona-Politik. Mit guten Gründen klagt Žižek notwendige Differenzierungen ein. Das ist richtig und wichtig. Genauso richtig und wichtig, wie der Verzicht auf voreilige Böswilligkeitsannahmen. Aber: Wir müssen uns künftig sorgfältiger denn je davor hüten, uns an die schützend-kuscheligen Behaglichkeiten totalitärer Politik zu gewöhnen.

600

Der wahre Feind der offenen, gerade auch der ins Globale hinaus offenen Gesellschaft: das sind nicht jene, die uns heute wieder an muffige Gültigkeiten binden wollen, die keine Bindungskraft mehr haben und deren Verbindlichkeiten wir gar nicht mehr wollen können. Gegen die Stumpfheit dieses Feindes haben wir geeignete Mittel in der Hand.
Der wahre Feind der offenen Gesellschaft: das ist das unsichtbar bedrohlich Unverfügbare, das der Wirklichkeit als Natur innewohnt, das uns, wenn es erscheint, in unserer Hilflosigkeit zusammenzucken und in übertriebene, weil schutzverheißende Schließungen zurückweichen lässt. Besonders gefährlich sind jene Unverfügbarkeiten, die sich nicht unmittelbar moralisieren lassen – wie einst das HI-Virus. Hier fehlt uns selbst die normative Handhabe.

Erster Nachgedanke: Der neu zu beobachtende Versuch der Religiösen, in der gegenwärtigen Krise Parallelen herzustellen zur frommen Pest-Literatur des Mittelalters, kann heute nicht mehr verfangen. Wir können nicht mehr anders, als die Corona-Ausbreitung als tatsächliche Kausalität wahrzunehmen. Nicht als metaphysische.

Zweiter Nachgedanke: Zweifellos werden wir Idee und Praxis global geöffneter Gesellschaften überdenken müssen. Das Jenseits darf aber keine wieder geschlossene Gültigkeitsgesellschaft sein. Anempfehlen können sich möglicherweise neue, quasi-nomadische Existenzformen, neue Überschaubarkeiten und Beweglichkeiten (siehe auch Nr. 339). Mit allen Wohlfahrts- und Wohlstandsverlusten, die damit verbunden sein werden (was sich aus der Behaglichkeit unserer eigenen Lage allzu leicht anschauen und zumuten lässt).

Mittwoch, 18. März 2020

599

Der Bundespräsident hat den Bürgern für ihren Weg durch die kommenden Tage eine Botschaft mitgegeben. Drei Sätze dieser Botschaft erscheinen mir bedenklich.

„Wir werden das Virus besiegen.“ Was dieser Satz eigentlich sagen soll: Wir haben die Wirklichkeit und den Lauf der Dinge im Griff. Ist aber nicht gerade dies die Vorstellung, die nun noch einmal nachdrücklich angegriffen wird? Nach dem Virus ist vor dem Virus. Und dann?

„Die Welt danach wird eine andere sein.“ Nein, die Wirklichkeit wird nach Corona – wenn es so etwas wie ein nach überhaupt geben kann – gerade so sein, wie vor Corona. Nur dem Anschein nach verfügbar. Nur dem Anschein nach formbar.

„In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.“ Ganz offensichtlich nicht. Was sich derzeit ereignet: Die Natur entzieht unseren (inzwischen globalisierten) Idealen politischer und sozialer Organisation die Voraussetzung. Offenbar ist es so: Leben geht vor Freiheit, Wohlergehen geht vor Offenheit. Wenn Leben und Wohlergehen bedroht sind (und dies nicht durch fremden Willen, sondern durch die Natur), dann sind Menschen sehr rasch bereit, ihre ideale Moralität über Bord zu werfen und stattdessen Unfreiheit und Abschließung geradezu einzufordern. Wer würde zum Beispiel in der gegenwärtigen Lage noch ernsthaft verlangen können, die Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten?

Also: Zumindest beim Bundespräsidenten keine neue Demut, keine veränderte Interpretation von Welt in Sicht. Noch nicht.

Dienstag, 17. März 2020

598

Spannend zu beobachten, dass diejenigen, deren Beruf die Entscheidung ist, im Angesicht dessen, was wir Ereignis nennen können, sich als entscheidungsunfähig erweisen. Die einen verfügen, die anderen zögern sich zu Tode. Eine Entscheidung, die dem, was sich zeigt, angemessen wäre, wird so oder so verfehlt. Nimm den Entscheidern unserer Zeit die Sicherheiten ihrer sie üblicherweise stützenden Funktionalitäten (unter denen sie nur noch managen, nicht mehr entscheiden müssen), und sie stehen der Wirklichkeit unbeholfen gegenüber. Carl Schmitt sagt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Tatsächlich, wirklich ist es anders: Im Ausnahmezustand zeigt sich, dass uns die Regel unserer Tage hat vergessen lassen, was souverän zu sein überhaupt meint. Wir haben die Souveränität verlernt.

597

Es gibt unhintergehbare Beschleunigungspunkte in der Eigendynamik politischer und sozialer Eskalation. Wenn diese Punkte einmal erreicht sind, dann ist es dem Einen nicht mehr möglich, sich der politischen und sozialen Verschärfung, die der Andere soeben beschlossen hat, noch zu verweigern. Dann ist das Entscheiden und Handeln des Einen nicht mehr durch die – wenn man so will – eigentlichen Reallagen geboten und gerechtfertigt, sondern durch die im Entscheiden und Handeln des Anderen subtil real gewordenen, eigentlich fiktionalen Reallagen. Jenseits derartiger Beschleunigungspunkte wird die Gefahr immer größer, dass sich anfängliche Menschenfreundlichkeit zur Menschenfeindlichkeit wendet.

Sonntag, 15. März 2020

596

Man darf nicht vergessen, wo die totalitäre Corona-Politik ihren Anfang genommen hat: in China. Dort, wo die Politik ein Interesse daran hat, ihre totalitäre Struktur mit dem Schein von Fürsorglichkeit und Wohltätigkeit zu umgeben.

Samstag, 14. März 2020

595

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den modernen Rechtsstaat bekanntlich als gewagtes Experiment begriffen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“. In einem meiner früheren Texte habe ich aus verschiedenen Gründen die Annahme formuliert, Böckenfördes Diktum müsse neu gefasst werden: Der freiheitliche säkulare Rechtsstaat vernichtet die Voraussetzungen, von denen er lebt und deren Wirklichkeit er zu ermöglichen vorgibt.
Das scheint sich mir gegenwärtig zu bestätigen. Die gesellschaftliche, politische, ökonomische Wirklichkeit, in der wir leben, hat sich ihrer Voraussetzungen längst entledigt. Wenn nun die Kulturmaschine, der wir inzwischen dienen, in die Krise gerät, wenn sie auseinanderzufliegen droht, dann sind wir vollständig ins Leere geworfen. Wir haben keine Rückfallposition mehr, wir haben nichts mehr, worauf wir uns zurückziehen könnten. Weder die Einzelnen noch die Vielen.

594

Die Deutschen neigen (herkunftsbedingt) zu zwei existenzbestimmenden Absolutismen: zur Systemhörigkeit und zur Selbsthörigkeit. Die unter Nachkriegsbedingungen noch mögliche Atmosphäre des moderierenden Ausgleichs löst sich auf. Und nun taumeln wir einem neuen Krieg der Absolutismen entgegen. Noch ist es lediglich ein Krieg um Toilettenpapier und Seife.

Donnerstag, 12. März 2020

593

Die coronainduzierte politische Entmündigungspraxis, die wir gegenwärtig beobachten und deren Wirkungen wir zunehmend spüren, wird uns künftig alltäglich, wird uns selbstverständlich werden. Wir rutschen mit zunehmender Geschwindigkeit in die politische Ausnahme als Regel (Agamben). Und dies nicht etwa, weil böse Absichten dahinter stünden. Im Gegenteil. Die Motive sind aller Ehren wert.

Sonntag, 8. März 2020

592

In der zunehmenden Kontingenz und Aufgeregtheit unserer Gegenwart: Wo bleibt das beruhigende erschreckt nicht der Kirchen, die Erinnerung daran, dass dies unter Wirklichkeitsgesetzen alles so geschehen muss, dass es gar nicht anders geschehen kann (Mk 13)? Stattdessen aus dem Mund der Kirchenrepräsentanten nichts andere als wirklichkeitsverfallene Moralität.

591

Das Corona-Phänomen: In den vergangenen Tagen immer wieder Verärgerung über die öffentliche Panik, auch Verhöhnung der aufgescheuchten Massen. Dahinter steckt die in der Moderne ins gesellschaftliche und politische System integrierte irrige Annahme, das Einzelne und das Allgemeine ließen sich synchronisieren. Menschen folgen jedoch anderen Gesetzen als Menschenmassen. So etwas wie eine reflektierte Öffentlichkeit gibt es nicht (siehe auch Nr. 117, 267, 313).

Mittwoch, 4. März 2020

590

Ein vertrautes, auch mir vertrautes Phänomen, das ich nun, unter veränderten, wieder alten, alt bekannten Bedingungen, noch einmal intensiv wahrnehme: Die mir bisweilen geradezu bedrohlich erscheinende Dämpfung, Betäubung, Lähmung des Denkens durch das Leben. Ist es tatsächlich so: Wer lebt, kann nicht denken, wer denkt, kann nicht leben? Gerade für unsere funktionalistisch beschleunigte Existenz scheint das zuzutreffen.
Drei Wege bieten sich an. Zunächst: Rückzug aus dem Leben, Flucht ins Denken. Dann: Denkende Dauerrevolte gegen das Leben. Beide Wege haben sich mir selbst aus verschiedenen Gründen immer verschlossen. Mir ist immer nur ein dritter Weg geblieben: Die Suche nach einem Denken, das im Angesicht des jeweils gegebenen Lebens, das mitten im Leben stille halten und zugleich stille machen kann. Ein Denken, das im jeweils gegebenen Leben verharren kann und zugleich im Leben zu verharren, auszuharren befähig, ermächtigt.

Erster Nachgedanke: Nietzsche hat wohl recht deutlich gespürt, dass seine Lehrstücke vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht gerade dies nicht zu leisten vermögen – Denken und Leben zueinanderzuführen. Vor allem ein gestilltes Denken, das Stille mitten im Leben eröffnet, sucht man bei Nietzsche vergeblich.

Zweiter Nachgedanke: Der denkende Mensch mitten im Leben, und dies als allgemeine Erscheinung – das ist die vielleicht größte Illusion der aufgeklärten Moderne. Wer kann unter (spät)modernen Bedingungen überhaupt noch denken, ohne dafür vom Leben bestraft zu werden?

Mittwoch, 12. Februar 2020

589

Ein immer wieder irritierender und beunruhigender Gedanke: die Grenze unserer Sprache, oder allgemeiner: die Grenze unserer Bezeichnungen und Symbolisierungen könnte die Grenze des Wirklichen sein. All unser Wissenschaffen ist letztlich nichts anderes als der panische, auf Bemächtigung ausgerichtete Versuch, nichts, was wirklich sein könnte, im Unwirklichen (weil nicht bezeichneten, nicht symbolisierten) zu belassen. Was uns unser Wissenschaffen allerdings vor Augen stellt, ist nicht etwa Fülle des Wirklichen und möglich Macht über das Wirkliche, sondern Nichtigkeit des Wirklichen und tatsächliche Ohnmacht angesichts des Wirklichen.

588

Unsere jeweilige Moral ist (auch, vielleicht sogar ausschließlich) Ausdruck unserer jeweiligen Triebstruktur. Der Zweck dieses Ausdrucks kann grundsätzlich sein: Rechtfertigung oder Überwindung. Mit unserer Moral mühen wir uns (bewusst oder unbewusst) darum, unsere je eigene Triebstruktur zu entschuldigen oder zu bekämpfen.

Sonntag, 2. Februar 2020

Sonntag, 26. Januar 2020

586

Die Wirklichkeit kann in unserer Wahrnehmung zu einer quasi-metaphysischen Größe heranwachsen, sie kann sich – je nach Interpretation – zu einer negativen oder positiven, zu einer beängstigenden oder beglückenden Gottheit aufblähen. Davor muss man sich aufmerksam hüten.

585

Von Bewusstsein kann man erst dann sprechen, wenn das Bewusstseins sich seiner selbst bewusst wird, wenn es anfängt, sich von sich selbst zu distanzieren und sich kritisch anzuschauen. Vorher ist Bewusstsein eher ein (manchmal überaus wach erscheinender) Schlummer.

Mittwoch, 22. Januar 2020

584

Nietzsche, der Radikalnominalist, ist (wie später etwa auch Derrida) vernarrt, geradezu verliebt in Sprache. Nominalistische Entzauberung kann mit Sprachvergötterung einhergehen. Nach der reservativen Entzauberung von Sprache ist auch diese letzte repräsentative Tollheit vorbei. Reservativ bleibt zuletzt allein noch das Verstummen. Aber dann sogleich die Frage: Wie reservativ sprechen? „Wie nicht sprechen“ (Derrida), wie nicht sprechend sprechen? Auch hier: Es gibt keinen Ausweg aus dem repräsentativen Zirkel menschlich-bewusster Existenz. Es bliebt allein die reservative Handhabung des Repräsentativen, auch die reservative Handhabung von Sprache.

Sonntag, 19. Januar 2020

583

Darwins Entwicklungsidee: eine dieser säkularen Spätgeburten des Christentums. Schöpfung aus dem Nichts und prozesshaft errungene Weltheilung durch das Chaos der Sünde hindurch – das gleiche Schema, nur etsi deus non daretur. Auf einer bestimmten Abstraktionsebene der genealogischen Ideendiagnostik ist der Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten geradezu lächerlich.

582

Der sichtbare Gott erhört Gebet so zufällig und unberechenbar, dass der Sinn des Gebets überhaupt in Frage stehen muss. Der von mir erbetene Gang der Wirklichkeit tritt ein – oder nicht. Ob ich nun bete – oder nicht.

581

Vorhin beim winterlichen Spaziergang. Auf einem kleinen dunklen Auto ein kleiner schwarzer Schriftzug: Odin statt Jesus. Zunächst ein Kategorienfehler. Hier die Gottesidee Odin, dort die historische Person Jesus. Eine vergleichende Gegenüberstellung kann da nur ins Leere laufen. Gemeint ist wohl eher: Odin statt Christus. Also lieber die Gottesidee Odin als die Gottes(sohn)idee Christus. Nun. Dass die Gottes(sohn)idee des christlichen Christus nicht dauerhaft tragfähig ist und eine angemessene Handhabung des Weltwirklichen eher hindert als fördert – das würde ich durchaus unterschreiben. Aber die Gottesidee Odin als Alternative? In die damit geforderte Anschauung der Welt und in die praktischen Wirkungen dieser Anschauungen können wir doch heute nicht ernsthaft zurück wollen.

Freitag, 17. Januar 2020

580

Was mich zu Nietzsche auf Distanz bringt – einige wenige Sätze.

Nietzsche ist in seinem Vorstoß zu wirklichkeitsinterpretatorischer Redlichkeit und Nüchternheit allzu pathetisch, nicht selten euphorisch.

Nietzsche ist in seinem Streit wider die Metaphysik noch ganz Metaphysiker, in seinem Kampf wider den Idealismus noch ganz Idealist.

Nietzsche will letztlich nichts anderes, als die Tradition: die Um- und Überformung, die Transformation und Erneuerung der Natur, insbesondere der eigenen Natur. Dabei ist er bisweilen geradezu abstoßend selbstzentriert und selbstfixiert.

Insgesamt wird Nietzsche das Christentum, sein eigenes Christentum nicht los. Er bleibt ganz im Schema seines ärgsten Feindes.

Donnerstag, 16. Januar 2020

579

Noch einmal Nietzsches herrlichen Begriff entdeckt: Bewusstseinszimmer. Ein aufklärender, verlockender und enttäuschender Begriff zugleich. Unser Bewusstsein ist wie ein Raum. Unser Bewusstsein macht uns glauben, wir könnten diesen Raum tatsächlich verlassen. Und immer dann, wenn wir den Eindruck haben, die Tür gefunden zu haben und hindurchschreiten zu können, landen wir doch nirgendwo sonst als eben – wieder in unserem je eigenen Bewusstseinszimmer.

578

Die kantische Erschütterung: dass die Wirklichkeit nicht an sich ist, was und wie sie ist, sondern dass sie als solche nichts anderes ist als Entwurf unserer Interpretationen, dass alle Wirklichkeitssubstanz immer nur hineininterpretierte Substanz ist, dass alle Wirklichkeitsform immer nur aninterpretierte Form ist – erst bei Nietzsche wird diese Wendung in ihrer möglichen Radikalität gedacht.

Sonntag, 12. Januar 2020

577

Bei Nietzsche freigelegt und ausgeleuchtet: die Herkunft unserer abendländischen Vorstellung einer prinzipiell möglichen Erkennbarkeit und Bearbeitbarkeit des Wirklichen aus dem hellenischen Geist.

Freitag, 3. Januar 2020

576

Nach einer ersten Wiederannäherung an Nietzsche einige ganz kurz gefasste Wiederbeobachtungen und Intuitionen.

Mittwoch, 1. Januar 2020

575

Das entscheidende Problem der (öffentlichen) Deutschen ist nicht ihre überzogene Moralisierung des Lebens, ihr abstoßendes Bessermenschentum. Das Problem ist ihre (kulturgeschichtlich erklärbare) Neigung zu einer apokalyptischen Weltanschauung, ihre unausgesetzte Selbstbedrohung mit einem unmittelbar bevorstehenden Katastrophalen. Die Selbstbedrohung wird beantwortet mit einer (ebenfalls kulturgeschichtlich erklärbaren) Moralisierung. Der (öffentliche) Deutsche setzt seine Hoffnung darauf, die Katastrophe durch Moralität abwenden zu können.

574

Jede Interpretation die nicht auf Praxis zielt, jede Interpretation, die nicht praktisch wird, ist tote Interpretation (Jak 2,26).

573

Durch die Erfindung von so etwas wie Jahreszählungen schaffen wir uns Wirklichkeitspunkte eines möglichen Endes und eines möglichen Anfangs, eines möglichen Abschlusses und eines möglichen Neubeginns. Das ist einerseits lächerlich, andererseits können wir davon aber auch hilfreichen Gebrauch machen.
Zum erfundenen Neubeginn am Anfang des Jahres 2020 können wir uns etwa gute Wünsche mit auf den Weg geben. Gute Wünsche sind befestigende, stabilisierende Erinnerungen. Wir machen vom Jahreswechsel einen besonders hilfreichen Gebrauch, wenn wir uns wechselseitig einen entspannten und fröhlichen Glauben wünschen, eine – falls notwendig – mutige und trotzige Interpretation, die die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden annehmen kann, die uns von der Weltwirklichkeit befreit und uns gerade dadurch eine unverzagte und achtsame Pilgerschaft durch die Wirklichkeit hindurch eröffnet.
In diesem Sinne wünsche ich allen, die diesem Blog folgen, für das kommende Jahr 2020 vor allem eines: Glauben.