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Sonntag, 5. April 2020

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Corona hat auch eine nervöse juristische, teils rechtsphilosophische Debatte provoziert – in Deutschland auf einem erfreulichen Niveau abgebildet im sogenannten Verfassungsblog. Ausgedeutet wird hier insbesondere das Verhältnis von Ausnahme und Recht, damit mehr oder weniger deutlich noch einmal das Verständnis des Rechts überhaupt.

In diesem Zusammenhang ist für mich eine feine Differenzierung wichtig: Recht als verbindliches Konstrukt ist zur Handhabung des raum-zeitlichen Beieinanderseins von Menschen unverzichtbar und unersetzlich. Ausnahmezustände, wie wir sie derzeit erleben, sind in gewissem Sinne konstitutiv für das Recht (Carl Schmitt), haben aber immer auch eine rechtsrelativierende, rechtsverbiegende und sogar rechtsdestruierende Wirkung, insbesondere dann, wenn sie – aus welchen tatsächlich oder vermeintlich guten Gründen auch immer – zur Permanenz neigen (Giorgio Agamben). Daher muss jeder Ausnahmezustand und jedes politische Handeln im Ausnahmezustand immer sensibel beobachtet und kritisch begleitet werden, vor allem unter Bedingungen des (eigentlich) freiheitlichen Rechtsstaates im modernen Begriff.
Das bedeutet allerdings nicht, dass das Recht selbst als absolut begriffen werden kann und darf – auch nicht das Recht des freiheitlichen Rechtsstaates, auch nicht irgendwelche Prinzipien dieses Rechts. Selbstverständlich wird das Recht des Rechtsstaats in der alltäglichen Praxis staatlichen und gesellschaftlichen Handelns in der Regel als quasi-absolut gelten müssen (als ob). Im alltäglichen als ob, bei der alltäglichen Rechtsanwendung und -ausübung muss allerdings immer klar und bewusst bleiben, dass der Mensch nicht um des Rechts, sondern dass das Recht um des Menschen willen da ist. Recht darf also nicht bloß ausgeübt, Recht muss immer zugleich auch gehandhabt werden. Der rechtsausübende Mensch muss immer auch der rechtshandhabende Mensch sein, er muss (frei nach Luther) immer auch Meister des von ihm selbst gesetzten und insofern relativen Rechts bleiben.
Unvermeidbarkeit und Unverzichtbarkeit der relativierenden Rechtshandhabung, die etwas anderes meinen als Rechtsaussetzung im Ausnahmezustand, lassen sich auf verschiedenen Wegen begründen. Im Blick auf das Corona-Ereignis und die davon angestoßene Debatte zum Verständnis des Rechts scheint mir die Begründung im Anschluss an Derrida recht anschaulich zu sein. Dazu hier ein kurzer Text (siehe auch Nr. 124, 141, 226).

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