In einer Weltwirklichkeit, wie wir sie heute (global) vorfinden, wie wir sie gerade auch durch unsere eigene moderne Moral mit hervorgebracht haben – also in einer hoch komplexen und hoch kontingenten Weltwirklichkeit –, hilft uns Moral kaum noch weiter. Im Gegenteil. Moral, die Verallgemeinerung und Automatisierung menschlicher Praxis in raum-zeitlichem Beieinandersein, scheint mir zunehmend die unangemessene, zuletzt immer auch dynamisierend und verschärfend wirkende Antwort auf Komplexität und Kontingenz des Wirklichen zu sein.
Wenn wir also derzeit eine natürliche, geradezu archaische Remoralisierung erleben, dann ist diese Bewegung als panischer Verzweiflungsakt in Überlebensabsicht durchaus verständlich. Wir dürfen in der Verzweiflungsmoral des Überlebens allerdings nicht allzu lange verharren. Sie darf schon gar nicht – was leider wahrscheinlich ist – in der einen oder anderen Form gerinnen und permanent werden.
Große Verantwortung lastet hier auf den Schultern der Politik. Allerdings hat nicht zuletzt auch die deutsche Politik auf die Corona-Bedrohung in ihrem ersten Zugriff wenig glücklich gewählt – und dies, obwohl doch gerade die deutsche Politik vor dem Hintergrund des föderalen Aufbaus des deutschen politischen Systems andere, angemessenere Antworten hätte finden können. Statt aber das Einzelne zu ermöglichen, statt dem Einzelnen Raum zu verschaffen, hat man – wie gewohnt, wie eingeübt – das Allgemeine, den universalen Hammer gewählt. Das ist nur zu verständlich, weil der allgemeine Schlag mit dem Hammer leichter zu rechtfertigen und leichter durchzusetzen ist (wer hätte nicht schon den allgemeinen Schrei nach Gerechtigkeit im Ohr). Jedoch: Das Einzelne geht unter diesem Schlag allzu leicht zu Bruch. Und ob wir als politische Kultur nach diesem Schlag – tanzend, wie manche annehmen – aus der nun geschaffenen Lage und Neigung wieder herausfinden, scheint mir wenig wahrscheinlich.
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