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Samstag, 21. März 2020

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In der NZZ mittlerweile online frei verfügbar: der Kommentar Agambens zur Lage in Italien (hier). Der Text formuliert – bei aller Frag- und Kritikwürdigkeit – einige meiner eigenen Anfragen, gerade an das, worauf wir nun politisch und gesellschaftlich zusteuern. Daher gebe ich ihn hier ungekürzt wieder:

„Die Angst ist ein schlechter Ratgeber. Aber sie macht viele Dinge sichtbar, die man sich für gewöhnlich zu sehen weigert.

Zuerst einmal hat die Panikwelle, die ganz Italien zum Erliegen brachte, deutlich gezeigt, dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt außer an das nackte Leben. Es ist offensichtlich, dass die Italiener angesichts der Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, praktisch alles zu opfern bereit sind, die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen. Das nackte Leben – und die Angst, es zu verlieren – ist nicht etwas, was die Menschen verbindet, sondern was sie trennt und blind macht.

Die anderen Lebewesen geraten plötzlich – wie im Fall der großen Mailänder Pest, die Alessandro Manzoni in seinem Klassiker ‚Die Brautleute‘ beschreibt – nur noch als mögliche Salber (moderner: Virusträger) in den Blick, die es zu meiden gilt und zu denen man einen Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter einhält. Die Toten – unsere Toten – haben kein Anrecht auf eine Beerdigung, und es ist nicht klar, was mit dem Leichnam von Menschen geschieht, die uns lieb und teuer sind. Der Mitmensch wurde ausgelöscht, und es ist merkwürdig, dass die Kirchen hierzu schweigen.

Was wird aus den menschlichen Beziehungen in einem Land, das sich daran gewöhnt, auf unabsehbare Zeit so zu leben? Und was ist das für eine Gesellschaft, die keinen anderen Wert mehr hat als das eigene Überleben?

Die Epidemie bringt eine zweite, nicht minder beunruhigende Tatsache zum Vorschein: Der Ausnahmezustand, auf den uns die Regierungen seit geraumer Zeit einstimmen, ist zu unserem Normalzustand geworden. Es kam in der Vergangenheit zu schlimmeren Epidemien als der heutigen, aber niemand hatte jemals daran gedacht, deshalb einen Notstand wie den jetzigen auszurufen, der uns sogar daran hindert, uns frei zu bewegen.

Die Menschen haben sich daran gewöhnt, unter Bedingungen einer ständigen Krise und eines ständigen Notstands zu leben. Dabei scheinen sie nicht zu bemerken, dass sich ihr Leben auf eine rein biologische Funktion reduziert hat und nicht nur jeder sozialen oder politischen, sondern auch menschlichen oder affektiven Dimension verlustig gegangen ist. Eine Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein. Wir leben in der Tat in einer Gesellschaft, die die Freiheit zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert und sich selber dazu verurteilt hat, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben.

Es wundert nicht, dass man in Bezug auf das Virus von einem Krieg spricht. Die Notmaßnahmen zwingen uns de facto, unter Bedingungen der Ausgangssperre zu leben. Nur ist ein Krieg mit einem unsichtbaren Feind, der sich in jedem Menschen einnisten kann, der absurdeste aller Kriege. Es ist in Wahrheit ein Bürgerkrieg. Der Feind ist nicht außerhalb von uns, sondern in uns.

Besorgniserregend ist nicht in erster Linie und nicht nur die Gegenwart, sondern das, was danach kommt. So wie die Kriege den Friedenszeiten eine Reihe unheilvoller Technologien hinterlassen, so werden sehr wahrscheinlich auch nach dem Notfall der öffentlichen Gesundheit die Experimente fortgesetzt, die die Regierungen vorher nicht durchzuführen vermochten. Sei es, dass Universitäten und Schulen geschlossen werden; sei es, dass der Unterricht nur noch online stattfindet; sei es, dass man endlich einmal aufhört, sich zu versammeln und über politische oder kulturelle Angelegenheiten zu reden, und stattdessen nurmehr digitale Nachrichten austauscht. Sei es, dass Maschinen jeden Kontakt – jede Ansteckung – unter Menschenwesen ersetzen.“

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