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Sonntag, 12. Januar 2020

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Bei Nietzsche freigelegt und ausgeleuchtet: die Herkunft unserer abendländischen Vorstellung einer prinzipiell möglichen Erkennbarkeit und Bearbeitbarkeit des Wirklichen aus dem hellenischen Geist.

Diese Vorstellung wird im Christentum ergänzt durch die Vorstellung der Geschichtlichkeit und Heilsentwicklung, also der historischen Fortschrittlichkeit des Wirklichen. Beide Vorstellungen stehen unter religiösen Vorzeichen noch unter einem eschatologischen Vorbehalt. Es gibt noch ein (im eigentlichen Sinne des Wortes) zurückhaltendes Bewusstsein der Abhängigkeit und der Unverfügbarkeit. Dieses Bewusstsein geht in der Moderne unter säkularen Vorzeichen vollständig verloren (heute kehrt es übrigens als ohnmächtige säkulare Hysterie wieder). Moderne Wissenschaft und Technik verheißen nun totale Durchdringung, (Um)Formung und heilende Besserung des Wirklichen – und entfesseln damit eine heillose Maschinerie der wirklichkeitsdestruierenden Wirklichkeitstransformation.

Erster Nebengedanke: So etwas wie eine „Hellenisierung des Christentums“ (Adolf v. Harnack) hat es nicht gegeben. Das Christentum ist vielmehr selbst eine (anti-jesuanische und anti-paulinische) Uminterpretation und Anverwandlung des messianischen Ereignisses im hellenisch-römischen Geist. Der jesuanisch-paulinische Messias wird zum Christus, damit zum Ermöglichungsgrund und zum Garanten von Durchdringung, Verwandlung und Heilung des Weltwirklichen.

Zweiter Nebengedanke: In meiner evangelikalen Kindheit habe ich gelegentlich Vorträge frommer Klüglinge gehört, die gewisse Analogien zwischen hellenischem Denken und christlichem Glauben zuzugeben bereit warnen. Ausgehend von dieser Beobachtung wurde dann jedoch regelmäßig die heidnische Blindheit gerügt und die christliche Weisheit gepriesen. Die urtümlich hellenische, anti-jesuanische und anti-paulinische Pointe des Christentums konnte auf diesem Wege gar nicht erst in den Blick rücken.

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