Damit ist auch gesagt: Menschen neigen immer gerade dann zur Moral, wenn sie sich einer Wirklichkeitsmacht gegenüber sehen, die die Stillung ihrer natürlichen Bedürfnisse bedroht und von der sie annehmen, dass man sie auch und nicht zuletzt durch Moral in die Schranken verweisen kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich der coronainduzierte Moralisierungsschub und der virale Solidarisierungsdruck, die derzeit zu beobachten sind, recht leicht erklären: Hier ereignet sich keine Besinnung auf in Vergessenheit geratene (religiöse, metaphysische) Werte und Praktiken. Hier kündigt sich keine lange ersehnte kulturelle Wende an. Es geschieht schlicht dies: Hier zucken und rücken Menschen zusammen, die um die Stillung ihrer Bedürfnisse (Überleben, Wohlstand) besorgt sind und die ihre Hoffnung darauf setzen, dass sie den Feind auch damit zurückdrängen können, dass sie alle gemeinsam das Gleiche tun. Menschen tun also im Angesicht der von Corona ausgehenden Gefährdung ihres Überlebens und ihres Wohlstandes gerade das, was bedrohte Menschen in raum-zeitlichem Beieinandersein schon immer getan haben. Und dabei sind jene besonders eifrig (und dies auch schon immer), die sich als besonders ohnmächtig empfinden und die annehmen, im schlechtesten Falle besonders viel zu verlieren. Also jene, die in besonderer Weise an der Weltwirklichkeit hängen – und natürlich an dem, was sie der Wirklichkeit mühsam abgerungen zu haben glauben.
In gewissem Sinne könnte man im Blick auf die durch Corona ausgelöste Bewegung von einer natürlichen Remoralisierung, einer natürlichen Resolidarisierung sprechen. Dieses Geschehen ist weder gut noch böse. Dieses Geschehen geschieht einfach. Ganz natürlich. Ob von diesem Geschehen etwas bleibt und was von ihm bleiben wird – das ist derzeit kaum absehbar. Und ob es überhaupt wünschenswert ist, dass von diesem Geschehen etwas bleibt – das ist eine Frage, die mit dem Geschehen selbst noch nicht beantwortet ist.
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