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Mittwoch, 4. März 2020

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Ein vertrautes, auch mir vertrautes Phänomen, das ich nun, unter veränderten, wieder alten, alt bekannten Bedingungen, noch einmal intensiv wahrnehme: Die mir bisweilen geradezu bedrohlich erscheinende Dämpfung, Betäubung, Lähmung des Denkens durch das Leben. Ist es tatsächlich so: Wer lebt, kann nicht denken, wer denkt, kann nicht leben? Gerade für unsere funktionalistisch beschleunigte Existenz scheint das zuzutreffen.
Drei Wege bieten sich an. Zunächst: Rückzug aus dem Leben, Flucht ins Denken. Dann: Denkende Dauerrevolte gegen das Leben. Beide Wege haben sich mir selbst aus verschiedenen Gründen immer verschlossen. Mir ist immer nur ein dritter Weg geblieben: Die Suche nach einem Denken, das im Angesicht des jeweils gegebenen Lebens, das mitten im Leben stille halten und zugleich stille machen kann. Ein Denken, das im jeweils gegebenen Leben verharren kann und zugleich im Leben zu verharren, auszuharren befähig, ermächtigt.

Erster Nachgedanke: Nietzsche hat wohl recht deutlich gespürt, dass seine Lehrstücke vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht gerade dies nicht zu leisten vermögen – Denken und Leben zueinanderzuführen. Vor allem ein gestilltes Denken, das Stille mitten im Leben eröffnet, sucht man bei Nietzsche vergeblich.

Zweiter Nachgedanke: Der denkende Mensch mitten im Leben, und dies als allgemeine Erscheinung – das ist die vielleicht größte Illusion der aufgeklärten Moderne. Wer kann unter (spät)modernen Bedingungen überhaupt noch denken, ohne dafür vom Leben bestraft zu werden?

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