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Mittwoch, 30. Dezember 2020

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Auf der Suche nach tröstlichen und ermutigenden Gehalten reservativen Glaubens steht mir in den vergangenen Tagen noch einmal Paulus vor Augen. Seine spezifische Variante einer messianischen Wirklichkeitsanschauung ist auf dem Boden jüdischer Denktradition entwickelt, lässt diese aber auch nachdrücklich hinter sich. Oder vielleicht besser: Sie geht reformatorisch und aufklärend zugleich hinter sie zurück und über sie hinaus.

Der paulinische Messianismus ist zunächst enttäuschend. Er löst sich von allen mosaischen Sichtbarkeiten, von allen repräsentativen Greifbarkeiten Gottes im Weltwirklichen, lässt sich zurückwerfen auf die entsichernden Anfänge des abrahamitischen Verstehens. Dabei erfährt das Wirkliche (gegen den traditionellen jüdischen Messianismus) zugleich eine deutliche Entwertung, wird zurückgeführt auf einen bloß noch funktionalen Wert und Sinn. Ich stelle mir Paulus in den Jahren seines Uminterpretierens, die für uns biographisch im Dunklen liegen, als einen tief erschütterten, bisweilen geradezu verzweifelten Menschen vor.

Unerschütterliche Zuversicht und bedingungsloser Antrieb, mit denen Paulus dann schließlich in die Öffentlichkeit tritt, haben wohl vor allem zwei Gründe: zum einen das zweifelsfreie Wissen einer vocatio aliena, einer von anderswo herkommenden und unbedingt geltenden Berufung, zum anderen das gleichermaßen zweifelsfreie Wissen einer unmittelbar bevorstehenden wirklichen Aufhebung und Überwindung des Weltwirklichen, eines bloß noch im überschaubaren Übergang zu ertragenden (fiktionalen) als ob nicht des Weltwirklichen. Noch eine kleine Weile der Glaube, dann aber – schon sehr bald – das Schauen.

Diese beiden Gehalte paulinischen Glaubens sind uns Heutigen nicht mehr zuhanden. Wir müssen ohne den Trost der Naherwartung, wir müssen ohne den Mut des Rufes auskommen. Die Weltwirklichkeit ist uns als realer Existenzraum auf Dauer gestellt, rufen können wir uns (nach-kantisch) allenfalls noch selbst. Und nun? Wie nicht aufgeben, wie nicht kapitulieren – wenn die Ausflucht in die Religion, wenn auch die Ausflucht in die Funktion keine Option mehr ist? Die Frage nach Trost und Ermutigung auf dem durchaus langen, wesentlich sinnlosen Weg durchs Wirkliche hindurch ist die letztlich wohl entscheidende. Was trägt, was trägt durch, was hält, woran halten, wie durchhalten – jenseits von Substanz und Funktion? Wie also zwischen den Wirklichkeiten ausharren? Wie dauerhaft sinnlos ganz wirklich sein – und doch übrig sein wie jene siebentausend, die ihre Knie vor der Welt nicht gebeugt, die den Mund des Weltwirklichen nicht geküsst haben (1 Köm 19,18)?

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