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Sonntag, 19. April 2020

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Die Massenbewegungen, die wir gerade in westlichen Gesellschaften beobachten können, haben auch sehr viel zu tun mit dem, was in den einschlägigen sozialwissenschaftlichen Diskursen unter dem Begriff des Postheroismus verhandelt wird. Unter postheroischen Bedingungen (die in aller Regel wohlständige Bedingungen sind) gilt es als irrational, bedingungslos für etwas einzustehen, was nicht unmittelbar materialisierbar ist, was nicht unmittelbar als dem Leben und der Wohlständigkeit des Lebens zweckdienlich begriffen werden kann. Kaum jemand ist noch bereit, sich für eine Idee, für einen Glauben, für eine Interpretation zu opfern, gar zu sterben. Opferbereitschaft an sich, vor allem aber der Gedanke eines stellvertretenden Opfers sind fremd geworden, gelten geradezu als dekadent.

So gesehen, nebenbei bemerkt, ist es erstens nicht verwunderlich, dass die traditionelle christliche Erzählung vom stellvertretenden Opfer Jesu unter postheroischen Bedingungen kaum noch Gehör und Verständnis findet. Und es ist zweitens nicht verwunderlich, dass die postheroischen Kirchenführer unserer Tage gerade in der gegenwärtigen Krise so schweigsam sind. Nicht zuletzt auch in Deutschland. Im Beamtenstatus erscheint es so irrational, für religiöse Fiktionen den Kopf hinzuhalten. Allenfalls für die Behauptung einer wie auch immer gearteten Systemrelevanz will man sich noch erheben – also letztlich für nichts anderes mehr als für die Behauptung und Verteidigung des eigenen Status.

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