Reservatives Leben ist notgedrungen richtiges Leben im falschen. Richtiges, reservatives Leben kann in verschiedenen Weisen erscheinen, in Erscheinung treten. Reservativ kann ein ruhiges und stilles Leben angemessen sein (siehe Nr. 462), es kann aber auch das gefordert sein, was Bonhoeffer die Kunst der Verstellung nennt (siehe Nr. 158). Eine besonders gewagte und fordernde Erscheinungsform reservativer Verstellung ist die Handhabung repräsentativer Rationalität in reservativer Absicht (siehe Nr. 182). Dann lässt sich der reservativ Existierende (vermeintlich) auf das ihn umgebende repräsentative Leben ein. Dann praktiziert er in gewissem Sinne das, was Nassim Taleb skin in the game nennt. Er riskiert etwas, manchmal sogar alles. So verstanden habe ich mich (unter noch weitgehend risikofreien Umständen) in den vergangenen Tagen in einigen meiner Einträge auch der repräsentativen Logik und Rhetorik bedient. Ich habe Mit-Denken und kritisches Über-Denken praktiziert (siehe Nr. 544). Dies aber immer auch im Sinne einer, wenn man so will, reservativen Wirklichkeitshoffnung.
Wie ließe sich diese Hoffnung fassen – in einer Zeit, in der die plötzliche und harte Unterbrechung unserer großen repräsentativen Maschine durchaus auch nicht-repräsentative Wirkungen haben könnte? Drei dürre Andeutungen:
Notwendig wäre eine fundamentale Irritation, eine Irritation unserer spätmodernen Weise, die Weltwirklichkeit zu interpretieren und zu gebrauchen, eine Irritation vor allem dessen, was wir uns von der Weltwirklichkeit versprechen, was wir aus ihr machen, was wir aus ihr herausschlagen wollen.
Notwendig wäre die Einsicht, dass uns unser moderner Verlust der zweiten, der religiös oder metaphysisch konstruierten nicht-weltwirklichen Wirklichkeit (den wir glücklicherweise nicht haben verhindern können) zuletzt zwei Nihilismen überlässt: der Verzweiflung oder der Überhebung. Dieser wie jener Nihilismus macht uns unfähig, uns in der Weltwirklichkeit angemessen zu halten und die Kausalitäten des Weltwirklichen angemessen zu handhaben.
Notwendig wären schließlich eine nach-religiöse und nach-metaphysische Unnachgiebigkeit, zugleich aber auch eine nach-nihilistische Offenheit. Ein Zurück in die Interpretation der Weltwirklichkeit durch eine religiös oder metaphysisch angebotene zweite, positive Wirklichkeit hindurch darf es nicht mehr geben. Es bedarf aber auch einer neuen Suchbewegung, die sich einen neuen, anderen, ganz anderen Interpretationszugang zur Weltwirklichkeit verschaffen will – jenseits von Verzweiflung und Überhebung.
Mit diesen drei Wirkungen einer Unterbrechung unserer repräsentativen Maschine wäre der Boden bereitet für eine reservative Wendung. So sich wendend ließe die gegenwärtige Unterbrechung durchaus reservativ hoffen.
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