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Freitag, 30. Oktober 2020

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Jeder Streit um Gültigkeiten, um Wahrheiten, ist nicht mehr als ein Streit der Erzählungen, der unterschiedlichen Weisen, die Wirklichkeit in Begriffe zu fassen und diese Begriffe miteinander zu verbinden. Jede Erzählung lässt sich erklären, hat unendlich viele Ursachen, die unser Bewusstsein auch gerne als Gründe begreift.

Nun gibt es Erzählungen, in denen finden wir halbwegs zusammen. Auf andere Erzählungen können wir uns nicht (mehr) ohne Weiteres einigen. Mit guten Gründen hat das moderne Denken das noch mögliche Gemeinsame auf das reduziert, was teilbare Erfahrung sein kann. In teilbaren Erfahrungen finden wir relativ sichere und sichernde Wahrheiten, und dies gemeinschaftlich, zumindest mehrheitlich. So finden wir etwa – nach allem, was wir derzeit mit unseren naturwissenschaftlichen Mitteln und Methoden beobachten können – recht leicht in der Erzählung als Wahrheit zusammen, dass die Erde sich um die Sonne bewegt. Die alte Erzählung, es sei anders, die Sonne bewege sich um die Erde, lässt sich nicht mehr halten, lässt sich nicht mehr gemeinsam und einigend erzählen. Wer diese Geschichte noch zu erzählen und als Wahrheit zu behaupten versucht, stellt sich abseits der Erfahrungs- und Erzählungsgemeinschaft.

Soweit, so gut. Problematisch ist allerdings nicht so sehr die Einigung auf die Erzählung teilbarer Erfahrung selbst, problematisch ist nicht so sehr die Einigung auf das, was wir gerne auch Fakten oder Tatsachen nennen. Was unsere Erzählungsgemeinschaften zunehmend zerstückt und auseinandertreibt, ist die zunehmende Unmöglichkeit der Einigung auf die Bedeutung, auf den Wert, auf den Sinn teilbarer Erfahrungen. Für eine verbindliche und verbindende Interpretation der Tatsachen fehlt mittlerweile jeder teilbare (metaphysische oder religiöse) Bezugspunkt, jeder teilbare Maßstab. Und so sind der individuell wertenden Interpretation von vordergründig teilbaren Tatsachen keine Grenzen mehr gesetzt. Es gibt sie nicht mehr: die gemeinsame Fahrrinne möglicher Interpretationen von Tatsachen. Die sozialen und politischen Folgen lassen sich gerade jetzt, in der Corona-Krise, besonders klar beobachten: Wenn es hart wird, wenn Einschränkungen abverlangt sind, wenn wir Preise zu zahlen genötigt sind, dann sind es offenbar nicht so sehr die teilbaren Erfahrungen, die Fakten, die Tatsachen, zu denen Menschen ihre Zuflucht nehmen und an denen sie sich festzuhalten versuchen. Es sind vielmehr die Interpretationen der Tatsachen. Und hier finden wir schlechtweg nicht mehr zusammen. Hier können wir uns auf keine Wahrheit, auf keine wahre Erzählung mehr einigen. Und eben das macht den gerade jetzt (aus berechtigter Sorge) so massiv beschworenen Zusammenhalt letztlich unmöglich. 

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