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Freitag, 27. März 2020

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Im Corona-Ereignis werden, wenn ich die Wirklichkeitsentwicklungen richtig beobachte und abschätze, drei eng ineinander verschlungene Massenbewegungen noch einmal überdeutlich absehbar.

Zunächst die Bewegung hin zur absoluten und totalen, zur nicht mehr relativierbaren und nicht mehr reduzierbaren Wirklichkeitsgebundenheit. Man könnte auch, deutlicher wertend, von einer endgültigen Neigung der Masse zur Wirklichkeitsverfallenheit sprechen. Die Masse wird sich an nichts mehr halten als an die wirkliche Existenz, die Existenz im Wirklichen wird der Masse das Eine und das Alles.

Dann die Bewegung hin zu einer neuen Großerzählung, hin zu einer neuen, globalisierten Metaphysik des Überlebens. Diese Metaphysik hat sich in ersten Fragmenten bereits aufgedrängt in der Konfrontation mit den terroristischen Bedrohungen nach dem 11. September 2001. Sie hat sich als kommende universale Rationalität noch eindringlicher anempfohlen angesichts der für die Masse noch unmittelbarer erfahrbaren Bedrohung durch den menscheninduzierten Klimawandel. Jetzt aber, mitten im existenziellen Ereignis der Masseninfektion, ist sie endgültig unausweichlich geworden. Die Metaphysik des Überlebens wird wohl zur überwölbenden Erzählung der nächsten Jahrzehnte heranwachsen.

Und schließlich die Bewegung hin zu einem neuen Sozialsystem und zu einer neuen Politik des Überlebens. Sozialsystem und Politik des Überlebens werden rigide und despotisch sein müssen. Und die Masse wird Rigidität und Despotie im Sinne ihres Überlebens geradezu einfordern – so, wie wir derzeit die Einhaltung der Sicherheitsabstände an den Supermarktkassen einfordern. Sozialsystem und Politik, wie sie uns seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vertraut sind, funktionieren grundsätzlich nach vier Rationalitäten: nach der Rationalität menschenrechtlich verfolgter Würde, der Rationalität wissenschaftlich verfolgter Erkenntnis, der Rationalität technisch verfolgten Fortschritts und der Rationalität ökonomisch verfolgten Nutzens. Diese vier Rationalitäten werden sich der Metaphysik (und Moral) des Überlebens beugen müssen (im Grunde genommen sind sie schon immer Ausdruck der in der Moderne heraufziehenden Metaphysik des Überlebens). Sie werden sich unter Führung dieser Metaphysik so umformen, dass sie zuletzt Rigidität und Despotie von Sozialsystem und Politik des Überlebens zu legitimieren in der Lage sind.

Die im Corona-Ereignis sich andeutenden Massenbewegungen sind nihilistisch geneigt. Der in den vergangenen Jahrzehnten heraufziehende Nihilismus wird aller Voraussicht nach deutlich an Fahrt gewinnen. Durch diesen sich vollziehenden und sich vollendenden Nihilismus werden wir als Kultur hindurch müssen. Es gibt keine Abkürzung in ein Jenseits. Und was dieses Jenseits sein könnte, ist offen.

So wird es wohl gewesen sein. Oder auch anders.

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