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Freitag, 3. Januar 2020

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Nach einer ersten Wiederannäherung an Nietzsche einige ganz kurz gefasste Wiederbeobachtungen und Intuitionen.

Nietzsches Philosophie ist ein weit herausragendes und besonders eigentümliches Beispiel für die im 19. Jahrhundert anhebende und bis in die Gegenwart hineinreichende Trauerarbeit nach dem unaufhaltsamen Ende der traditionellen abendländischen Metaphysik, nach dem Tode insbesondere auch des christlichen Gottes.

Nietzsches Philosophie ist ein weit herausragendes und besonders eigentümliches Beispiel für die im 19. Jahrhundert anhebenden und bis in die Gegenwart hineinreichenden Bemühungen, den je unterschiedlich erfahrenen und je unterschiedlich betrauerten Verlust zu kompensieren – durch möglichst wirksame, wirklichkeitsmächtige Surrogate. Bei Nietzsche (zunächst und vorübergehend): durch die Kunst, insbesondere durch die Musik, oder allgemeiner: durch die Ästhetik.

Als wirklichkeitsbewusste Wesen sind wir unvermeidlich metaphysische Wesen. Es kann und wird uns nicht gelingen, aus dem metaphysischen Zirkel auszubrechen. Selbst ein naturalistischer oder materialistischer Begriff des Bewusstseins ist und bleibt ja ein Begriff und insofern immer auch metaphysisch. So gesehen kann es streng genommen so etwas wie ein „nachmetaphysisches Zeitalter“ (Walter Schulz) nicht geben. Gemeint sein kann mit dieser Diagnose lediglich das Ende der einen großen Metaphysik und die Zersplitterung und Zerstreuung des Bewusstseins in unzählige kleine, nicht mehr miteinander verbundene und nicht mehr zu verbindende Metaphysiken, die sich selbstmächtig verselbständigen, vervielfältigen und die mit dem und den Menschen ihr zunehmend unkontrollierbares Spiel treiben.

In dieser Situation unserer eigenen Gegenwart bleibt mehr denn je die Aufgabe, so nicht zuletzt der Impuls Nietzsches, nach etwas, nach einer neuen Metaphysik, nach einem neuen Begriff, einer neuen Interpretation von Wirklichkeit auf der Suche zu bleiben. Wonach wir suchen müssen, ist eine neue Metaphysik, die die unhaltbar gewordenen und nicht mehr tragfähigen Begründungen und Verheißungen der verlorenen Metaphysik (und ihrer Moral) nüchtern und endlich nicht mehr trauernd hinter sich lässt, zugleich aber das neu zu leisten vermag, was jede große Metaphysik (als Erzählung) leisten soll, was die unzähligen kleinen Metaphysiken der Gegenwart jedoch nicht mehr zu leisten vermögen: Distanzierung, Kanalisierung und Moderation der absolutistischen Eigenmächtigkeit des Weltwirklichen.

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